Das aktuelle Thema: Der Islam und der Westen
Zwei hochrenommierte Wissenschaftlerinnen liefern die historischen, kulturellen und politischen Hintergründe der Auseinandersetzung um die Stellung der Frau im Islam - und verweisen dabei auf das Selbstverständnis des Westens. Ein spannend zu lesendes Buch.
Die kontroverse Debatte um das Kopftuchverbot hat es gezeigt: Der "Kampf der Kulturen" findet nicht zuletzt auch in der Geschlechterdebatte seinen Ausdruck. Mit Beispielen aus Kultur, Geschichte und Literatur beleuchten Christina von Braun und Bettina Mathes die Stellung der Frau im Islam und in anderen Religionen. Die Autorinnen gehen der Geschichte des Schleiers und weiterer religiöser Sinnbilder nach, untersuchen die Geschlechterordnung in den drei Weltreligionen und verweisen auf aktuelle Tendenzen des Fundamentalismus in allen Glaubensrichtungen. In der Sichtweise auf die "andere" Welt offenbart sich das Selbstverständnis des Westens, mehr als wir zugeben wollen.
Zwei hochrenommierte Wissenschaftlerinnen liefern die historischen, kulturellen und politischen Hintergründe der Auseinandersetzung um die Stellung der Frau im Islam - und verweisen dabei auf das Selbstverständnis des Westens. Ein spannend zu lesendes Buch.
Die kontroverse Debatte um das Kopftuchverbot hat es gezeigt: Der "Kampf der Kulturen" findet nicht zuletzt auch in der Geschlechterdebatte seinen Ausdruck. Mit Beispielen aus Kultur, Geschichte und Literatur beleuchten Christina von Braun und Bettina Mathes die Stellung der Frau im Islam und in anderen Religionen. Die Autorinnen gehen der Geschichte des Schleiers und weiterer religiöser Sinnbilder nach, untersuchen die Geschlechterordnung in den drei Weltreligionen und verweisen auf aktuelle Tendenzen des Fundamentalismus in allen Glaubensrichtungen. In der Sichtweise auf die "andere" Welt offenbart sich das Selbstverständnis des Westens, mehr als wir zugeben wollen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.04.2007Die Enthüllung der Frau
Beim Streit um den Schleier geht es immer um den Mann
Zum muslimischen Kopftuch sind scheinbar alle Argumente bekannt. Christina von Braun und Bettina Mathes ließen sich durch den Berg an Veröffentlichungen aber nicht beirren, und über ihre Hartnäckigkeit kann man nur froh sein. In einem sachkundigen, materialreichen Buch liefern sie Informationen über den Schleier, nach deren Lektüre ein leichtfertiges Aburteilen von Kopftuchträgerinnen passé sein sollte.
Das eigentliche Thema der beiden Kulturwissenschaftlerinnen ist das Verhältnis von Mann und Frau in Islam, Christentum und Judentum. Für die Geschlechterbeziehung spielt die Bedeckung der Frau in allen drei verwandten Religionen eine wichtige und zugleich wandelbare Rolle. Zu Mohammeds Zeiten diente der Schleier der sozialen Abgrenzung und war Frauen aus besseren Kreisen vorbehalten. Erst später sollte er den weiblichen Körper vor fremden Blicken schützen. In der christlichen Tradition geht die weibliche Kopfbedeckung, die in Spaniens katholischen Kirchen bis heute üblich und bei Papstaudienzen vorgeschrieben ist, auf Paulus zurück. Der Apostel hatte befunden, der Mann sei Abbild Gottes, die Frau dagegen sei allenfalls Abbild des Mannes und müsse deshalb ihren Kopf bedecken.
Die Freud’sche Spekulation
Christliche Kolonialherren dagegen zwangen Musliminnen, den Schleier abzulegen, um den „wahren Geist der westlichen Zivilisation einzusaugen” (der britische Diplomat Earl of Cromer in Ägypten). Daheim profilierte sich der Graf übrigens als Mitbegründer der „Männerliga gegen die Einführung des Frauenstimmrechts”. Atatürk verbot als Modernisierungsmaßnahme Männern den Fez und Frauen den Schleier. Die historische Erfahrung erzwungener Entschleierung wirkt bis heute nach, wenn Musliminnen den Schleier auch als Demonstration gegen Bevormundung durch das christliche Abendland respektive die dominante westliche Kultur anlegen.
Dass nicht der Fez, sondern der Schleier zur hoch aufgeladenen Textilie avancierte, liegt an der Symbolfunktion des weiblichen Körpers, der in vielen Gesellschaften als „Gemeinschaftskörper” fungiert. Die Eigentümerinnen der derart befrachteten Körper bestimmen allerdings nicht selber, wie sie die Gemeinschaft repräsentieren, sondern darüber befinden Männer, wobei religiöse Führer als Experten für das Symbolische sich gerne hervortun. Für Kirchenvater Augustinus gehörten Weiblichkeit und Fleisch zusammen, über die der männliche Geist herrscht: „In der Regel weist ein jeder in seinem Hause seine Gattin zurecht und macht sie gefügig, falls sie widerspenstig ist.” Anderthalb Jahrtausende später konstruiert der säkulare Religionsstifter Sigmund Freud die gleiche Hierarchie der Geschlechter, wenn er behauptet, „das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit”, und um den „Defekt des Genitals” zu verdecken, entwickle die Frau immer neue Verhüllungstechniken.
Die Freud’sche Spekulation fiel in eine Zeit, als die Enthüllung der Frau bereits in vollem Gange war. Mit Hilfe der neuen Medien Fotografie und Film ging der Mann hinter der Kamera daran, die Frau vor seinem Objektiv auszuziehen. Die säkularisierte westliche Gesellschaft interpretierte die Entblößung der Frau als Freiheit. Die enthüllungsresistenten Musliminnen übten großen Reiz auf westliche Betrachter aus, und wo sie mit dem Kameraauge nicht nah genug herankamen, schufen sie ihre eigene Wirklichkeit. Fotografen inszenierten Harem-Bilder mit halb entblößten Frauen, die als Postkarten reißenden Absatz fanden. Als eine englische Fotografin tatsächlich Zutritt zu einem Harem erhielt, lehnte eine britische Zeitung die Bilder mit dem Argument ab, sie seien unrealistisch.
Braun/Mathes’ Bilder-Geschichten liefern eindrucksvolles Anschauungsmaterial zum religiös unterfütterten Machtkampf um den weiblichen Körper. Die Autorinnen gehen obendrein scheinbar abseitigen, aber anregenden Fragestellungen nach wie zum Beispiel der Auswirkung von Schriftzeichen auf Gottesvorstellung und Geschlechterrollen. Zum hebräischen und arabischen Alphabet gehörten ursprünglich keine Vokale, so dass oft mehrere Lesarten möglich waren. Die Interpretationsspielräume stärkten die Rolle der mündlichen Weitergabe und ließen Raum für verschiedene Versionen, bevor sich männliche Definitionsmacht durchsetzte. Der Koran wurde erst allmählich und lange nach Mohammeds Tod in seine endgültige schriftliche Form gebracht. Das Griechische als wichtigstes Transportmittel des Christentums ließ dagegen für Uneindeutigkeiten keinen Raum und führte geradewegs zu Kirchenvater Augustinus. GABY MAYR
CHRISTINA VON BRAUN/BETTINA MATHES: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. Aufbau Verlag, Berlin 2007. 476 Seiten, 24,90 Euro.
Eine ideologisch hoch aufgeladene Textilie: der muslimische Schleier – hier vor dem Gesicht einer irakischen Schülerin. Foto: AP
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Beim Streit um den Schleier geht es immer um den Mann
Zum muslimischen Kopftuch sind scheinbar alle Argumente bekannt. Christina von Braun und Bettina Mathes ließen sich durch den Berg an Veröffentlichungen aber nicht beirren, und über ihre Hartnäckigkeit kann man nur froh sein. In einem sachkundigen, materialreichen Buch liefern sie Informationen über den Schleier, nach deren Lektüre ein leichtfertiges Aburteilen von Kopftuchträgerinnen passé sein sollte.
Das eigentliche Thema der beiden Kulturwissenschaftlerinnen ist das Verhältnis von Mann und Frau in Islam, Christentum und Judentum. Für die Geschlechterbeziehung spielt die Bedeckung der Frau in allen drei verwandten Religionen eine wichtige und zugleich wandelbare Rolle. Zu Mohammeds Zeiten diente der Schleier der sozialen Abgrenzung und war Frauen aus besseren Kreisen vorbehalten. Erst später sollte er den weiblichen Körper vor fremden Blicken schützen. In der christlichen Tradition geht die weibliche Kopfbedeckung, die in Spaniens katholischen Kirchen bis heute üblich und bei Papstaudienzen vorgeschrieben ist, auf Paulus zurück. Der Apostel hatte befunden, der Mann sei Abbild Gottes, die Frau dagegen sei allenfalls Abbild des Mannes und müsse deshalb ihren Kopf bedecken.
Die Freud’sche Spekulation
Christliche Kolonialherren dagegen zwangen Musliminnen, den Schleier abzulegen, um den „wahren Geist der westlichen Zivilisation einzusaugen” (der britische Diplomat Earl of Cromer in Ägypten). Daheim profilierte sich der Graf übrigens als Mitbegründer der „Männerliga gegen die Einführung des Frauenstimmrechts”. Atatürk verbot als Modernisierungsmaßnahme Männern den Fez und Frauen den Schleier. Die historische Erfahrung erzwungener Entschleierung wirkt bis heute nach, wenn Musliminnen den Schleier auch als Demonstration gegen Bevormundung durch das christliche Abendland respektive die dominante westliche Kultur anlegen.
Dass nicht der Fez, sondern der Schleier zur hoch aufgeladenen Textilie avancierte, liegt an der Symbolfunktion des weiblichen Körpers, der in vielen Gesellschaften als „Gemeinschaftskörper” fungiert. Die Eigentümerinnen der derart befrachteten Körper bestimmen allerdings nicht selber, wie sie die Gemeinschaft repräsentieren, sondern darüber befinden Männer, wobei religiöse Führer als Experten für das Symbolische sich gerne hervortun. Für Kirchenvater Augustinus gehörten Weiblichkeit und Fleisch zusammen, über die der männliche Geist herrscht: „In der Regel weist ein jeder in seinem Hause seine Gattin zurecht und macht sie gefügig, falls sie widerspenstig ist.” Anderthalb Jahrtausende später konstruiert der säkulare Religionsstifter Sigmund Freud die gleiche Hierarchie der Geschlechter, wenn er behauptet, „das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit”, und um den „Defekt des Genitals” zu verdecken, entwickle die Frau immer neue Verhüllungstechniken.
Die Freud’sche Spekulation fiel in eine Zeit, als die Enthüllung der Frau bereits in vollem Gange war. Mit Hilfe der neuen Medien Fotografie und Film ging der Mann hinter der Kamera daran, die Frau vor seinem Objektiv auszuziehen. Die säkularisierte westliche Gesellschaft interpretierte die Entblößung der Frau als Freiheit. Die enthüllungsresistenten Musliminnen übten großen Reiz auf westliche Betrachter aus, und wo sie mit dem Kameraauge nicht nah genug herankamen, schufen sie ihre eigene Wirklichkeit. Fotografen inszenierten Harem-Bilder mit halb entblößten Frauen, die als Postkarten reißenden Absatz fanden. Als eine englische Fotografin tatsächlich Zutritt zu einem Harem erhielt, lehnte eine britische Zeitung die Bilder mit dem Argument ab, sie seien unrealistisch.
Braun/Mathes’ Bilder-Geschichten liefern eindrucksvolles Anschauungsmaterial zum religiös unterfütterten Machtkampf um den weiblichen Körper. Die Autorinnen gehen obendrein scheinbar abseitigen, aber anregenden Fragestellungen nach wie zum Beispiel der Auswirkung von Schriftzeichen auf Gottesvorstellung und Geschlechterrollen. Zum hebräischen und arabischen Alphabet gehörten ursprünglich keine Vokale, so dass oft mehrere Lesarten möglich waren. Die Interpretationsspielräume stärkten die Rolle der mündlichen Weitergabe und ließen Raum für verschiedene Versionen, bevor sich männliche Definitionsmacht durchsetzte. Der Koran wurde erst allmählich und lange nach Mohammeds Tod in seine endgültige schriftliche Form gebracht. Das Griechische als wichtigstes Transportmittel des Christentums ließ dagegen für Uneindeutigkeiten keinen Raum und führte geradewegs zu Kirchenvater Augustinus. GABY MAYR
CHRISTINA VON BRAUN/BETTINA MATHES: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. Aufbau Verlag, Berlin 2007. 476 Seiten, 24,90 Euro.
Eine ideologisch hoch aufgeladene Textilie: der muslimische Schleier – hier vor dem Gesicht einer irakischen Schülerin. Foto: AP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2007Bitte nicht übers Kopftuch klügeln!
Die Fronten sind von Anfang an klar: Der Schleier schützt, die westliche Frau aber wurde entblößt und damit schutzlos den Blicken lüsterner Männer ausgeliefert - ein "sündiger Akt" aus islamischer Sicht, der einer "Kopulation mit dem Auge" gleichkomme. Die beiden Gender-Forscherinnen Christina von Braun und Bettina Mathes erzählen in ihrem Buch "Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen" (Aufbau Verlag, Berlin 2007. 476 S., geb., 24,90 [Euro]) die Geschichte des muslimischen Schleiers neu. Für sie ist es keine Geschichte der Unterdrückung der Frau in islamischen Gesellschaften, sondern die der westlichen Frau, die bei uns verdrängt und deshalb auf die Muslima projiziert worden sei. Kopftuchgegner würden demnach nur das abgespaltene Eigene im anderen, im Orient suchen.
Eine psychoanalytisch aufgeladene Sprache ersetzt den Autorinnen Theorie und Methode, stattdessen durchzieht ein grundsätzliches Missverständnis, wahrscheinlich aber Unverständnis ihr verschlungenes Argumentationslabyrinth: Sie können oder wollen sich nicht vorstellen, dass unter den Kopftüchern deutscher, französischer oder niederländischer Musliminnen auch Unfreiheit herrscht. Dass man Tausende und Abertausende von ihnen gezwungen haben könnte, sich einem Sittenkodex zu unterwerfen, der im freiheitlichen Westen nicht nur von Alice Schwarzer abgelehnt wird. Die pakistanische Burka-Brigade der Roten Moschee in Islamabad oder die Tugendwächter in Iran, die soeben wieder mit Folter, Umerziehung und Verfolgung Angst und Schrecken verbreiten, die wissen es besser. Sie schwingen darum ihre Bambusstöcke und Peitschen gegen alle, die anders leben wollen, sich anders kleiden als sie, die ihr Gesicht verbergen unter der "schützenden" Burka oder dem Tscharschaf. Die Bilder von brutalen Prügelszenen und willkürlichen Verhaftungen gingen gerade erst um die Welt. Und auf die Straße gingen dort, wo der Schleier genau das ist, was die politische Kopftuchdebatte meint, die Frauen. Barhäuptig und verzweifelt skandieren sie gegen die Gotteskriegerinnen und die Sittenpolizei: "Dieses Land gehört uns!" und "Stoppt den Terror der Mullahs!".
Die Schleier-Kulturgeschichte von Braun und Mathes wäre ein süffiges Buch, angereichert mit pathetischen Einlagen und interessanten Anekdoten über Atombomben und Bikini-Atoll, entblößende Bikinis und Atombusen, das Kopftuch von Grace Kelly oder das Regentuch von Frauen, die sich damit der Bevormundung durch den panoptischen Blick im öffentlichen Raum des fünfzehnten Jahrhunderts listig widersetzten. Und es ginge noch an, wenn sie einige Geschichtsvergessene nur daran erinnern wollten, dass Kopftuch und Geschlechtertrennung früher auch in Europa für Sitte und Ordnung standen. Aber ihre These, nach der die "Wahrnehmung des muslimischen Schleiers offensichtlich im Kontext der Nicht-Wahrnehmung des westlichen Kopftuchs" geschehe, erinnert ein wenig an die Klügeleien, die man bei manchen Einserschülern beobachten kann: Unbeeindruckt von den Tatsachen meinen sie, alle Welt müsste ihnen in jeden ihrer abseitigen Einfälle folgen. In diesem Sinne darf das Buch "Verschleierte Wirklichkeit" als Ausweis des verschleierten Weltbilds seiner Autorinnen gelten.
Die beiden Verfasserinnen wollen ohnehin mehr, sie meinen ihre Apologie des Schamtuchs politisch und betonen dies unermüdlich, inklusive eines irritierenden Verständnisses für die Empörung über die "Verunglimpfung des Islams" wegen der Mohammed-Karikaturen, deren inszenierter Kampagnencharakter ihnen bis heute nicht klargeworden ist. Sie machen Alice Schwarzer genauso nieder wie Angela Merkel; die eine, weil sie die Trennung von Staat und Religion als Errungenschaft der Aufklärung verteidigt, die andere, weil sie ihr Leitkulturzwang unterstellen, der ihnen aber für islamische Länder totalitärer Ausprägung keinen Nebensatz wert ist.
Braun und Mathes wollen die politische Debatte um den Islam hierzulande umdeuten in eine der Ignoranz vor großen Kulturleistungen des Orients, sie lassen nur stolze Kopftuchträgerinnen zu als Kronzeuginnen ihrer Behauptungen und übersehen, wie höhere Töchter, die anderen. Die kleinen Mädchen, die inzwischen unter das Kopftuch gesteckt und von Sexualkundeunterricht, Klassenfahrten und Schwimmen ausgeschlossen werden, wohl um sie vor den "kopulierenden Blicken" ihrer kleinen männlichen Klassenkameraden zu schützen. Das Buch konterkariert Klitorisbeschneidung mit Schönheitschirurgie, Ehrenmorde aus Kalkül mit tödlichen Eifersuchtsdramen im Affekt. Ihre Entrüstung über den Kapitalismus und seine abgefeimte Männerideologie erreicht Höchstform, wenn sich die Autorinnen über Kritik an Zwangsheiraten muslimischer Frauen mokieren und ein vermeintliches Schweigen zum Frauenhandel in Europa und dem Sextourismus als Anklage dagegenhalten.
Überhaupt wird alles ignoriert, was Eigensinn und Emanzipation in Europa hervorgebracht haben. Genausowenig erfahren wir in diesem Buch, was es denn ist, das so viele Menschen aus dem Orient immer noch in den Okzident zieht. Das Buch ist ein Manifest philologischer Verstiegenheit: Es häuft kulturgeschichtliche Belege für die Schönheit des Schleiers in West und Ost und redet auf diese Weise wortreich am Thema vorbei. Wenn in Europa ernsthaft über den Islam gestritten wird, geht es nicht um Glaubensverbote für Minderheiten oder die Kleiderordnung, sondern einzig allein um die Unteilbarkeit der Menschenrechte, die mit der islamischen Scharia und ihren Vorschriften unvereinbar sind.
REGINA MÖNCH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Fronten sind von Anfang an klar: Der Schleier schützt, die westliche Frau aber wurde entblößt und damit schutzlos den Blicken lüsterner Männer ausgeliefert - ein "sündiger Akt" aus islamischer Sicht, der einer "Kopulation mit dem Auge" gleichkomme. Die beiden Gender-Forscherinnen Christina von Braun und Bettina Mathes erzählen in ihrem Buch "Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen" (Aufbau Verlag, Berlin 2007. 476 S., geb., 24,90 [Euro]) die Geschichte des muslimischen Schleiers neu. Für sie ist es keine Geschichte der Unterdrückung der Frau in islamischen Gesellschaften, sondern die der westlichen Frau, die bei uns verdrängt und deshalb auf die Muslima projiziert worden sei. Kopftuchgegner würden demnach nur das abgespaltene Eigene im anderen, im Orient suchen.
Eine psychoanalytisch aufgeladene Sprache ersetzt den Autorinnen Theorie und Methode, stattdessen durchzieht ein grundsätzliches Missverständnis, wahrscheinlich aber Unverständnis ihr verschlungenes Argumentationslabyrinth: Sie können oder wollen sich nicht vorstellen, dass unter den Kopftüchern deutscher, französischer oder niederländischer Musliminnen auch Unfreiheit herrscht. Dass man Tausende und Abertausende von ihnen gezwungen haben könnte, sich einem Sittenkodex zu unterwerfen, der im freiheitlichen Westen nicht nur von Alice Schwarzer abgelehnt wird. Die pakistanische Burka-Brigade der Roten Moschee in Islamabad oder die Tugendwächter in Iran, die soeben wieder mit Folter, Umerziehung und Verfolgung Angst und Schrecken verbreiten, die wissen es besser. Sie schwingen darum ihre Bambusstöcke und Peitschen gegen alle, die anders leben wollen, sich anders kleiden als sie, die ihr Gesicht verbergen unter der "schützenden" Burka oder dem Tscharschaf. Die Bilder von brutalen Prügelszenen und willkürlichen Verhaftungen gingen gerade erst um die Welt. Und auf die Straße gingen dort, wo der Schleier genau das ist, was die politische Kopftuchdebatte meint, die Frauen. Barhäuptig und verzweifelt skandieren sie gegen die Gotteskriegerinnen und die Sittenpolizei: "Dieses Land gehört uns!" und "Stoppt den Terror der Mullahs!".
Die Schleier-Kulturgeschichte von Braun und Mathes wäre ein süffiges Buch, angereichert mit pathetischen Einlagen und interessanten Anekdoten über Atombomben und Bikini-Atoll, entblößende Bikinis und Atombusen, das Kopftuch von Grace Kelly oder das Regentuch von Frauen, die sich damit der Bevormundung durch den panoptischen Blick im öffentlichen Raum des fünfzehnten Jahrhunderts listig widersetzten. Und es ginge noch an, wenn sie einige Geschichtsvergessene nur daran erinnern wollten, dass Kopftuch und Geschlechtertrennung früher auch in Europa für Sitte und Ordnung standen. Aber ihre These, nach der die "Wahrnehmung des muslimischen Schleiers offensichtlich im Kontext der Nicht-Wahrnehmung des westlichen Kopftuchs" geschehe, erinnert ein wenig an die Klügeleien, die man bei manchen Einserschülern beobachten kann: Unbeeindruckt von den Tatsachen meinen sie, alle Welt müsste ihnen in jeden ihrer abseitigen Einfälle folgen. In diesem Sinne darf das Buch "Verschleierte Wirklichkeit" als Ausweis des verschleierten Weltbilds seiner Autorinnen gelten.
Die beiden Verfasserinnen wollen ohnehin mehr, sie meinen ihre Apologie des Schamtuchs politisch und betonen dies unermüdlich, inklusive eines irritierenden Verständnisses für die Empörung über die "Verunglimpfung des Islams" wegen der Mohammed-Karikaturen, deren inszenierter Kampagnencharakter ihnen bis heute nicht klargeworden ist. Sie machen Alice Schwarzer genauso nieder wie Angela Merkel; die eine, weil sie die Trennung von Staat und Religion als Errungenschaft der Aufklärung verteidigt, die andere, weil sie ihr Leitkulturzwang unterstellen, der ihnen aber für islamische Länder totalitärer Ausprägung keinen Nebensatz wert ist.
Braun und Mathes wollen die politische Debatte um den Islam hierzulande umdeuten in eine der Ignoranz vor großen Kulturleistungen des Orients, sie lassen nur stolze Kopftuchträgerinnen zu als Kronzeuginnen ihrer Behauptungen und übersehen, wie höhere Töchter, die anderen. Die kleinen Mädchen, die inzwischen unter das Kopftuch gesteckt und von Sexualkundeunterricht, Klassenfahrten und Schwimmen ausgeschlossen werden, wohl um sie vor den "kopulierenden Blicken" ihrer kleinen männlichen Klassenkameraden zu schützen. Das Buch konterkariert Klitorisbeschneidung mit Schönheitschirurgie, Ehrenmorde aus Kalkül mit tödlichen Eifersuchtsdramen im Affekt. Ihre Entrüstung über den Kapitalismus und seine abgefeimte Männerideologie erreicht Höchstform, wenn sich die Autorinnen über Kritik an Zwangsheiraten muslimischer Frauen mokieren und ein vermeintliches Schweigen zum Frauenhandel in Europa und dem Sextourismus als Anklage dagegenhalten.
Überhaupt wird alles ignoriert, was Eigensinn und Emanzipation in Europa hervorgebracht haben. Genausowenig erfahren wir in diesem Buch, was es denn ist, das so viele Menschen aus dem Orient immer noch in den Okzident zieht. Das Buch ist ein Manifest philologischer Verstiegenheit: Es häuft kulturgeschichtliche Belege für die Schönheit des Schleiers in West und Ost und redet auf diese Weise wortreich am Thema vorbei. Wenn in Europa ernsthaft über den Islam gestritten wird, geht es nicht um Glaubensverbote für Minderheiten oder die Kleiderordnung, sondern einzig allein um die Unteilbarkeit der Menschenrechte, die mit der islamischen Scharia und ihren Vorschriften unvereinbar sind.
REGINA MÖNCH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kritisch betrachtet Regina Mönch diese Kulturgeschichte der Verschleierung, die Christina von Braun und Bettina Mathes vorgelegt haben. Wenig anfangen kann sie schon mit der Hauptthese der Autorinnen, wonach die Geschichte des Schleiers keineswegs eine Geschichte der Unterdrückung der muslimischen Frau sei, sondern vielmehr der westlichen Frau, was allerdings verdrängt worden sei und nun auf die Muslima projiziert werde. Sie hält den Autorinnen vor, mit "psychoanalytisch aufgeladener" Sprache den Mangel an Theorie und Methode überdecken zu wollen. Grundsätzlich krankt die Untersuchung in ihren Augen an dem Unverständnis der Autorinnen, dass hinter den Kopftüchern deutscher, französischer oder niederländischer Musliminnen auch Unfreiheit herrscht. Die Anhäufung von vielen kulturgeschichtlichen Belegen für die Schönheit des Schleiers in Ost und West kann für Mönch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autorinnen beredt am Thema vorbeischrieben. Schließlich gehe es bei den ernsthaften Debatten über den Islam nicht um Glaubensverbote für Minderheiten oder die Kleiderordnung, sondern um die Unteilbarkeit der Menschenrechte, die mit der islamischen Scharia und ihren Vorschriften unvereinbar seien. Die Argumentationen von Braun und Mathes wirken auf Mönch höchst einseitig, so würden etwa nur stolze Kopftuchträgerinnen als Zeuginnen zu Wort kommen. Insgesamt scheint ihr das Buch vor allem ein "Ausweis des verschleierten Weltbilds seiner Autorinnen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"So lässt sich mit im Anerkennung sagen, dass die Auseinandersetzung über die historische Entwicklung zur Rolle der Frau im Islam und ihrer Bedeutung für das abend- und morgenländische Verhältnis in der Vergangenheit und Gegenwart einen gelungenen Beitrag zu einem gleichberechtigten Dialog für die aktuelle und zukünftige Entwicklung der Menschheit leistet." Jos Schnurer, socialnet.de am 22.05.2017