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1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, deportierte der sowjetische Geheimdienst NKWD im Schatten der vorrückenden Roten Armee Hundertausende deutscher Zivilisten aus Südosteuropa und Ostdeutschland in die Sowjetunion, darunter viele Frauen. In sibirischen Lagern mußte sie die deutsche Kriegsschuld abarbeiten - im Wald, beim Straßenbau, auf der Kolchose, im Schacht. Mehr als ein Drittel von ihnen kehrte nicht zurück, starb an Schwäche und Unterernährung. Die anderen hielt man gefangen, solange sie arbeitsfähig waren; dann wurden sie, von Krankheiten gezeichnet und bis auf die Knochen abgemagert,…mehr

Produktbeschreibung
1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, deportierte der sowjetische Geheimdienst NKWD im Schatten der vorrückenden Roten Armee Hundertausende deutscher Zivilisten aus Südosteuropa und Ostdeutschland in die Sowjetunion, darunter viele Frauen. In sibirischen Lagern mußte sie die deutsche Kriegsschuld abarbeiten - im Wald, beim Straßenbau, auf der Kolchose, im Schacht. Mehr als ein Drittel von ihnen kehrte nicht zurück, starb an Schwäche und Unterernährung. Die anderen hielt man gefangen, solange sie arbeitsfähig waren; dann wurden sie, von Krankheiten gezeichnet und bis auf die Knochen abgemagert, nach Deutschland entlassen. Die Schriftstellerin und Regisseurin Freya Klier hat überlebende Frauen aufgesucht und interviewt. Sie dokumentiert nach gründlichen Recherchen umfassend dieses dunkle Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ihr Bericht umfaßt alle Stationen der Odyssee dieser Frauen. Abbildungen und Karten ergänzen die Dokumentation.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.1996

Von daheim die Todesurkunde
Das Schicksal deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern

Freya Klier: Verschleppt ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern. Verlag Ullstein, Berlin, Frankfurt am Main 1996. 256 Seiten, Abbildungen, 34,- Mark.

"Dann nahmen uns zwei Offiziere mit in ein Nebenzimmer, dort mußten wir uns ausziehen . . . Einer der beiden versuchte dann, mich zu vergewaltigen. Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt. Da hat er seine Pistole auf meine Brust gelegt, den Lauf in Richtung Kinn. Dieses kalte Metall auf meiner Brust; ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich mich daran erinnere. Er hat mich dann die ganze Nacht vergewaltigt, immer wieder . . . Es war ein jüngerer, eher gutaussehender Mann. Als ich mich endlich anziehen durfte, sagte er zu mir, er müsse jetzt weiterziehen an die Front, und wenn er zurückkomme, nehme er mich mit . . . Seit dieser Stunde hatte ich eine wahnsinnige Angst. Ich habe mich zur Schnitterhütte geschleppt, ich konnte ja kaum laufen, und meinen Vater angefleht, mich zu erschießen. Die Vergewaltigungen gingen dann täglich weiter, doch die meiste Angst hatte ich davor, daß dieser eine zurückkommt."

So erinnert sich Eva-Maria S. an die Tage nach dem Einrücken der Roten Armee im Frühjahr 1945 in ihrem Dorf in Ostbrandenburg. Sie war damals 16 Jahre alt - eine von Zehntausenden Frauen und jungen Mädchen, die in den letzten Kriegsmonaten von Soldaten der Sowjetarmee vergewaltigt und in Arbeitslager in die Sowjetunion verschleppt wurden. Elf Frauen aus den Provinzen jenseits von Oder und Neiße, die Lagerhaft, Zwangsarbeit und Verbannung überlebten, hat die Regisseurin und Schriftstellerin Freya Klier befragt und ihre Erinnerungen aufgezeichnet. Das Schicksal dieser Frauen durfte in der DDR nicht erwähnt werden, das hätte als Verleumdung der Sowjetunion gegolten. Im Westen, so schreibt Frau Klier, fiel die Erinnerung an dieses Schicksal dem "Lagergefecht der Generationen" zum Opfer: Die Wehrmachts-Generation sah die sowjetischen Verbrechen vor allem als Entlastung für die eigene Schuld, für viele der jüngeren Generation war das durch die Russen Erlittene nichts als die "Strafe für Auschwitz".

Begonnen hatte die Odyssee der deutschen Frauen im Herbst 1944, als die ostpreußischen Gauleiter zu spät den Evakuierungsbefehl gaben. Die Frauen wurden zur ersten Beute der "Russen", die - von der Propaganda aufgepeitscht - einen Rachefeldzug begannen. Seit der Januaroffensive der Roten Armee 1945 wurden Mißhandlungen zur alltäglichen Erfahrung all derer, die nicht mehr flüchten konnten oder nicht hatten flüchten wollen.

Die Frauen zogen sich die dunkelsten Kleider und Kopftücher der alten Dorfbewohnerinnen an, beschmierten ihre Gesichter mit Ruß und Jauche, färbten die Haare mit Mehl. Doch die Maskerade half nicht gegen den Ansturm der sowjetischen Soldaten. Die forderten immer wieder Schnaps, verlangten "Uhri, Uhri", wenn auch schon alle Uhren abgegeben waren, zerschossen das Radio mit dem Ruf "Kapitalisty!". Und immer wieder "Frau komm!"

Helfen konnten in dieser Situation am ehesten gute Polnischkenntnisse, um sich als Polin auszugeben; selten konnte lautes Schreien einen russischen Offizier zum Einschreiten gegen die Vergewaltigungen bewegen. Manche Mädchen versteckten sich tagelang im Stall, hockten wochenlang nachts im Wandschrank. Die meisten irrten zwischen Kellern und Höfen umher, um sich zu verstecken, und waren doch nach kurzer Zeit wieder den "Befreiern" ausgeliefert.

Zu den Vergewaltigungen kam bald die Trennung von Eltern, Kindern und Freunden. Unter dem Vorwand eines kurzfristigen Arbeitseinsatzes wurden die Frauen abgeholt. Es folgten lange Fußmärsche in Sammellager. Die Alten - unter ihnen auch Männer -, die zu schwach zum Laufen waren, wurden von den Wachsoldaten häufig durch Genickschuß getötet. Seit dem NKWD-Befehl vom 3. Februar 1945 begannen die Deportationen in die Sowjetunion. Aus den Sammellagern wurden die Internierten, bis zu 90 Prozent Frauen, in Viehwaggons geladen. Aus dem größten Lager im ostpreußischen Insterburg wurden 47000 Personen im Frühjahr 1945 deportiert. In westpreußischen Lagern waren Kinder von 12 und 13 Jahren keine Seltenheit.

Den wochenlangen Transport überlebten viele nicht, die Verpflegung war völlig unzureichend. Die Waggons fuhren durch die von den Deutschen niedergebrannten Siedlungen der westlichen Sowjetunion, zerlumpte, elternlose Kinder bewarfen die Züge mit Steinen. Die verschleppten Frauen wurden zum Torfstechen in Sibirien, zum Holzeinschlag im Ural, zur Arbeit im Bergwerk oder als Schweinehirt und Traktoristin auf Kolchosen eingesetzt.

Manche durchliefen in der Sowjetunion bis zu zehn verschiedene Arbeitslager. Verpflegung und Lagerregime waren je nach Einsatzort unterschiedlich - 1945/46 war die Todesrate sehr hoch. Von den im Lager geborenen Kindern, die meist aus den Vergewaltigungen entstanden waren, überlebten nur wenige. Verhöre durch das NKWD, Denunziationen durch andere Gefangene waren an der Tagesordnung. Die deutschen Funktionshäftlinge galten meist als schlimmer denn die russischen Bewacher. Eine Betroffene erinnert sich an den Studienrat, der im Lager sein "bolschewistisches Herz entdeckte". Er wurde später in West-Berlin Schulrat.

Dennoch gab es ein starkes Zusammenhalten unter den verschleppten Frauen. Der Kontakt mit der russischen Zivilbevölkerung, der es meist nicht viel besser ging, half, das eigene Leid zu ertragen. Eine ständige seelische Belastung war die Ungewißheit über das Schicksal der Verwandten. Eine der befragten Frauen erfuhr vom Tod ihrer ebenfalls verschleppten Mutter dadurch, daß eine in ihr Lager verlegte Gefangene deren selbstgenähten Mantel trug. Eine Deportierte erhielt die Nachricht, daß ihr Mann sie für tot hatte erklären lassen, um eine andere zu heiraten. In der Verbannung, die der Lagerhaft folgte, erhielt sie von zu Hause eine Kopie der eigenen Todesurkunde.

Nach der Rückkehr nach Deutschland - die letzten Verschleppten kehrten nach 1957 heim - konnten sich viele der Frauen nur schwer zurechtfinden. Kinder und Männer hatten sich ihnen entfremdet, zu den körperlichen kamen seelische Schäden: Albträume, Angst vor dem Alleinsein. Viele, die vergewaltigt worden waren, kamen mit ihrer Sexualität nie mehr zurecht, heirateten nicht oder ließen sich bald wieder scheiden. Ihr Schicksal stieß bei Bekannten auf Unglauben oder Desinteresse, in der DDR war das Reden über die Vergewaltigungen und die Deportation mit Haftstrafe bedroht.

MARKUS WEHNER

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