Am 18. Januar 1979 flüchtete Werner Stiller in die Bundesrepublik Deutschland. Mit sich trug er zwei Koffer, in denen sich geheime, hoch informative Unterlagen befanden, die unter anderem zur Enttarnung zahlreicher Westagenten der Staatssicherheit führten. Dazu gehörte auch Karl-Heinz Glocke, langjähriger Spion in den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken und Major des MfS, der wenige Tage danach verhaftet wurde. Der Übertritt Stillers hatte verheerende Folgen für viele Betroffene. Bei deren Aufarbeitung nach dem Ende der DDR hat eine Opfergruppe bisher kaum das Wort ergriffen: die Kinder der Verräter. Sie sahen sich über Nacht ihrer Väter beraubt, fühlten sich getäuscht und verlassen und mußten sich schließlich der Lüge und dem Schweigen beugen. Über zwei Jahrzehnte später unternimmt Nicole Glocke den Versuch, sich mit den Motiven ihres Vaters auseinanderzusetzen. Doch dieser verweigert jede Erklärung, und die Akten über ihn sind nicht zugänglich. Ihre Recherchen richten sich deshalb zunehmend auf den Mann, der das Trauma ihrer Kindheit ausgelöst hat, Werner Stiller. Sie sucht die Begegnung mit ihm und findet über ihn den Kontakt zu seiner Tochter Edina, die Stiller mit seiner Familie in der DDR zurückgelassen hatte. Die rasch wachsende Vertrautheit zwischen den etwa gleichaltrigen Frauen führt zu einem schonungslosen Rückblick auf ihre Vergangenheit, wobei der erlittene Verlust genauso deutlich wird wie das ohnmächtige Bemühen, die Beweggründe ihrer Väter zu verstehen. Den Austausch ihrer Erfahrungen haben sie in diesem Buch festgehalten, das zugleich zwei ungewöhnliche Lebensgeschichten aus dem geteilten Deutschland dokumentiert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2003Wenn die Stasi klingelt
Der Vater als Trauma: Kinder von DDR-Spionen
„Weil meine Mutter gerade in der Badewanne saß, als es klingelte, öffnete ich die Tür. Ich lief zu ihr und sagte, dass zwei fremde Onkel vor der Tür stehen.” Die damals neunjährige Edina erinnert sich genaue an jenen Januartag 1979. Er sollte ihr Leben grundlegend verändern: Wenige Stunden später mussten Edina, ihre Mutter und ihre jüngere Schwester die Wohnung im Berliner Stadtteil Johannisthal für immer verlassen und in eine andere ostdeutsche Stadt ziehen, in der sie niemanden kannten. Jeglicher Kontakt zu Freunden und Verwandten war verboten. Sogar alle anderen Familien, die im selben Haus gewohnt hatten, mussten ihre Wohnungen innerhalb kürzester Zeit räumen.
Ein Verräter am Tisch
Warum? Der Vater der neunjährigen Edina, Werner Stiller, hatte bis zu diesem Zeitpunkt im Januar für die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), die Westspionageabteilung der Staatssicherheit, gearbeitet. Ausgestattet mit umfangreichen Unterlagen, war er mit Hilfe des Bundesnachrichtendienstes an diesem Morgen über den Grenzbahnhof Friedrichstraße in den Westen geflohen. Bis zum Ende der DDR war er aus Sicht des BND der wichtigste Stasi-Überläufer. Für die Stasi war Stiller natürlich ein „Verräter”. Auf Grund seiner Aussagen konnte der bis dahin als „Mann ohne Gesicht” mystifizierte Leiter der HVA, Markus Wolf, erstmals auf einem Foto identifiziert werden. Mehr als hundert Ermittlungsverfahren wurden in Westdeutschland auf Grund seiner Materialien wegen Agententätigkeit eingeleitet. Sieben in Westdeutschland für die Stasi arbeitende IM’s wurden verhaftet, fünfzehn weitere aus Furcht vor Enttarnung abgezogen.
Am Tag nach Stillers Republikflucht klingelte es frühmorgens auch in einer Wohnung in Bochum. Fünf Männer und eine Frau standen plötzlich am Frühstückstisch der elfjährigen Nicole. Auch sie erinnert sich an jedes Detail dieses Tages. „Es gab meine Lieblingsleberwurst, als ich zusammen mit meiner Mutter und meiner Schwester in der Küche saß und frühstückte.” Die Fremden zeigten ihre Polizeimarken und begannen die Wohnung nach dem Vater zu durchsuchen. Auch für ihre Mutter war es ein Schock, als die Beamten erklärten, dass ihr Mann wegen Spionagetätigkeit gesucht werde.
Karl Heinz Glocke, Nicoles Vater, war Personalleiter beim Rheinisch Westfälischen Elektrizitätswerk (RWE), in der CDU aktiv und – wie sich nun herausstellte – seit vielen Jahren unter dem Decknamen „Bronze” Spion der HVA. Er leitete für die Stasi eine so genannte „Residentur”, führte andere Agenten und warb gleichzeitig als so genannter Romeo Sekretärinnen für das Ministerium für Staatssicherheit.
Glocke wurde zu etwas mehr als zwei Jahren Haft verurteilt. Seine Spionagetätigkeit blieb jedoch in der Familie auch nach seiner Entlassung ein Tabu. Seine Tochter studierte zwar Politik- und Geschichtswissenschaft, befasste sich aber nicht mit der Geschichte der DDR. Erst als sie aus beruflichen Gründen nach Berlin zog, wurde sie mit der Vergangenheit ihres Vaters konfrontiert. Bei ihrer Suche nach der eigenen Geschichte lernte Nicole dann Stillers Tochter kennen.
Die beiden Frauen haben aus unterschiedlicher Perspektive sehr ähnliche Erfahrungen gemacht. Edinas Leben ist durch und durch von der Geheimdienstwelt ihres Vaters geprägt. Selbst ihr Stiefvater, mit dem die Mutter nach der Flucht ihres Mannes zusammen lebte, erwies sich als Spion im besonderen Einsatz. Er hatte Edinas Mutter im Auftrag der Stasi geheiratet. Beide Töchter hatten also gelernt, dass man niemandem trauen sollte – auch nicht den Eltern.
Auf Grund ihrer Begegnung entschlossen sich die Frauen, über ihr Trauma zu schreiben. Ihr Buch dokumentiert eindrucksvoll zwei Lebensgeschichten, die auch für die Geschichte des geteilten Deutschlands stehen.
DIETER WULF
NICOLE GLOCKE, EDINA STILLER: Verratene Kinder. Ch. Links Verlag, Berlin 2003. 180 Seiten, 19,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Der Vater als Trauma: Kinder von DDR-Spionen
„Weil meine Mutter gerade in der Badewanne saß, als es klingelte, öffnete ich die Tür. Ich lief zu ihr und sagte, dass zwei fremde Onkel vor der Tür stehen.” Die damals neunjährige Edina erinnert sich genaue an jenen Januartag 1979. Er sollte ihr Leben grundlegend verändern: Wenige Stunden später mussten Edina, ihre Mutter und ihre jüngere Schwester die Wohnung im Berliner Stadtteil Johannisthal für immer verlassen und in eine andere ostdeutsche Stadt ziehen, in der sie niemanden kannten. Jeglicher Kontakt zu Freunden und Verwandten war verboten. Sogar alle anderen Familien, die im selben Haus gewohnt hatten, mussten ihre Wohnungen innerhalb kürzester Zeit räumen.
Ein Verräter am Tisch
Warum? Der Vater der neunjährigen Edina, Werner Stiller, hatte bis zu diesem Zeitpunkt im Januar für die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), die Westspionageabteilung der Staatssicherheit, gearbeitet. Ausgestattet mit umfangreichen Unterlagen, war er mit Hilfe des Bundesnachrichtendienstes an diesem Morgen über den Grenzbahnhof Friedrichstraße in den Westen geflohen. Bis zum Ende der DDR war er aus Sicht des BND der wichtigste Stasi-Überläufer. Für die Stasi war Stiller natürlich ein „Verräter”. Auf Grund seiner Aussagen konnte der bis dahin als „Mann ohne Gesicht” mystifizierte Leiter der HVA, Markus Wolf, erstmals auf einem Foto identifiziert werden. Mehr als hundert Ermittlungsverfahren wurden in Westdeutschland auf Grund seiner Materialien wegen Agententätigkeit eingeleitet. Sieben in Westdeutschland für die Stasi arbeitende IM’s wurden verhaftet, fünfzehn weitere aus Furcht vor Enttarnung abgezogen.
Am Tag nach Stillers Republikflucht klingelte es frühmorgens auch in einer Wohnung in Bochum. Fünf Männer und eine Frau standen plötzlich am Frühstückstisch der elfjährigen Nicole. Auch sie erinnert sich an jedes Detail dieses Tages. „Es gab meine Lieblingsleberwurst, als ich zusammen mit meiner Mutter und meiner Schwester in der Küche saß und frühstückte.” Die Fremden zeigten ihre Polizeimarken und begannen die Wohnung nach dem Vater zu durchsuchen. Auch für ihre Mutter war es ein Schock, als die Beamten erklärten, dass ihr Mann wegen Spionagetätigkeit gesucht werde.
Karl Heinz Glocke, Nicoles Vater, war Personalleiter beim Rheinisch Westfälischen Elektrizitätswerk (RWE), in der CDU aktiv und – wie sich nun herausstellte – seit vielen Jahren unter dem Decknamen „Bronze” Spion der HVA. Er leitete für die Stasi eine so genannte „Residentur”, führte andere Agenten und warb gleichzeitig als so genannter Romeo Sekretärinnen für das Ministerium für Staatssicherheit.
Glocke wurde zu etwas mehr als zwei Jahren Haft verurteilt. Seine Spionagetätigkeit blieb jedoch in der Familie auch nach seiner Entlassung ein Tabu. Seine Tochter studierte zwar Politik- und Geschichtswissenschaft, befasste sich aber nicht mit der Geschichte der DDR. Erst als sie aus beruflichen Gründen nach Berlin zog, wurde sie mit der Vergangenheit ihres Vaters konfrontiert. Bei ihrer Suche nach der eigenen Geschichte lernte Nicole dann Stillers Tochter kennen.
Die beiden Frauen haben aus unterschiedlicher Perspektive sehr ähnliche Erfahrungen gemacht. Edinas Leben ist durch und durch von der Geheimdienstwelt ihres Vaters geprägt. Selbst ihr Stiefvater, mit dem die Mutter nach der Flucht ihres Mannes zusammen lebte, erwies sich als Spion im besonderen Einsatz. Er hatte Edinas Mutter im Auftrag der Stasi geheiratet. Beide Töchter hatten also gelernt, dass man niemandem trauen sollte – auch nicht den Eltern.
Auf Grund ihrer Begegnung entschlossen sich die Frauen, über ihr Trauma zu schreiben. Ihr Buch dokumentiert eindrucksvoll zwei Lebensgeschichten, die auch für die Geschichte des geteilten Deutschlands stehen.
DIETER WULF
NICOLE GLOCKE, EDINA STILLER: Verratene Kinder. Ch. Links Verlag, Berlin 2003. 180 Seiten, 19,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Eindrucksvoll" ist die einzige Wertung, die sich Dieter Wulf auf seiner halbseitigen Besprechung des Buchs von Nicole Glocke und Edina Stiller entlocken lässt. Aus zwei Perspektiven werde ein deutsch-deutsches Drama erzählt. "Zwei Lebensgeschichten, die auch für die Geschichte des geteilten Deutschland stehen", meint der Rezensent. Die Väter beider Autorinnen waren Spione für die jeweils andere Seite, die Flucht Werner Stillers in die BRD verändert das Leben der beiden Autorinnen tief greifend, beide waren damals noch Kinder. Die in der DDR zurückgelassene Familie Stiller wird zwangsumgesiedelt, Karl Heinz Glocke aufgrund der von Stiller mitgebrachten Unterlagen als Stasi-Spion enttarnt und verhaftet. Beide Familien wussten nichts von der Tätigkeit der Väter, für beide hatte der Vorfall entscheidende Folgen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Verratene Kinder"ist kein wissenschaftliches Werk, sondern ein biographisches Zeugnis, das die so genannte große Geschichte auf eine persönliche menschliche Art behandelt." (Uli Brockmeyer in Südwest Presse, 11.9.03)
""Verratene Kinder"sind pralle Lebensberichte und spiegeln faktenreich dramatisch miteinander verwobene Ost-West-Schicksale wider.Stefanie Hoffmeister in Das Parlament, 29.9.03Die beiden Frauen erzählen ihre Lebensgeschichte geradlinig, offen und ohne Pathos. Gerade dadurch wirkt das Buch überzeugend." (Ulrich Schwarz in Spiegel special 3/2003)
"Die beiden jungen Frauen erzählen ihre Geschichte frei von Eitelkeiten und mit erstaunlicher Offenheit.Auch wenn das Buch vor allem eine Auseinandersetzung mit den Vätern ist, vermeidet es jedoch jede falsche Intimität. Und insofern ist es vor allem ein überaus erstaunliches Werk - beim Lesen wird Geschichte nacherlebbar." (Lausitzer Rundschau, 4.10.03)
"Ein interessantes Buch, das einen guten Einblick in die beiden unterschiedlichen Gesellschaftssysteme gibt und anhand zweier Lebensläufe die Kälte von Politik, Macht und Geheimdienst eindringlich spürbar werden läßt." (Märkische Allgemeine, 4./5.10.03)
""Verratene Kinder"sind pralle Lebensberichte und spiegeln faktenreich dramatisch miteinander verwobene Ost-West-Schicksale wider.Stefanie Hoffmeister in Das Parlament, 29.9.03Die beiden Frauen erzählen ihre Lebensgeschichte geradlinig, offen und ohne Pathos. Gerade dadurch wirkt das Buch überzeugend." (Ulrich Schwarz in Spiegel special 3/2003)
"Die beiden jungen Frauen erzählen ihre Geschichte frei von Eitelkeiten und mit erstaunlicher Offenheit.Auch wenn das Buch vor allem eine Auseinandersetzung mit den Vätern ist, vermeidet es jedoch jede falsche Intimität. Und insofern ist es vor allem ein überaus erstaunliches Werk - beim Lesen wird Geschichte nacherlebbar." (Lausitzer Rundschau, 4.10.03)
"Ein interessantes Buch, das einen guten Einblick in die beiden unterschiedlichen Gesellschaftssysteme gibt und anhand zweier Lebensläufe die Kälte von Politik, Macht und Geheimdienst eindringlich spürbar werden läßt." (Märkische Allgemeine, 4./5.10.03)