Neue Straftatbestände auf EU-Ebene öffnen einer Gesinnungsjustiz Tür und Tor. Die Leugnung von einem gerichtlich als Völkermord deklarierten Ereignis ist bereits strafbar; die Leugnung kommunistischer Verbrechen könnte es demnächst werden.An zwei Beispielen zeichnet Hofbauer die Debatte um die Definition von Gräueltaten nach: der armenischen Frage und ihrer Instrumentalisierbarkeit sowie dem bosnischen Gründungsmythos, der auf der These eines Völkermordes in Srebrenica beruht. Einblicke in die Auseinandersetzungen um den Holodomor in der Ukraine, die Massaker in Ruanda, Darfur, Palästina und Kambodscha zeigen, welch unterschiedliche Interessen sich hinter dem Vorwurf des Völkermordes verbergen können.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.12.2011Geschichtspolitik
mit der Brechstange
Hannes Hofbauer warnt vor einem
europäischen Gesetzgebungstrend
Eine Serie von Massakern, gewiss. Aber kein Völkermord. Gerade erst hat die Regierung der Türkei sich davon abbringen lassen, diese staatsoffizielle Sprachregelung über das, was den Armeniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts im osmanischen Reich angetan wurde, mit Strafdrohungen gegen Abweichler zu flankieren. Im Jahr 2008 geschah das – und nur auf Druck der Europäischen Union. Nun hat die französische Nationalversammlung eine eigene, diametral entgegengesetzte Sprachregelung erlassen. Und anders als im Fall der eigenen Kolonialverbrechen soll die französische Justiz da, wo es um die türkischen Verbrechen geht, in Zukunft auf eine einzig erlaubte Auffassung der Geschichte festgelegt sein: Es war Völkermord. Ist das französische Gesetz also das glatte Gegenteil des alten türkischen Gesetzes, das Antidot zu Ankaras Unterdrückung der Wahrheit?
Diese Sichtweise hat in Europa Konjunktur – gerade auch in neu beigetretenen Mitgliedsländern, wie der österreichische Historiker Hannes Hofbauer zeigt. Die Bereitschaft, in Geschichtsdebatten mit dem Mittel des Strafrechts einzugreifen, wächst besonders in Osteuropa. Dies auch deshalb, weil aus Brüssel Ermunterungen kommen. 2007 stellte sich die Runde der EU-Justizminister demonstrativ gegen die Türkei. Die Minister regten per Rahmenbeschluss an, dass alle EU-Staaten alle politischen Großverbrechen der jüngeren Geschichte strafrechtlich vor Verharmlosern schützen sollten. Die genaue historische Wahrheit sollte dann jedes nationale Justizsystem selbstständig ausbuchstabieren.
Historiker protestierten gegen diesen eminenten Eingriff in ihre Debatte. In Italien wurde deshalb ein geplantes Gesetz zur Bestrafung von „Leugnern“ gestoppt, in Spanien strich das Verfassungsgericht sogar eine schon bestehende Strafvorschrift gegen Revisionismus unter Verweis auf den hohen Stellenwert der Meinungsfreiheit aus dem Gesetz. In Osteuropa aber horchten Regierungschefs auf – dort also, wo bis heute zwischen den politische Lagern gerungen wird, ob man die Sowjetunion eher als Befreier (1945) oder eher als Unterdrücker (1945ff) einordnen soll. Nicht nur im Ungarn Viktor Orbáns, auch in Polen, Litauen und Tschechien haben Regierungen begonnen, ihre Lesart der Geschichte strafrechtlich zu befestigen. Wer nach Ansicht eines ungarischen Richters den „vom kommunistischen System begangenen Völkermord“ in Zweifel zieht oder „herabsetzt“ oder nach dem Dafürhalten eines litauischen Richters die Verbrechen der Sowjetzeit „gutheißt oder verharmlost“, muss seit 2010 mit Freiheitsstrafen rechnen.
Die neuen Tatbestände erlauben Richtern eine weite Auslegung. Sie sind zwar noch wenig erprobt. Die Debattierlust der osteuropäischen Historiker und Journalisten werde dadurch aber bereits merklich gedämpft, warnt der Autor. Und er argumentiert: Die neuen europäischen „Wahrheitsgesetze“ seien keineswegs ein Gegenmittel zu Ankaras langjähriger Geschichtspolitik mit der Brechstange. Sondern eher mehr vom selben.
Nun ist Hofbauer ein Historiker, der von der Freiheit zum Zweifeln, die in Österreich noch wenig eingeschränkt ist, regen Gebrauch macht. In den von Israel besetzten Gebieten möchte er einen Völkermord erkennen können, in den serbischen Verbrechen in Srebrenica hingegen nicht. Auch zu den Verbrechen an den Armeniern vertritt Hofbauer, gestützt auf einige sehr ausgesuchte Quellen, eine eigene Ansicht. Die liegt näher an Ankara als an Paris.
Aber Hofbauers politisches Argument schwächt all das gerade nicht. Die historischen Deutungskämpfe der Gegenwart bestehen, wie man an seinem Beispiel erkennen kann, oft in Auseinandersetzungen um Dinge, die schwerer greifbar sind als Zahlen oder Daten. Entscheidend sind viel häufiger die gewählten Kontexte, die dadurch implizierten Kausalzusammenhänge. Und was die Frage „Völkermord oder nur Massaker“ betrifft, so kommt es rechtlich letztlich auf die Absichten der Mörder an. Auch Richter behelfen sich da mit Indizien, also mit Interpretation.
Der Furor Hofbauers gegen die angebliche europäische „Mainstream-Geschichtsschreibung“ ist zwar wenig überzeugend, macht aber auch zweierlei deutlich: Eine ernstzunehmende historische Debatte hält so etwas aus. Und eine EU, die das anders sieht, sendet an Rechtspopulisten vom Schlage Viktor Orbáns tatsächlich seltsame Signale aus.
Leider entfaltet der Autor dann keine strukturierte Argumentation, die über den kurzen, zornigen Appell für die Meinungsfreiheit hinausgeht. Und leider kennt er auch nicht die alte, sehr differenzierte deutsche Debatte über die Frage, ob zumindest das deutsche Strafgesetz gegen die Holocaust-Leugnung politisch klug ist. Als Dokumentation eines problematischen Gesetzgebungs-Trends in Europa ist sein Buch trotzdem verdienstvoll. Und als Erinnerung daran, wohin der von Frankreich eingeschlagene Weg führen kann.
RONEN STEINKE
HANNES HOFBAUER: Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung. Rechtsprechung als politisches Instrument. Promedia Verlag, Wien 2011. 264 Seiten, 17,90 Euro.
Die neuen „Wahrheitsgesetze“
erlauben Richtern
eine weite Auslegung
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mit der Brechstange
Hannes Hofbauer warnt vor einem
europäischen Gesetzgebungstrend
Eine Serie von Massakern, gewiss. Aber kein Völkermord. Gerade erst hat die Regierung der Türkei sich davon abbringen lassen, diese staatsoffizielle Sprachregelung über das, was den Armeniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts im osmanischen Reich angetan wurde, mit Strafdrohungen gegen Abweichler zu flankieren. Im Jahr 2008 geschah das – und nur auf Druck der Europäischen Union. Nun hat die französische Nationalversammlung eine eigene, diametral entgegengesetzte Sprachregelung erlassen. Und anders als im Fall der eigenen Kolonialverbrechen soll die französische Justiz da, wo es um die türkischen Verbrechen geht, in Zukunft auf eine einzig erlaubte Auffassung der Geschichte festgelegt sein: Es war Völkermord. Ist das französische Gesetz also das glatte Gegenteil des alten türkischen Gesetzes, das Antidot zu Ankaras Unterdrückung der Wahrheit?
Diese Sichtweise hat in Europa Konjunktur – gerade auch in neu beigetretenen Mitgliedsländern, wie der österreichische Historiker Hannes Hofbauer zeigt. Die Bereitschaft, in Geschichtsdebatten mit dem Mittel des Strafrechts einzugreifen, wächst besonders in Osteuropa. Dies auch deshalb, weil aus Brüssel Ermunterungen kommen. 2007 stellte sich die Runde der EU-Justizminister demonstrativ gegen die Türkei. Die Minister regten per Rahmenbeschluss an, dass alle EU-Staaten alle politischen Großverbrechen der jüngeren Geschichte strafrechtlich vor Verharmlosern schützen sollten. Die genaue historische Wahrheit sollte dann jedes nationale Justizsystem selbstständig ausbuchstabieren.
Historiker protestierten gegen diesen eminenten Eingriff in ihre Debatte. In Italien wurde deshalb ein geplantes Gesetz zur Bestrafung von „Leugnern“ gestoppt, in Spanien strich das Verfassungsgericht sogar eine schon bestehende Strafvorschrift gegen Revisionismus unter Verweis auf den hohen Stellenwert der Meinungsfreiheit aus dem Gesetz. In Osteuropa aber horchten Regierungschefs auf – dort also, wo bis heute zwischen den politische Lagern gerungen wird, ob man die Sowjetunion eher als Befreier (1945) oder eher als Unterdrücker (1945ff) einordnen soll. Nicht nur im Ungarn Viktor Orbáns, auch in Polen, Litauen und Tschechien haben Regierungen begonnen, ihre Lesart der Geschichte strafrechtlich zu befestigen. Wer nach Ansicht eines ungarischen Richters den „vom kommunistischen System begangenen Völkermord“ in Zweifel zieht oder „herabsetzt“ oder nach dem Dafürhalten eines litauischen Richters die Verbrechen der Sowjetzeit „gutheißt oder verharmlost“, muss seit 2010 mit Freiheitsstrafen rechnen.
Die neuen Tatbestände erlauben Richtern eine weite Auslegung. Sie sind zwar noch wenig erprobt. Die Debattierlust der osteuropäischen Historiker und Journalisten werde dadurch aber bereits merklich gedämpft, warnt der Autor. Und er argumentiert: Die neuen europäischen „Wahrheitsgesetze“ seien keineswegs ein Gegenmittel zu Ankaras langjähriger Geschichtspolitik mit der Brechstange. Sondern eher mehr vom selben.
Nun ist Hofbauer ein Historiker, der von der Freiheit zum Zweifeln, die in Österreich noch wenig eingeschränkt ist, regen Gebrauch macht. In den von Israel besetzten Gebieten möchte er einen Völkermord erkennen können, in den serbischen Verbrechen in Srebrenica hingegen nicht. Auch zu den Verbrechen an den Armeniern vertritt Hofbauer, gestützt auf einige sehr ausgesuchte Quellen, eine eigene Ansicht. Die liegt näher an Ankara als an Paris.
Aber Hofbauers politisches Argument schwächt all das gerade nicht. Die historischen Deutungskämpfe der Gegenwart bestehen, wie man an seinem Beispiel erkennen kann, oft in Auseinandersetzungen um Dinge, die schwerer greifbar sind als Zahlen oder Daten. Entscheidend sind viel häufiger die gewählten Kontexte, die dadurch implizierten Kausalzusammenhänge. Und was die Frage „Völkermord oder nur Massaker“ betrifft, so kommt es rechtlich letztlich auf die Absichten der Mörder an. Auch Richter behelfen sich da mit Indizien, also mit Interpretation.
Der Furor Hofbauers gegen die angebliche europäische „Mainstream-Geschichtsschreibung“ ist zwar wenig überzeugend, macht aber auch zweierlei deutlich: Eine ernstzunehmende historische Debatte hält so etwas aus. Und eine EU, die das anders sieht, sendet an Rechtspopulisten vom Schlage Viktor Orbáns tatsächlich seltsame Signale aus.
Leider entfaltet der Autor dann keine strukturierte Argumentation, die über den kurzen, zornigen Appell für die Meinungsfreiheit hinausgeht. Und leider kennt er auch nicht die alte, sehr differenzierte deutsche Debatte über die Frage, ob zumindest das deutsche Strafgesetz gegen die Holocaust-Leugnung politisch klug ist. Als Dokumentation eines problematischen Gesetzgebungs-Trends in Europa ist sein Buch trotzdem verdienstvoll. Und als Erinnerung daran, wohin der von Frankreich eingeschlagene Weg führen kann.
RONEN STEINKE
HANNES HOFBAUER: Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung. Rechtsprechung als politisches Instrument. Promedia Verlag, Wien 2011. 264 Seiten, 17,90 Euro.
Die neuen „Wahrheitsgesetze“
erlauben Richtern
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Vom Strafrecht diktierte Geschichte hält Ronen Steinke zwar genau wie der Autor des Buches für problematisch. Schon weil sie die Debattierfreude von Historikern und Journalisten beschneidet. Hannes Hofbauers Einschätzung zu den von Israel besetzten Gebieten, zu den Verbrechen an den Armeniern oder den serbischen Verbrechen in Srebrenica muss Steinke deswegen aber noch nicht teilen. Dass der Autor seinem Furor gegen die "Mainstream-Geschichtsschreibung" keine gewissenhafte Argumentation folgen lässt, findet der Rezensent allerdings bedauerlich. Als Dokumentation eines fragwürdigen Trends der Gesetzgebung scheint ihm das Buch aber dennoch zu taugen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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