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Kaum werden neue Länder geboren, da senden sie auch schon auf Briefmarken gedruckt ihre Hoheitszeichen in alle Welt hinaus. Ob Sowjetbayern oder Lundy, Heligoland oder das Königreich Hawaii, Tanna-Tuva oder das Deutsche Reich: auf ihren Marken demonstrieren sie der Welt ihren mehr oder weniger nachdrücklichen Anspruch auf staatliche Souveränität. Doch der auf den Briefmarken zur Schau gestellte Stolz neuer Länder auf die errungene Souveränität ist oft nur Fassade. Schon in der Geburtsstunde sind die Selbstzweifel des Neulings in einer altgefügten Welt der etablierten Mächte ersichtlich - und…mehr

Produktbeschreibung
Kaum werden neue Länder geboren, da senden sie auch schon auf Briefmarken gedruckt ihre Hoheitszeichen in alle Welt hinaus. Ob Sowjetbayern oder Lundy, Heligoland oder das Königreich Hawaii, Tanna-Tuva oder das Deutsche Reich: auf ihren Marken demonstrieren sie der Welt ihren mehr oder weniger nachdrücklichen Anspruch auf staatliche Souveränität. Doch der auf den Briefmarken zur Schau gestellte Stolz neuer Länder auf die errungene Souveränität ist oft nur Fassade. Schon in der Geburtsstunde sind die Selbstzweifel des Neulings in einer altgefügten Welt der etablierten Mächte ersichtlich - und drücken sich auf den Postzeichen aus. Burkhard Müller versteht es, aus den Briefmarken dieser Welt eine verborgene Geschichte herauszulesen. Diese Geschichte ist nicht so schön wie der Schein der farbigen, gummierten und gezackten Sendboten in die Welt es glauben machen will. Es ist die brüchige Geschichte der Länder, die im Ozean der Zeit ebenso wieder verschollen sind, wie sie einst aus ihm aufgetaucht waren: die Geschichte ihres Untergangs. >Verschollene Länder
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2013

Der Widerspenstigen Zähnung
Selbstbeklebungsrecht der Völker: Burkhard Müller erzählt die Globalgeschichte einmal anders - mit Hilfe von Briefmarken längst verschollener Länder

Die politische Geographie des Erdballs ist komplett. Kein Flecken Land, der nicht unter die Souveränität eines der 196 Staaten fiele, die es im Jahr 2013 gibt und die sich sämtlich eingerichtet haben, als müssten sie bis in alle Ewigkeit dauern." - Diese beiden Einleitungssätze benennen in knappen Worten das Leitmotiv, dem Burkhard Müllers sechzig weltgeschichtliche Mini-Lektionen folgen. Souveränität ist dabei das Zauberwort, mit dem die Staaten aller Zeiten ihre auf Ewigkeit angelegte Existenz beschwören, und der sichtbare Ausdruck (im Wortsinn) dieser Souveränität ist die Ausgabe eigener Postwertzeichen, vulgo Briefmarken.

Unabhängig von deren graphischer und drucktechnischer Qualität haben sie alle dies gemeinsam: "Sie bleiben leibhaftige Bilder. In ihnen gibt ein Land ahnungslos seine Physiognomie preis, sie sind Plappermäuler der Souveränität." Diese Erzählungen werden umso aufschlussreicher, wenn das Land, dessen Gesicht die Marken einst waren, untergegangen ist: ein Prozess, der weltgeschichtlich nie zum Ende kommt, auch wenn bei manchen Staaten, etwa bei der Sowjetunion, zu ihren Lebzeiten niemand sich je hätte vorstellen können, dass sie eines Tages untergegangen sein würden. Die Briefmarke, die in der Lektion über den gestürzten Koloss abgebildet ist, feiert 1987, vier Jahre vor dem Untergang, den siebzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution: "Die Zahl ,70' erscheint sehr groß; hier fehlt auffällig das Gespür, dass dies auch ein gutes Rentenalter wäre. Hammer und Sichel werden vom Lorbeer durchflochten: In die Symbole proletarischer Tätigkeit mischt sich ein als wohlverdient empfundenes, gehobenes Ruhebedürfnis."

Immerhin darf man annehmen, dass sich an die Sowjetunion noch jeder Zeitgenosse irgendwie erinnert. Anders steht es bei Staaten, von denen die meisten von uns in diesem Buch wohl erstmals erfahren: Valle Bormida etwa, Tannu-Tuva, die Schwarzflaggenrepublik, Occussi Ambeno. Einige dieser Gebilde hatten nur eine Existenzdauer von wenigen Jahren oder gar Monaten. Zum Druck von Briefmarken hat es aber allemal gereicht. Manche von ihnen waren von miserabler Qualität und zeigten von Beginn an, dass sie von designierten Verlierern gemacht waren, wie im Fall der Konföderierten Staaten von Amerika. Deren Lebensdauer betrug vier Jahre, und in dieser Zeit wurden sie von keinem einzigen anderen Land der Erde anerkannt. Ein Symbol dieser Verlierer allerdings, das Kreuz des Südens, ist bis heute nicht vergessen: Die Tea Party bedient sich seiner zuweilen bei ihren abstrusen Kundgebungen.

Die Rückkehr der Konföderation kann man dennoch ausschließen. Anders verhält es sich mit zwei Ländern, die schon einmal die Souveränität, sprich die Briefmarkenhoheit, erlangt hatten und von denen man durchaus befürchten muss, dass sie nicht nachlassen werden in ihren Anstrengungen, in den Kreis der souveränen Staaten zurückzukehren: Katalonien und Flandern. Die Globalisierung begünstigt eher, dass die Zahl der Grenzen und der eingezäunten Gebiete ansteigt. Begonnen hatte das allerdings schon, darauf weist Müller hin, nach dem Ersten Weltkrieg mit der Erfindung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, das seitdem für die Legitimation noch des obskursten Kleinstaats herhalten muss.

Davon wusste ein anderes dieser verschollenen Länder noch nichts. Es war einst nicht nur so mächtig, sondern auch so multiethnisch, dass auf seinen Marken außer dem jeweiligen Bild (im vorliegenden Band die "reichlich unverbindliche Allegorie eines Merkur-Kopfes") nur der postalische Wert auftaucht. Wie hätte es sich auch nennen sollen, dieses Land ohne Namen? Der volle Name, der über viele Zeilen geht und auf keine Marke passt, lässt sich unter anderem bei Musil nachlesen, der es jedoch auch vorzieht, das Land in seinem Romanfragment ansonsten mit dem schönen Namen "Kakanien" zu belegen. Wie es sich mit dieser kaiserlich-königlichen Nomenklatur verhält, erklärt Müller noch einmal, und übrigens deutlich knapper als Musil.

Karl Kraus hat dem "k. k. Misthaufen" 1919 einen hämischen Nachruf geschrieben, aber Müller schreibt die Geschichte bis heute fort: "Ob etwas Besseres nachgekommen ist? Sieben Nachfolgestaaten, jeder stolz auf seinen Namen, teilten sich den habsburgischen Bestand; bis heute sind es zwölf geworden. Wo früher ein Land war, wie beschaffen auch immer, da laufen nunmehr Tausende von Kilometern frischer Grenzen; und wie jeder weiß, der seit den Neunzigern Nachrichten gehört hat: Nicht allen diesen Schnitten ist es gelungen, gut zu vernarben."

An diesem Rückblick, der implizit auch einer auf die jüngste Jugoslawien-Tragödie ist, lässt sich erkennen: Burkhard Müllers Buch, so scheinbar schrullige Geschichten es teilweise auch erzählt, ist keineswegs eine unterhaltsame Plauderei. Zwar ist es in lateinischer Klarheit geschrieben - Souveränität ist auch hier das Zauberwort - und beherrscht zudem die hohe Kunst einer nicht billigen Ironie. Doch das Vanitasmotiv ist die eigentliche Grundfarbe dieser Lektionen und wird zuverlässig verhindern, dass es zur Schullektüre wird, wofür es sich hervorragend eignen würde. Doch da sind die Kultusministerien aller noch nicht verschollenen Länder vor.

JOCHEN SCHIMMANG.

Burkhard Müller: "Verschollene Länder". Eine Weltgeschichte in Briefmarken.

Zu Klampen Verlag, Springe 2013. 200 S., geb., 24,- [Euro].

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