Geschichte in der Region
Die Modernisierungsprozesse im 19. Jahrhundert warfen Orientierungsprobleme auf, die vor allem im Bürgertum die Suche nach geschichtlicher und räumlicher Kontinuität verstärkten. Georg Kunz untersucht am Beispiel Historischer Vereine die Ursprünge, Inhalte und Veränderungen des regionalen Geschichtsbewusstseins im Deutschen Bund und im Kaiserreich. Auf welche historischen Raumgliederungen bezog sich die regionale Geschichtskultur? Führte die Entstehung neuer Raumstrukturen zu veränderten regionalen Geschichtsbildern? Welche Rolle spielte die soziale Zusammensetzung der Vereine? Wie beeinflussten politische Maßnahmen das regionale historische Bewusstsein? Die regionale Geschichtskultur konnte als Grundlage für konservative Gegenwartskritik, als Legitimationsmittel für staatliche Reformmaßnahmen und als historische Rechtfertigung liberal-progressiver Emanzipationsbestrebungen dienen. Die "Erfindung der Tradition" wird in dieser Studie nicht nur theoretischpostuliert, sondern von der Region her konkret untersucht.
Der Autor
Dr. Georg Kunz ist Mitglied des Graduiertenkollegs "Mittelalterliche und neuzeitliche Staatlichkeit" an der Universität Gießen.
Die Modernisierungsprozesse im 19. Jahrhundert warfen Orientierungsprobleme auf, die vor allem im Bürgertum die Suche nach geschichtlicher und räumlicher Kontinuität verstärkten. Georg Kunz untersucht am Beispiel Historischer Vereine die Ursprünge, Inhalte und Veränderungen des regionalen Geschichtsbewusstseins im Deutschen Bund und im Kaiserreich. Auf welche historischen Raumgliederungen bezog sich die regionale Geschichtskultur? Führte die Entstehung neuer Raumstrukturen zu veränderten regionalen Geschichtsbildern? Welche Rolle spielte die soziale Zusammensetzung der Vereine? Wie beeinflussten politische Maßnahmen das regionale historische Bewusstsein? Die regionale Geschichtskultur konnte als Grundlage für konservative Gegenwartskritik, als Legitimationsmittel für staatliche Reformmaßnahmen und als historische Rechtfertigung liberal-progressiver Emanzipationsbestrebungen dienen. Die "Erfindung der Tradition" wird in dieser Studie nicht nur theoretischpostuliert, sondern von der Region her konkret untersucht.
Der Autor
Dr. Georg Kunz ist Mitglied des Graduiertenkollegs "Mittelalterliche und neuzeitliche Staatlichkeit" an der Universität Gießen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2000Unser Land gehört zu vielen Vereinen an
Georg Kunz schildert, wie jede deutsche Region sich im neunzehnten Jahrhundert ein Stück aus dem nationalen Kuchen schnitt
Die Geschichte ist wie ein Kaleidoskop. Wer es dreht, schaut auf ein neues Bild. Die vielen Geschichtsvereine, die im neunzehnten Jahrhundert entstanden, drehten, bis sie fanden, wonach sie suchten. Und das änderte sich mehrfach bis zum Ersten Weltkrieg, mit dem der Autor seine Studie enden läßt. Keiner der sechs Vereine, die untersucht werden, erzeugte das gleiche Bild, wenngleich ihre Konstruktionen im Grundmuster übereinstimmten. Der Blick in die Vergangenheit sollte helfen, die Veränderungshektik der Gegenwart zu ertragen und das Neue zu verstehen. Die Geschichtsbilder, die man sich schuf, waren offen: Sie rechtfertigten und kritisierten zugleich, und sie stellten Forderungen an die Zukunft.
"Ein Strom heiliger, vaterländischer Gefühle geht durch die deutschen Lande, der auch uns auf seinen Wogen trägt. Die deutsche Geschichtsforschung hat ihre kräftigste Wurzel in der Liebe zum Vaterlande, dessen Erhebung, dessen Großthaten ihr Schwingen verleihen." Als der Verein für Thüringische Geschichte und Altertumskunde mit diesen Worten auf das erste Vierteljahrhundert des jungen deutschen Nationalstaates zurückblickte, feierte er sich als Mitschöpfer beim "Auferstehn des Deutschen Reiches" Heimatforschung wurde zur nationalpolitischen Tat stilisiert.
Regional- und Nationalbewußtsein liefen seit 1871 überall bruchlos ineinander, während zuvor die Regionalgeschichte vielfach als Widerspruch gegen den Versuch deutscher Einzelstaaten entstanden war, die Erinnerung an Geschichtsregionen, die ihre staatliche Selbständigkeit zu Beginn des Jahrhunderts verloren hatten, auszulöschen oder in eigene Geschichtstraditionen einzuschmelzen. Das Geschichtsbild überdauerte die staatliche Existenz und trauerte um sie. Wie verschieden dabei die Begründungen selbst in einem einzigen Staat sein konnten, führt Georg Kunz in seiner Regensburger Dissertation an zwei bayerischen Geschichtsvereinen vor.
In Bamberg drehte man noch 1855 ganz in der Tradition der Reichtsgeschichte. "Man mag die Zersplitterung der Territorien des alten Kaiserreichs vom Standpunkte deutscher Machtentwicklung noch so sehr tadeln, man wird zuletzt doch gestehen müssen, daß in dem Mangel an Centralisation, in der reichen Entfaltung der verschiedenartigen Existenzen die Eigenthümlichkeit des deutschen Lebens beruhte". Vergangenheitslob wurde hier zur Gegenwartskritik. Sie richtete sich gleichermaßen gegen Bayern und Preußen. In Bayreuth hingegen ermöglichte die doppelte Erinnerung an die ehemalige Markgrafschaft und an deren historische Verbindung mit der Hohenzollerndynastie, die eigene Region zur "Herkules-Wiege der Größe Brandenburgs" zu verklären, um sich so gegen die damals florierenden Versuche zu sperren, eine bayerische Nation zu erfinden.
Auch in Preußen wurde das Geschichtsbild der historischen Vereine vom regionalen Selbstverständnis geprägt. In der Mark Brandenburg setzte man auf den "deutschen Beruf" Preußens, als dessen staatsbildender Kern die eigene Region galt. "Märkisch", "preußisch" und ab 1871 "deutsch" konnten so zu einer zielgerichteten Erfolgsgeschichte verarbeitet werden. Sich ihr einzufügen blieb dem Bergischen Geschichtsverein verwehrt. Er entwickelte ein regionales Geschichtsbild, in dem Wirtschaft und Kultur als Garanten einer zukunftsoffenen Geschichte dienten. In ihr spielten die Bürger die Hauptrolle, während die Brandenburger Geschichtsbilder einen zirkusreifen Deutungssalto vollbrachten: Altmärkische Adlige, die "peußischsten unter den Preußen", dachten das Reich voraus, das Bismarck in der "Feueresse des 70er Krieges" schmiedete.
Wieder anders fügten der Verein für Thüringsche Geschichte und Altertumskunde sowie die Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte ihre Regionen in die deutsche Territorial- und Nationalgeschichte ein. Das staatlich zersplitterte Thüringen eignete sich, eine kulturell geeinte Geschichtslandschaft zu entwerfen, der es verwehrt geblieben sei, sich zum "aktiven Mittelpunkt der deutschen Geschichte" zu entwickeln. Luther und Weimar als Fundamente der "Befreiungsgeschichte" der deutschen Nation, doch nicht als deren staatlicher Kern. Auch in Schleswig und Holstein stand zunächst die Geschichtslandschaft im Vordergrund der Vereinsarbeit, bevor sie von deutscher wie dänischer Seite zunehmend nationalisiert wurde.
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts trat überall etwas Neues hinzu: Die historische Erinnerungsarbeit versöhnte nicht nur Region und Nation, sondern radikalisierte beide, indem sie nun in ethnischen Kategorien dachte. Die Suche nach den vermeintlichen germanischen Ursprüngen verschärfte die Feinbilder. Historisches Heimatbewußtsein wurde jetzt zum völkischen Kampfinstrument. Dies ging einher mit einer Modernisierung der Geschichtswissenschaft. Denn die bisherige Fixierung auf den Staat und die Dynastie trat zurück zugunsten einer Geschichtsschreibung, die sich volkskundlich und ethnographisch öffnete. Dies war möglich, weil nun die Lehrer zum personellen Rückgrat der historischen Vereine wurden und die alten Honoratioren, die bis dahin das Bild bestimmt hatten, an Gewicht verloren. Mit dieser sozialen Öffnung der Vereine dürfte sich ihr Wirkungskreis erweitert haben. Ihn zu erforschen, erlauben die Quellen jedoch nicht. Der Autor spricht zwar von historischer Identitätsbildung in der Region, doch wie weit sie reichte, bleibt ebenso verschlossen wie in den anderen Studien, die sich in den letzten Jarhen diesem Thema widmeten. Was hingegen sichtbar wird, ist eine Geschichtsschreibung, ohne die eine Geschichte der Geschichtswissenschaft nicht geschrieben werden kann.
DIETER LANGEWIESCHE
Georg Kunz: "Verortete Geschichte". Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 138. Verlag Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2000. 413 S., br., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Georg Kunz schildert, wie jede deutsche Region sich im neunzehnten Jahrhundert ein Stück aus dem nationalen Kuchen schnitt
Die Geschichte ist wie ein Kaleidoskop. Wer es dreht, schaut auf ein neues Bild. Die vielen Geschichtsvereine, die im neunzehnten Jahrhundert entstanden, drehten, bis sie fanden, wonach sie suchten. Und das änderte sich mehrfach bis zum Ersten Weltkrieg, mit dem der Autor seine Studie enden läßt. Keiner der sechs Vereine, die untersucht werden, erzeugte das gleiche Bild, wenngleich ihre Konstruktionen im Grundmuster übereinstimmten. Der Blick in die Vergangenheit sollte helfen, die Veränderungshektik der Gegenwart zu ertragen und das Neue zu verstehen. Die Geschichtsbilder, die man sich schuf, waren offen: Sie rechtfertigten und kritisierten zugleich, und sie stellten Forderungen an die Zukunft.
"Ein Strom heiliger, vaterländischer Gefühle geht durch die deutschen Lande, der auch uns auf seinen Wogen trägt. Die deutsche Geschichtsforschung hat ihre kräftigste Wurzel in der Liebe zum Vaterlande, dessen Erhebung, dessen Großthaten ihr Schwingen verleihen." Als der Verein für Thüringische Geschichte und Altertumskunde mit diesen Worten auf das erste Vierteljahrhundert des jungen deutschen Nationalstaates zurückblickte, feierte er sich als Mitschöpfer beim "Auferstehn des Deutschen Reiches" Heimatforschung wurde zur nationalpolitischen Tat stilisiert.
Regional- und Nationalbewußtsein liefen seit 1871 überall bruchlos ineinander, während zuvor die Regionalgeschichte vielfach als Widerspruch gegen den Versuch deutscher Einzelstaaten entstanden war, die Erinnerung an Geschichtsregionen, die ihre staatliche Selbständigkeit zu Beginn des Jahrhunderts verloren hatten, auszulöschen oder in eigene Geschichtstraditionen einzuschmelzen. Das Geschichtsbild überdauerte die staatliche Existenz und trauerte um sie. Wie verschieden dabei die Begründungen selbst in einem einzigen Staat sein konnten, führt Georg Kunz in seiner Regensburger Dissertation an zwei bayerischen Geschichtsvereinen vor.
In Bamberg drehte man noch 1855 ganz in der Tradition der Reichtsgeschichte. "Man mag die Zersplitterung der Territorien des alten Kaiserreichs vom Standpunkte deutscher Machtentwicklung noch so sehr tadeln, man wird zuletzt doch gestehen müssen, daß in dem Mangel an Centralisation, in der reichen Entfaltung der verschiedenartigen Existenzen die Eigenthümlichkeit des deutschen Lebens beruhte". Vergangenheitslob wurde hier zur Gegenwartskritik. Sie richtete sich gleichermaßen gegen Bayern und Preußen. In Bayreuth hingegen ermöglichte die doppelte Erinnerung an die ehemalige Markgrafschaft und an deren historische Verbindung mit der Hohenzollerndynastie, die eigene Region zur "Herkules-Wiege der Größe Brandenburgs" zu verklären, um sich so gegen die damals florierenden Versuche zu sperren, eine bayerische Nation zu erfinden.
Auch in Preußen wurde das Geschichtsbild der historischen Vereine vom regionalen Selbstverständnis geprägt. In der Mark Brandenburg setzte man auf den "deutschen Beruf" Preußens, als dessen staatsbildender Kern die eigene Region galt. "Märkisch", "preußisch" und ab 1871 "deutsch" konnten so zu einer zielgerichteten Erfolgsgeschichte verarbeitet werden. Sich ihr einzufügen blieb dem Bergischen Geschichtsverein verwehrt. Er entwickelte ein regionales Geschichtsbild, in dem Wirtschaft und Kultur als Garanten einer zukunftsoffenen Geschichte dienten. In ihr spielten die Bürger die Hauptrolle, während die Brandenburger Geschichtsbilder einen zirkusreifen Deutungssalto vollbrachten: Altmärkische Adlige, die "peußischsten unter den Preußen", dachten das Reich voraus, das Bismarck in der "Feueresse des 70er Krieges" schmiedete.
Wieder anders fügten der Verein für Thüringsche Geschichte und Altertumskunde sowie die Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte ihre Regionen in die deutsche Territorial- und Nationalgeschichte ein. Das staatlich zersplitterte Thüringen eignete sich, eine kulturell geeinte Geschichtslandschaft zu entwerfen, der es verwehrt geblieben sei, sich zum "aktiven Mittelpunkt der deutschen Geschichte" zu entwickeln. Luther und Weimar als Fundamente der "Befreiungsgeschichte" der deutschen Nation, doch nicht als deren staatlicher Kern. Auch in Schleswig und Holstein stand zunächst die Geschichtslandschaft im Vordergrund der Vereinsarbeit, bevor sie von deutscher wie dänischer Seite zunehmend nationalisiert wurde.
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts trat überall etwas Neues hinzu: Die historische Erinnerungsarbeit versöhnte nicht nur Region und Nation, sondern radikalisierte beide, indem sie nun in ethnischen Kategorien dachte. Die Suche nach den vermeintlichen germanischen Ursprüngen verschärfte die Feinbilder. Historisches Heimatbewußtsein wurde jetzt zum völkischen Kampfinstrument. Dies ging einher mit einer Modernisierung der Geschichtswissenschaft. Denn die bisherige Fixierung auf den Staat und die Dynastie trat zurück zugunsten einer Geschichtsschreibung, die sich volkskundlich und ethnographisch öffnete. Dies war möglich, weil nun die Lehrer zum personellen Rückgrat der historischen Vereine wurden und die alten Honoratioren, die bis dahin das Bild bestimmt hatten, an Gewicht verloren. Mit dieser sozialen Öffnung der Vereine dürfte sich ihr Wirkungskreis erweitert haben. Ihn zu erforschen, erlauben die Quellen jedoch nicht. Der Autor spricht zwar von historischer Identitätsbildung in der Region, doch wie weit sie reichte, bleibt ebenso verschlossen wie in den anderen Studien, die sich in den letzten Jarhen diesem Thema widmeten. Was hingegen sichtbar wird, ist eine Geschichtsschreibung, ohne die eine Geschichte der Geschichtswissenschaft nicht geschrieben werden kann.
DIETER LANGEWIESCHE
Georg Kunz: "Verortete Geschichte". Regionales Geschichtsbewußtsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 138. Verlag Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2000. 413 S., br., 78,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dieter Langewiesches Besprechung ist genau genommen weniger eine Buchrezension als vielmehr eine Inhaltsangabe. So referiert er das Geschichtsbild historischer Vereine und ihres bisweilen regionalen Selbstverständnisses und dessen Veränderungen. Zu den Stärken bzw. Schwächen des vorliegenden Bandes erfährt der Leser fast nichts, außer dass der Band "Geschichtsschreibung" bietet, die für "Geschichtswissenschaft" unerlässlich ist, und dass der Autor mit der spärlichen Quellenlage zur Erweiterung des Wirkungskreises der historischen Vereine zu kämpfen gehabt habe - genauso, wie die Autoren früherer Studien zu dem Thema auch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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