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Der Kommunitarismus sei ein sinnvolles Korrektiv liberaler Politiktheorie, wenn auch kein substantielles politisches Programm - so argumentierte Michael Walzer in seinem vielbeachteten Aufsatz über "Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus". Seine 'Max Horkheimer Vorlesungen' sind eine Vertiefung dieser Kritik an liberalistischer Theorie und Praxis. Im ersten Kapitel korrigiert Walzer das Bild vom autonomen Individuum, das einzig aufgrund seiner eigenen freien Wahl sich bestimmten Gemeinschaften oder Bewegungen anschließe. Das zweite Kapitel arbeitet heraus, daß rationale, wohlabgewogene…mehr

Produktbeschreibung
Der Kommunitarismus sei ein sinnvolles Korrektiv liberaler Politiktheorie, wenn auch kein substantielles politisches Programm - so argumentierte Michael Walzer in seinem vielbeachteten Aufsatz über "Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus". Seine 'Max Horkheimer Vorlesungen' sind eine Vertiefung dieser Kritik an liberalistischer Theorie und Praxis. Im ersten Kapitel korrigiert Walzer das Bild vom autonomen Individuum, das einzig aufgrund seiner eigenen freien Wahl sich bestimmten Gemeinschaften oder Bewegungen anschließe. Das zweite Kapitel arbeitet heraus, daß rationale, wohlabgewogene Entscheidungen nur einen kleinen Teil des realen politischen Prozesses in Demokratien ausmachen. Soziale Konflikte verschiedener Größenordnungen sind ungleich bestimmendere Realitäten. Im dritten Teil schließlich behandelt Walzer die Rolle der Leidenschaften in der Politik, welche die liberalen Theoretiker gemeinhin herunterspielen, weil sie ins Bild vernünftiger Entscheidungsfindung nicht recht passen wollen. Diese drei Defizite sind in den Augen Walzers dafür verantwortlich, daß liberale Theorie in ihren zeitgenössischen Versionen die realen Situationen und Konfliktfälle ungerechtfertigter Ungleichheit eher ausblendet, als zu ihrer Beseitigung beiträgt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.01.2000

Energie und Leidenschaft
Michael Walzer über die Defizite liberaler Theorie und die Tragik politischen Handelns
„Die Politik”, lautet ein berühmter Satz Max Webers, „bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß. ”
Leider erwähnt Michael Walzer in seinen kürzlich an der Frankfurter Universität gehaltenen Max-Horkheimer-Vorlesungen Weber mit keinem Wort. Dies ist umso bedauerlicher, als sich in Webers Vortrag „Politik als Beruf” von 1919 so gut wie alle Gedanken wiederfinden, mit denen der amerikanische Sozialphilosoph den politischen Liberalismus der Gegenwart attackiert. Drei Punkte sind es, die nach Ansicht Walzers die „Defizite liberaler Theorie” ausmachen: der Vorrang des Individuums vor der Gesellschaft, die Utopie des Rationalismus und die Verurteilung leidenschaftlicher Überzeugungen. Weil dies so ist, zeichne der Liberalismus ein verzerrtes Bild der sozialen Wirklichkeit. Er übersieht, dass die Menschen weder frei noch gleich geboren werden, sondern sich immer schon in einem Netzwerk „unfreiwilliger Bindungen” befinden. Jeder von uns ist, ob er will oder nicht, durch seine familiäre und kulturelle Herkunft geprägt, ist Bürger eines Staates und den moralischen Werten der Gemeinschaft unterworfen, in der er lebt. Das sozial ungebundene Selbst ist nach Walzer genauso eine Fiktion wie das Projekt des persönlichen Unternehmertums, das frohgemute Theoretiker der „Berliner Generation” gegenwärtig propagieren.
Ähnlich skeptisch beurteilt der Autor den Stellenwert der Deliberation im demokratischen Alltag. Politik habe weniger mit rationaler Einigung und vernünftigen Argumenten zu tun als mit dem Kampf um Macht und Mehrheit. Im Zentrum des politischen Lebens stehe nicht der kommunikative Diskurs, sondern die Mobilisierung der Massen, die Demonstration von Stärke, das mühselige Verhandeln, die Werbung von Spenden, nicht zuletzt die Kleinarbeit in den Hinterzimmern der Parteien und Bürgerinitiativen. Wo das Gelingen demokratischer Organisation von der tatkräftigen Unterstützung der Beteiligten lebt, bedarf es eines gehörigen Maßes an Enthusiasmus.
Gegen die Furcht der liberalen Theoretiker vor Dogmatismus und Fanatismus setzt Walzer auf das Risiko „leidenschaftlicher Energien”, mit denen die politisch Handelnden ihre Ziele und Vorteile verfolgen: Ohne Konflikte und Differenzen, die mit Engagement ausgetragen werden, ist das Ideal aller Demokratien – die Gleichheit unter Ungleichen – letztlich nicht zu verwirklichen.
Max Weber hat angesichts der Unauflösbarkeit sozialer Konflikte von der „Tragik” gesprochen, „in die alles Tun, zumal aber das politische Tun, in Wahrheit verflochten ist”. Walzer setzt den politischen Existentialismus des frühen 20. Jahrhunderts mit modernen Mitteln fort. Ihm geht es nicht um die tragische, sondern die anthropologische Dimension sozialer Praxis. Der Mensch ist ein fehlbares Wesen, weit entfernt von rationaler Vollkommenheit, angewiesen auf Zugehörigkeiten, getrieben von Emotionen und Interessen. Sein Geschick besteht im Aushandeln von Kompromissen, die notfalls mit Zwang durchgesetzt werden müssen. Man könnte diese Position als deskriptiven Liberalismus bezeichnen, der mit dem Machbaren rechnet, zugleich aber „einen gewissen Freiraum für Widerspruch und Widerstand” gegen bestehende Ungerechtigkeiten offen hält.
Die amerikanischen Kommunitaristen, zu denen auch Walzer gezählt wird, haben wichtige Korrekturen an einem kognitiv verkürzten Begriff des Liberalismus vorgenommen, wie er gerade in Deutschland lange Zeit vertreten wurde. Das hat sich inzwischen geändert. Niemand – außer einigen unbelehrbaren Diskurstheoretikern – vertritt weiterhin ein derart rigoroses Modell politischen Handelns, wie es Walzer und andere kritisieren. So gesehen rennt der Kommunitarismus offene Türen ein, wenn er die Einbettung sozialer Praktiken in vorgängige Lebensformen betont und den Widerstreit von Überzeugungen in den Vordergrund stellt. Im Grunde ist alles Wesentliche hierzu gesagt, die Fronten sind abgesteckt, die Positionen geklärt. Nun geht es darum, die Grenzübergänge auszubauen, den normativen Idealismus zurückzufahren, ohne die kontextualistische Willkür wuchern zu lassen.
Für die Zukunft bedarf es einer sozialanthropologischen Hermeneutik, die in das Gewirr von Vernunft und Leidenschaft eine Schneise schlägt, auf der nicht nur der Mensch, sondern auch die politische Philosophie weiter vorankommt.
LUDGER HEIDBRINK
MICHAEL WALZER: Vernunft, Politik und Leidenschaft. Defizite liberaler Theorie. Max-Horkheimer-Vorlesungen. Aus dem Englischen von Karin Wördemann. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1999. 95 Seiten, 22,90 Mark.
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