Als im Herbst 1989 deutlich geworden war, dass sich ein tiefgreifender politischer Umbruch in der DDR anbahnte, begann die Staatssicherheit ab Anfang November in größerem Umfang Akten zu vernichten. Sie verfolgte damit verschiedene Ziele: die Anpassung ihres Apparats an die neuen Gegebenheiten, die Vertuschung von kompromittierenden und illegalen Praktiken sowie den Schutz von Quellen und anderen inoffiziellen Verbindungen. Den Schwerpunkt der »wilden« Aktenvernichtungen bildeten zunächst die Kreisdienststellen, in denen die Unterlagen als besonders gefährdet galten. Später erfassten die Vernichtungen alle Diensteinheiten. In der MfS-Zentrale dauerten gezielte Kassationen auch noch an, nachdem am 4. Dezember 1989 ein offizieller Vernichtungsstopp erlassen worden war. Die vorliegende Untersuchung bietet eine erste umfassende Bestandsaufnahme der 1989/90 in den Kernüberlieferungen der Staatssicherheit eingetretenen Aktenverluste. Angesichts der enormen Dimensionen des Gesamtbestandes wurden dabei einzelne Teilbestände exemplarisch untersucht. Die Ergebnisse zeigen ein differenziertes Bild: Bei den bereits vor November 1989 in der zentralen Registratur-Abteilung XII archivierten MfS-Akten erwiesen sich die Verluste als minimal. Sehr viel größer sind sie bei den Vorgängen, die sich damals noch in der Hand der operativen Mitarbeiter befanden. Zwischen 10 % und gut 20 % dieser Akten – vor allem Vorgänge zu inoffiziellen Mitarbeitern – wurden im Spätherbst 1989 kassiert. Die größten Verluste sind bei den dezentralen »Speichern« der operativen Diensteinheiten zu verzeichnen, in denen primär Material aus Personenermittlungen aller Art abgelegt wurde. In diesem Bereich, wo sich die weniger intensive, aber große Teile der Bevölkerung betreffende Überwachung widerspiegelt, gingen rund 40 % der Ablagen fast vollständig verloren, weitere 30 % wurden erheblich dezimiert.