'Ich weiß, dass die allgegenwärtige Vereinnahmung der Quantentheorie diese zu gefährlichem Material macht; und dass ich auch noch Feministische Theorie zur Liste meiner Anliegen hinzufüge, scheint auszureichen, um eben diese explosive Mischung detonieren zu lassen.'Karen Barad führt Erkenntnisse der Quantenphysik, Wissenschaftsforschung und -philosophie sowie feministischer, postkolonialer und queerer Wissen(schaft)skritik zusammen. Im Sinne einer politisch verantwortbaren Physik-Philosophie stützt sie quantenphysikalisch die Dekonstruktion und die ihr zugrundeliegenden emanzipativen Transformationen. Mit Konzepten wie Verschränkung und Intra-Aktion erklärt sie das 'queere Verhalten' naturwissenschaftlicher Phänomene, deren Identität und Materialität nicht mit den Mitteln der (Meta-)Physik der Aufklärung verstehbar sind. Ihr Agentieller Realismus entwirft eine Deutungsperspektive, die eingeführte Unterscheidungen - etwa zwischen Natur/Kultur, Subjekt/Objekt, Mensch/Nichtmensch, belebt/unbelebt - umgestaltet.Der Band versammelt Aufsätze und Essays von Karen Barad sowie ein Gespräch mit Jennifer Sophia Theodor.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2015Das widerspenstige Elektron
Die Quantenphysikerin Karen Barad räumt die alten Dualismen weg und macht Platz für die Unbestimmbarkeit
Man kann das Feld, in dem sich die Quantenphysikerin und Professorin für feministische Studien, Philosophie und Geistesgeschichte an der University of California in Santa Cruz, Karen Barad, in ihrem gerade erschienenen Buch "Verschränkungen" bewegt, mit zwei Geschichten aufspannen. Die eine handelt von Peitschenschwanz-Eidechsen und ist etwas länger, die andere erzählt eine Anekdote über Niels Bohr, den Physik-Nobelpreisträger von 1922, ist dafür aber sehr kurz.
Peitschenschwanz-Eidechsen leben in den trockenen, spärlich bewachsenen, sandigen Gebieten im Südosten Colorados über Texas bis in den Norden Mexikos und waren für die biologische Systematik bis in die sechziger Jahre ein Rätsel. Das hatte einen einfachen Grund. Die Arten dieser heute in der Gattung Aspidoscelis zusammengefassten Eidechsen bestehen komplett nur aus Weibchen. Es gibt keine Männchen, und die Echsen ersparen sich damit den ganzen Bereich, der sich um die Trennung des Lebens in verschiedene Geschlechter auftürmt. Sie müssen sich vorrangig nur um ihr Futter kümmern und aufpassen, dass sie nicht selbst gefressen werden. Die Fortpflanzung durch Jungfernzeugung oder Parthenogenese, wie der Vorgang im Wissenschaftsjargon heißt, vollbringen die Eidechsen auch noch ohne jede genetische Verarmung, die in solchen Fortpflanzungsfällen mehr oder weniger ausgesprochen unterstellt wird.
Man geht nicht zu weit, wenn man annimmt, dass die späte Entdeckung der Arten und des Lebens der Peitschenschwanz-Eidechsen sehr viel mit unserer Voreingenommenheit gegenüber der Existenz oder Inexistenz solcher Dinge zu tun hat. Für Karen Barad folgt aus dieser Geschichte für die Naturwissenschaften, dass man mit der einfache Trennung zwischen Subjekten der Beobachtung und den Objekten der Natur nicht weiterkommt. Denn kein Beobachter, welchen Geschlechts auch immer, wird je ausschließen können, dass nicht auch die Objekte der Natur in genau dem Moment experimentieren, in dem der oder die Beobachter/-in das Experiment aufbaut und die Messinstrumente einstellt. Die dualistische Unterscheidung von Subjekt und Objekt reicht nicht aus. Oder mit den Worten der Dichterin Alice Fulton, die Barad ihrem Buch voranstellt: "Nichts wird sich uns offenbaren, wenn wir uns nicht in Richtung dessen bewegen, was für uns wie Nichts aussieht: Glaube ist eine Kaskade."
Damit kommt Niels Bohr ins Spiel. Als ein Freund Bohr fragte, ob er wirklich glaube, das Hufeisen über seiner Tür bringe ihm Glück, antwortete er: "Natürlich nicht, aber man hat mir gesagt, dass es auch wirkt, wenn man nicht daran glaubt." Indem Bohr, einer der großen Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, das Paradox nicht in Eindeutigkeit auflöst, erweist er sich als Realist in menschlichen Angelegenheiten. Die Illusion, dass ein Hufeisen über der Tür Glück bringt, kann auch weiter wirken, wenn sie längst als Illusion entlarvt ist.
Der Positivismus, heißt das aber auch, wird die Welt nie ganz erklären können, wenn er nicht damit rechnet, dass Uneindeutigkeit und Paradoxon zur "Welt" oder zur "Natur" oder zu den "Dingen" gehören. Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit, die ewigen Forderungen der Wissenschaft, lassen sich nur temporär, in einem genau bestimmten Rahmen, und kontextuell, unter exakt beschriebenen Bedingungen, herstellen, hat Bohr aus der Anwesenheit des Paradoxons in der Welt gefolgert. Die beschreibenden Charakterisierungen der Naturwissenschaften bezeichnen also nicht irgendwelche beobachtungsunabhängigen Wesen oder unveränderlichen Objekte; sie sind vielmehr spezifische, im besten Fall genau konstruierte Treffen - mit Barads Wort: "Verschränkungen" - zwischen Phänomenen und Beobachter/-innen mit ihren Messinstrumenten. Oder, anders formuliert: Momente der Beschreibung von Orten, an denen Materie und Bedeutung sich treffen.
Für Karen Barad untergräbt diese Sicht Bohrs zuerst jene Konzepte, die die Realität entweder als vorgängig oder als außerhalb der Sprache sehen. Für Barad gilt, und das ist einer der zentralen Sätze: "Was beschrieben wird, ist unsere Teilhabe in Natur." Die traditionelle Philosophie hat uns daran gewöhnt, Sprache als etwas Sekundäres zu betrachten und Wirklichkeit als Primäres. Für Bohr und Barad ist diese Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit unangemessen. Die Ansicht, dass nicht die Sprache fundamental sei, sondern dass es die Wirklichkeit sein müsse, die unter der Sprache liegt und deren Abbild Sprache ist, weisen sie zurück. "Wir hängen derart in Sprache drin", hat Bohr gesagt, "dass wir nicht sagen können, was oben und was unten ist. Das Wort ,Wirklichkeit' ist auch ein Wort, ein Wort, dessen korrekte Verwendung wir lernen müssen."
Und um nichts weniger als um die korrekte Anwendung des Wortes "Wirklichkeit" im Treffen mit Peitschenschwanz-Eidechsen, Schleimpilzen, Atomen und Elektronen geht es in Barads Buch. Ein Buch, in dem sie der Leserschaft die Möglichkeit bietet, "an einer imaginären Reise teilzuhaben, die dem Welterfahren von Elektronen ähnlich ist". Einer Reise, auf der es Barad ohne jeden übergreifenden Sinn von Zeitlichkeit und Kontinuität gelingt, nicht nur alte Dualismen wie Subjekt-Objekt, Natur-Kultur oder Welt-Wort im Straßengraben liegen zu lassen. Es gelingt ihr auch, ihre Erzählung ohne die alten Märchen vom kontinuierlichen Zuwachs und der Verfeinerung naturwissenschaftlichen Wissens im Laufe der Geschichte zu erzählen. Wenn die Quantenphysik in einem ganz anderen logischen Rahmen agiert, als es die Physik Newtons tat, heißt das noch lange nicht, dass die Physik Newtons "überholt" ist. Sie gilt nach wie vor in ihrem Rahmen. Der Apfel fällt immer noch vom Baum auf die Erde, wie von Newton beobachtet. Er fliegt immer noch nicht direkt in Wellen auf den Tisch eines Künstleresoterikers, der gerade festgestellt hat, dass Licht sowohl in Wellen als auch in Teilchen vorkommen kann. Wobei es zu den vielen großartigen Szenen dieser Reise gehört, wie Barad den Widerspruch zwischen Licht als Teilchen und Licht als Wellen dadurch auflöst, dass sie beide Aussagen widerspruchsfrei bestehen lässt. "Welle" und "Teilchen" sind demnach klassische Beschreibungen, die sich auf verschiedene, einander wechselseitig ausschließende Phänomene beziehen und nicht auf unabhängige, physikalische Objekte. Mit zwei einander wechselseitig ausschließenden Versuchsaufbauten kann man so sogar Licht als "Wellen" und Licht als "Teilchen" nebeneinander beobachten.
Nebenbei erklärt Barad damit auch noch den Unterschied zwischen Newtons Physik und Quantenphysik. Während bei Newton der Beobachter bedeutungslos ist, kann man die Beobachterposition in der Quantenphysik nicht unbeachtet lassen. Messen und Messmethoden sind unabdingbarer Teil der Quantentheorie. Was auch bedeutet, dass man die Theorie falsch versteht, wenn man die Praxis des Messens ignoriert. Ein Gefahrenmoment, das jedoch überall lauert. So hat der analoge Gebrauch der Quanten in Esoterik, Hollywood-Buddhismus und Kunst nicht nur schräge, sondern auch ungerechte Blüten in die Welt gesetzt. Barad weiß das, und sie weiß auch, dass die Schäden durch Esoterik und Kunst nicht einen Bruchteil dessen ausmachen, was die Atombombe als Folge der Quantenphysik angerichtet hat. Barad reagiert auf den Horror der Bombe mit einem ethischen Zug, indem sie die Physik an die Gerechtigkeit bindet und damit die Bombe und ihren sogenannten friedlichen Ableger, das Atomkraftwerk, logisch wie faktisch der Ungerechtigkeit überführt. Möglich wird ihr dies dadurch, dass sie nach "der Verkörperung von Kultur innerhalb von Theorie" fragt. Denn wie genau man die Messapparaturen einstellt, wie hoch man die Teilchenbeschleunigung auch fährt, da ist immer ein Moment der Unbestimmbarkeit, der Unentscheidbarkeit. Barad nennt das die "queere Performativität der Natur". Und sie zeigt diese Performativität an Schleimpilzen oder dem Atom. "Queer" steht hier nicht einfach für seltsam. "Was könnte queerer sein als ein Atom?", fragt Karen Barad und antwortet: "Die eigentliche Natur des Seins eines Atoms, eben seine Identität, ist Unbestimmtheit selbst."
Diese Unbestimmtheit wird besonders plastisch am Beispiel der Schleimpilze. Schleimpilze haben sich allen Versuchen erfolgreich widersetzt, sie in den klassischen Ordnungen von Tieren, Pflanzen und Pilzen unterzubringen, obwohl sie Merkmale aus all diesen Ordnungen aufweisen. Zelluläre Schleimpilze können eine Weile einzeln durch die Gegend kriechen. Sie können aber auch sozial agieren. Dann versammeln sich mehrere Schleimpilzamöben und wachsen zu bis zu 15 Meter langen Pilzen zusammen. Die Individuen dieses Körpers haben ihre Individualität zugunsten eines Gesamtorganismus aufgegeben. In diesem Fall ist dann nicht einmal mehr das Individuum mit sich selbst identisch.
CORD RIECHELMANN
Karen Barad: "Verschränkungen". Übersetzt von Jennifer Sophia Theodor. Merve, 222 Seiten, 21 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Quantenphysikerin Karen Barad räumt die alten Dualismen weg und macht Platz für die Unbestimmbarkeit
Man kann das Feld, in dem sich die Quantenphysikerin und Professorin für feministische Studien, Philosophie und Geistesgeschichte an der University of California in Santa Cruz, Karen Barad, in ihrem gerade erschienenen Buch "Verschränkungen" bewegt, mit zwei Geschichten aufspannen. Die eine handelt von Peitschenschwanz-Eidechsen und ist etwas länger, die andere erzählt eine Anekdote über Niels Bohr, den Physik-Nobelpreisträger von 1922, ist dafür aber sehr kurz.
Peitschenschwanz-Eidechsen leben in den trockenen, spärlich bewachsenen, sandigen Gebieten im Südosten Colorados über Texas bis in den Norden Mexikos und waren für die biologische Systematik bis in die sechziger Jahre ein Rätsel. Das hatte einen einfachen Grund. Die Arten dieser heute in der Gattung Aspidoscelis zusammengefassten Eidechsen bestehen komplett nur aus Weibchen. Es gibt keine Männchen, und die Echsen ersparen sich damit den ganzen Bereich, der sich um die Trennung des Lebens in verschiedene Geschlechter auftürmt. Sie müssen sich vorrangig nur um ihr Futter kümmern und aufpassen, dass sie nicht selbst gefressen werden. Die Fortpflanzung durch Jungfernzeugung oder Parthenogenese, wie der Vorgang im Wissenschaftsjargon heißt, vollbringen die Eidechsen auch noch ohne jede genetische Verarmung, die in solchen Fortpflanzungsfällen mehr oder weniger ausgesprochen unterstellt wird.
Man geht nicht zu weit, wenn man annimmt, dass die späte Entdeckung der Arten und des Lebens der Peitschenschwanz-Eidechsen sehr viel mit unserer Voreingenommenheit gegenüber der Existenz oder Inexistenz solcher Dinge zu tun hat. Für Karen Barad folgt aus dieser Geschichte für die Naturwissenschaften, dass man mit der einfache Trennung zwischen Subjekten der Beobachtung und den Objekten der Natur nicht weiterkommt. Denn kein Beobachter, welchen Geschlechts auch immer, wird je ausschließen können, dass nicht auch die Objekte der Natur in genau dem Moment experimentieren, in dem der oder die Beobachter/-in das Experiment aufbaut und die Messinstrumente einstellt. Die dualistische Unterscheidung von Subjekt und Objekt reicht nicht aus. Oder mit den Worten der Dichterin Alice Fulton, die Barad ihrem Buch voranstellt: "Nichts wird sich uns offenbaren, wenn wir uns nicht in Richtung dessen bewegen, was für uns wie Nichts aussieht: Glaube ist eine Kaskade."
Damit kommt Niels Bohr ins Spiel. Als ein Freund Bohr fragte, ob er wirklich glaube, das Hufeisen über seiner Tür bringe ihm Glück, antwortete er: "Natürlich nicht, aber man hat mir gesagt, dass es auch wirkt, wenn man nicht daran glaubt." Indem Bohr, einer der großen Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, das Paradox nicht in Eindeutigkeit auflöst, erweist er sich als Realist in menschlichen Angelegenheiten. Die Illusion, dass ein Hufeisen über der Tür Glück bringt, kann auch weiter wirken, wenn sie längst als Illusion entlarvt ist.
Der Positivismus, heißt das aber auch, wird die Welt nie ganz erklären können, wenn er nicht damit rechnet, dass Uneindeutigkeit und Paradoxon zur "Welt" oder zur "Natur" oder zu den "Dingen" gehören. Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit, die ewigen Forderungen der Wissenschaft, lassen sich nur temporär, in einem genau bestimmten Rahmen, und kontextuell, unter exakt beschriebenen Bedingungen, herstellen, hat Bohr aus der Anwesenheit des Paradoxons in der Welt gefolgert. Die beschreibenden Charakterisierungen der Naturwissenschaften bezeichnen also nicht irgendwelche beobachtungsunabhängigen Wesen oder unveränderlichen Objekte; sie sind vielmehr spezifische, im besten Fall genau konstruierte Treffen - mit Barads Wort: "Verschränkungen" - zwischen Phänomenen und Beobachter/-innen mit ihren Messinstrumenten. Oder, anders formuliert: Momente der Beschreibung von Orten, an denen Materie und Bedeutung sich treffen.
Für Karen Barad untergräbt diese Sicht Bohrs zuerst jene Konzepte, die die Realität entweder als vorgängig oder als außerhalb der Sprache sehen. Für Barad gilt, und das ist einer der zentralen Sätze: "Was beschrieben wird, ist unsere Teilhabe in Natur." Die traditionelle Philosophie hat uns daran gewöhnt, Sprache als etwas Sekundäres zu betrachten und Wirklichkeit als Primäres. Für Bohr und Barad ist diese Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit unangemessen. Die Ansicht, dass nicht die Sprache fundamental sei, sondern dass es die Wirklichkeit sein müsse, die unter der Sprache liegt und deren Abbild Sprache ist, weisen sie zurück. "Wir hängen derart in Sprache drin", hat Bohr gesagt, "dass wir nicht sagen können, was oben und was unten ist. Das Wort ,Wirklichkeit' ist auch ein Wort, ein Wort, dessen korrekte Verwendung wir lernen müssen."
Und um nichts weniger als um die korrekte Anwendung des Wortes "Wirklichkeit" im Treffen mit Peitschenschwanz-Eidechsen, Schleimpilzen, Atomen und Elektronen geht es in Barads Buch. Ein Buch, in dem sie der Leserschaft die Möglichkeit bietet, "an einer imaginären Reise teilzuhaben, die dem Welterfahren von Elektronen ähnlich ist". Einer Reise, auf der es Barad ohne jeden übergreifenden Sinn von Zeitlichkeit und Kontinuität gelingt, nicht nur alte Dualismen wie Subjekt-Objekt, Natur-Kultur oder Welt-Wort im Straßengraben liegen zu lassen. Es gelingt ihr auch, ihre Erzählung ohne die alten Märchen vom kontinuierlichen Zuwachs und der Verfeinerung naturwissenschaftlichen Wissens im Laufe der Geschichte zu erzählen. Wenn die Quantenphysik in einem ganz anderen logischen Rahmen agiert, als es die Physik Newtons tat, heißt das noch lange nicht, dass die Physik Newtons "überholt" ist. Sie gilt nach wie vor in ihrem Rahmen. Der Apfel fällt immer noch vom Baum auf die Erde, wie von Newton beobachtet. Er fliegt immer noch nicht direkt in Wellen auf den Tisch eines Künstleresoterikers, der gerade festgestellt hat, dass Licht sowohl in Wellen als auch in Teilchen vorkommen kann. Wobei es zu den vielen großartigen Szenen dieser Reise gehört, wie Barad den Widerspruch zwischen Licht als Teilchen und Licht als Wellen dadurch auflöst, dass sie beide Aussagen widerspruchsfrei bestehen lässt. "Welle" und "Teilchen" sind demnach klassische Beschreibungen, die sich auf verschiedene, einander wechselseitig ausschließende Phänomene beziehen und nicht auf unabhängige, physikalische Objekte. Mit zwei einander wechselseitig ausschließenden Versuchsaufbauten kann man so sogar Licht als "Wellen" und Licht als "Teilchen" nebeneinander beobachten.
Nebenbei erklärt Barad damit auch noch den Unterschied zwischen Newtons Physik und Quantenphysik. Während bei Newton der Beobachter bedeutungslos ist, kann man die Beobachterposition in der Quantenphysik nicht unbeachtet lassen. Messen und Messmethoden sind unabdingbarer Teil der Quantentheorie. Was auch bedeutet, dass man die Theorie falsch versteht, wenn man die Praxis des Messens ignoriert. Ein Gefahrenmoment, das jedoch überall lauert. So hat der analoge Gebrauch der Quanten in Esoterik, Hollywood-Buddhismus und Kunst nicht nur schräge, sondern auch ungerechte Blüten in die Welt gesetzt. Barad weiß das, und sie weiß auch, dass die Schäden durch Esoterik und Kunst nicht einen Bruchteil dessen ausmachen, was die Atombombe als Folge der Quantenphysik angerichtet hat. Barad reagiert auf den Horror der Bombe mit einem ethischen Zug, indem sie die Physik an die Gerechtigkeit bindet und damit die Bombe und ihren sogenannten friedlichen Ableger, das Atomkraftwerk, logisch wie faktisch der Ungerechtigkeit überführt. Möglich wird ihr dies dadurch, dass sie nach "der Verkörperung von Kultur innerhalb von Theorie" fragt. Denn wie genau man die Messapparaturen einstellt, wie hoch man die Teilchenbeschleunigung auch fährt, da ist immer ein Moment der Unbestimmbarkeit, der Unentscheidbarkeit. Barad nennt das die "queere Performativität der Natur". Und sie zeigt diese Performativität an Schleimpilzen oder dem Atom. "Queer" steht hier nicht einfach für seltsam. "Was könnte queerer sein als ein Atom?", fragt Karen Barad und antwortet: "Die eigentliche Natur des Seins eines Atoms, eben seine Identität, ist Unbestimmtheit selbst."
Diese Unbestimmtheit wird besonders plastisch am Beispiel der Schleimpilze. Schleimpilze haben sich allen Versuchen erfolgreich widersetzt, sie in den klassischen Ordnungen von Tieren, Pflanzen und Pilzen unterzubringen, obwohl sie Merkmale aus all diesen Ordnungen aufweisen. Zelluläre Schleimpilze können eine Weile einzeln durch die Gegend kriechen. Sie können aber auch sozial agieren. Dann versammeln sich mehrere Schleimpilzamöben und wachsen zu bis zu 15 Meter langen Pilzen zusammen. Die Individuen dieses Körpers haben ihre Individualität zugunsten eines Gesamtorganismus aufgegeben. In diesem Fall ist dann nicht einmal mehr das Individuum mit sich selbst identisch.
CORD RIECHELMANN
Karen Barad: "Verschränkungen". Übersetzt von Jennifer Sophia Theodor. Merve, 222 Seiten, 21 Euro
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