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Wolfgang Welsch versucht - unter dem Leitwort transversale Vernunft -, ein heute tragfähiges Vernunftkonzept zu entwickeln. Der erste Teil seines Buches diskutiert zeitgenössische Kritiken und Konzeptionen der Vernunft. Der zweite Teil erörtert im Ersten Hauptstück die zeitgenössische Verfassung der Rationalität. Dabei wird die Bedeutung unterschiedlicher Rationalitätsparadigmen und deren Verflechtungscharakter herausgearbeitet. Im Zweiten Hauptstück wird das Konzept der transversalen Vernunft entwickelt. Die komplexe Verfassung der Rationalität verlangt nach einer Vernunft der Übergänge…mehr

Produktbeschreibung
Wolfgang Welsch versucht - unter dem Leitwort transversale Vernunft -, ein heute tragfähiges Vernunftkonzept zu entwickeln. Der erste Teil seines Buches diskutiert zeitgenössische Kritiken und Konzeptionen der Vernunft. Der zweite Teil erörtert im Ersten Hauptstück die zeitgenössische Verfassung der Rationalität. Dabei wird die Bedeutung unterschiedlicher Rationalitätsparadigmen und deren Verflechtungscharakter herausgearbeitet. Im Zweiten Hauptstück wird das Konzept der transversalen Vernunft entwickelt. Die komplexe Verfassung der Rationalität verlangt nach einer Vernunft der Übergänge zwischen den diversen Formen der Rationalität. Transversale Vernunft analysiert deren Konfiguration, nimmt Korrekturen vor, erlaubt begründete Entscheidungen und ist einer Perspektive rationaler Gerechtigkeit verpflichtet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.1995

Der transversale Hirsebrei
Wolfgang Welschs vernunftkritische Versöhnung von Einheit und Vielheit gelingt nur halb

Die moderne Philosophie ist von Anfang an Kritik der Vernunft gewesen. Immer wieder hat sie, dem maßgeblichen Beispiel Kants folgend, die Vernunft über sich selbst Gericht halten lassen und nach den Möglichkeiten der Vernunft gefragt, indem sie ihre Grenzen zu bestimmen versuchte. Die dauernde Selbstprüfung hat zur Bescheidenheit geführt: Daß vernünftiges Denken und vernünftige Lebensgestaltung souverän zu vollziehen seien, glaubt im Ernst wohl kaum jemand mehr. Statt dessen hat sich die Überzeugung gebildet, die Vernunft habe mit Bedingungen zu rechnen, die sie niemals ganz kontrollieren kann; sie müsse sich auf ihre wechselnden Situationen, ihre Eingebundenheit in die Sprache und in jeweilige Sichtweisen einstellen, statt imperialistisch das große Ganze begreifen zu wollen. Doch nachdem die Vernunft bescheiden geworden ist, kann sie ihre Selbstprüfung nicht abschließen. Eine Vernunft, die ihrer selbst nicht mehr sicher ist, muß eben immer wieder neu nach sich fragen.

Mit seinem neuesten Buch hat Wolfgang Welsch diese Frage in erstaunlicher, aber auch erfrischender Direktheit aufgenommen. Lakonisch und monumental zugleich gibt der Titel den hohen Anspruch des Buches zu verstehen. Vernunft, so die These des Buches, ist nach den Lektionen der Vernunftkritik nur noch als "transversale Vernunft" möglich.

Wer erfahren möchte, was "transversale Vernunft" ist, hat freilich zunächst einen etwa 400 Seiten langen Anlauf durch die Landschaften der modernen Vernunftkritik zu bewältigen. Hier soll der Weg "von der Einheit zur Pluralität der Vernunft" deutlich werden. Dazu werden klassische Autoren wie Horkheimer und Adorno, Heidegger und Wittgenstein erörtert, es werden markante Positionen wie die von Foucault, Derrida, Rorty und Habermas diskutiert; und immer wieder kommt der Autor auf Lyotard und Deleuze zurück. Obwohl dieser erste Teil Welschs eigene systematische Überlegungen nur vorbereiten soll, hat er durchaus eigenes Gewicht. Hier ist eine Synopse neuerer Philosophie gelungen, die sich von positionellen Verkrampfungen frei hält und ein recht umfassendes Bild gibt - selbst wenn so wichtige Autoren wie Walter Benjamin, Emmanuel Lévinas und Hans-Georg Gadamer nicht weiter berücksichtigt werden. Hier findet sich Einleuchtendes wie die Kritik am Odysseus-Kapitel der "Dialektik der Aufklärung", Anregendes wie die Überlegungen zu Kontinuität und Diskontinuität der "Kritischen Theorie" bei Habermas, auch Hilfreiches wie die pointierten Zusammenfassungen zu Derrida.

Man kann freilich einwenden, nicht alle hier diskutierten Positionen seien geeignet, Welschs These von einer fortschreitenden Pluralisierung der Vernunft zu stützen. Schließlich haben Adorno und Horkheimer die Vernunft nur als herrschaftsförmige Einheit gesehen; und wo Heidegger positiv von der Vernunft spricht, hat er das "Vernehmen" des einen und einfachen Seins im Sinn. Andererseits läßt sich bezweifeln, daß der Gedanke einer pluralen Vernunft spezifisch für Moderne und Postmoderne ist. Zumindest die Unterscheidung von theoretischer und praktischer, also immerhin zwiefacher Vernunft geht auf Aristoteles zurück.

Welsch würde das gewiß nicht bestreiten. Doch er würde sagen, bei Aristoteles und bis hin zu Hegel sei noch der Versuch gemacht worden, die verschiedenen Vernunftformen in ihrer Einheitlichkeit zu sehen; alles komme darauf an, zu begreifen, daß dies problematisch geworden sei. Die verschiedenen Vernunftformen gehören nicht einheitlich, sondern anders zusammen: eben transversal.

Im Anschluß an Deleuze und Guattari wird zum ersten Mal gesagt, was das sein soll: Es geht um das "Faktum von Verbindungen inmitten der Heterogenität", um eine "Austausch-Maximierung", die sich "mit Hilfe des alten Schemas von Einheit versus Vielheit" nicht mehr fassen läßt. Weil die Vernunft sich immer weiter differenziert und spezialisiert, besteht zwar die Gefahr ihrer Atomisierung; aber dieser läßt sich ebenso wie dem Drang zu beherrschender Einheit durch Verflechtungen begegnen.

Sicher hat Welsch hier etwas Entscheidendes getroffen. Aber was die Durchführung betrifft, so stellt sich mehr als einmal bei den gut fünfhundert Seiten des zweiten Teils das Gefühl ein, man müsse sich durch einen Hirsebrei essen, ohne, wie versprochen, ins Schlaraffenland zu kommen. Immer wieder evoziert Welsch die "netzartige" Struktur der Vernunft, betont die mit ihr verbundene "rationale Unordentlichkeit" und plädiert dafür, "den Verflechtungen und Überschneidungen vorbehaltlos ins Auge zu sehen"; das sei mit gutem Gewissen möglich, weil die Unordentlichkeit "nichts mit einer Anzapfung irrationaler Potentiale zu tun" habe, sondern "rational" sei. Aber ein wirklich prägnantes Bild des Gemeinten ergibt sich nicht. Welsch nennt zwar verschiedene Charakteristika transversaler Vernunft wie Gerechtigkeit in der Anerkennung anderer Denkperspektiven, Situationsgebundenheit und die durch sie gegebene Nähe zur praktischen Vernunft, vieldeutige Sinnerfahrung wie im Bereich des Ästhetischen; doch all dies ist nicht spezifisch genug, um den Anspruch eines eigenständigen Vernunftkonzeptes einzulösen.

Mit fortschreitender Lektüre wird deutlicher, warum es dazu nicht kommt: Welsch scheut immer wieder vor dem Gedanken einer vernünftigen Einheit zurück, obwohl die transversale Vernunft ja keine Zersplitterung ins bloß Vielfältige sein soll. So wird einmal gesagt, persönliche Identität bestehe eigentlich aus "diversen Identitäten", zwischen denen man "übergehen" könne - das allein schon verbürge Kohärenz. Doch wie soll im Wechsel zwischen verschiedenen Lebensdeutungen Kohärenz liegen, wenn diese nicht auf etwas Einheitliches bezogen sind - etwa so wie verschiedene Fassungen auf einen Text? Auch die ästhetische Erfahrung wäre wohl ein Beispiel für eine auf Einheit bedachte und trotzdem pluralitätsfreundliche Vernunft. Aber auf solche Phänomene läßt Welsch sich leider viel zuwenig ein; seine Darstellungen der transversalen Vernunft sind seltsam unanschaulich und weltlos. Dabei war doch eine Vernunft gemeint, die zu den Phänomenen gehört, statt sie auf blasse Abstraktionen zu ziehen. GÜNTER FIGAL

Wolfgang Welsch: "Vernunft". Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 983 S., geb., 148,- DM.

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