Von der Magie, dem Unerklärlichen und der Verlorenheit einer Kindheit.Dieser Roman entfaltet einen großen Zauber. In dem arglosen Blick eines Mädchens wird die Kindheit an einem Ort lebendig, an dem Heil und Unheil Tisch an Tisch zur Sommerfrische saßen. Als es die Klosterschule verließ, endete auch die Kindheit. Aber Fotos und Erzählungen locken die Zeitstimmung und eine besondere Familiengeschichte hervor.»Es lag wohl an der vielen vergangenen Zeit, dass sie sich wesentlich entspannter über die verschüttete Milch von damals auslassen konnten.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2019Kind in der Alpenfestung
Barbara Frischmuth liest aus ihrem neuen Roman
Lange hat sie gewartet, um Distanz zu gewinnen. Jetzt hat Barbara Frischmuth einen autobiographisch grundierten Roman vorgelegt, in dem sie sich mit ihrer Kindheit im Österreich des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit auseinandersetzt. In "Verschüttete Milch" (Aufbau) erzählt die steirische Schriftstellerin, wie ein Mädchen namens Juliane in einem Hotel in Altaussee aufwächst. Bis ins letzte Kriegsjahr reichen offenbar die Erinnerungen der Autorin zurück, die gestern 78 Jahre alt geworden ist, just zum Sommerfest der Frankfurter Goethe-Universität unter dem Motto "Hessen trifft Steiermark". Kein Wunder also, dass Vizepräsident Manfred Schubert-Zsilavecz sie zu einer Lesung am Vorabend des Geburtstages eingeladen hatte und auf die Zusammenarbeit zwischen der Universität und Institutionen des österreichischen Bundeslandes aufmerksam machte.
Wolfgang Schopf, Leiter des Literaturarchivs der Hochschule und jüngst mit der Ehrendoktorwürde der Universität Oldenburg ausgezeichnet, führte kenntnisreich in Frischmuths Werk ein. Im Lesesaal des Bibliothekszentrums Geisteswissenschaften auf dem Westend-Campus hatten sich neben Lesern auch jene versammelt, die den Werdegang der Autorin einst mitbestimmten. Klaus Reichert etwa, über dessen Schreibtisch Frischmuths erstes Manuskript, "Die Klosterschule", in den späten Sechzigern zu Suhrkamp gelangte, oder Karlheinz Braun, der die Autorin nach dem dortigen Lektorenaufstand als Gesellschafterin in den Verlag der Autoren übernahm und am Lesungsabend seinen 87. Geburtstag feierte. Mit den Worten "Willkommen daheim" konnte Schopf die Autorin also angemessen begrüßen.
Altaussee hat einen ambivalenten Ruf. Das idyllische Dorf zwischen Totem Gebirge im Norden und Dachsteingebirge im Süden war als Sommerfrische bei Schriftstellern wie Wassermann, Torberg, Schnitzler und Broch ebenso beliebt wie bei Goebbels. Dort wuchs "die Kleine", wie Frischmuth ihre Protagonistin nennt, als Tochter eines Hoteliers auf, wie sie selbst, die ihren Vater 1943 im Krieg verlor. Die Mutter führte das Hotel bis 1956 weiter, da war die Tochter schon im Internat. Diesen Zeitraum umspannt auch das dreiteilige Buch, das sich aus Erinnerungen speist, aber ausdrücklich als Roman gelesen sein will, erzählt aus der Kinderperspektive, wie sie sich im Bewusstsein der Autorin über Jahrzehnte erhalten hat. Gelegentlich merkt man ihm auch an, dass unter den 118 Titeln der Verfasserin etliche Kinderbücher sind.
Das Hotel sei auch von jüdischen Wienern besucht worden, sagte Frischmuth: "Heil und Unheil sitzen Tisch an Tisch und wissen voneinander." Zum Beispiel Tante Hanna, eine leise Widerstandskämpferin, die Juden versteckte, und ihr Mann Onkel Leo, Parteimitglied und Chirurg, der den Vater der Kleinen vor der Wehrmacht versteckte. Flüchtige Kollaborateure aus dem besetzten Osteuropa sind einquartiert: Ungarn, Rumänen, Bulgaren, die vor Hunger ihre Pferde schlachten müssen, was das Kind sein Leben lang nicht vergessen wird. Höhepunkt der Lesung aber war Cousin Robi, der mit einem Lausbubenstreich zum "Saboteur" wird, indem er die Flüchtlinge einschließt und die Schlüssel versteckt.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Barbara Frischmuth liest aus ihrem neuen Roman
Lange hat sie gewartet, um Distanz zu gewinnen. Jetzt hat Barbara Frischmuth einen autobiographisch grundierten Roman vorgelegt, in dem sie sich mit ihrer Kindheit im Österreich des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit auseinandersetzt. In "Verschüttete Milch" (Aufbau) erzählt die steirische Schriftstellerin, wie ein Mädchen namens Juliane in einem Hotel in Altaussee aufwächst. Bis ins letzte Kriegsjahr reichen offenbar die Erinnerungen der Autorin zurück, die gestern 78 Jahre alt geworden ist, just zum Sommerfest der Frankfurter Goethe-Universität unter dem Motto "Hessen trifft Steiermark". Kein Wunder also, dass Vizepräsident Manfred Schubert-Zsilavecz sie zu einer Lesung am Vorabend des Geburtstages eingeladen hatte und auf die Zusammenarbeit zwischen der Universität und Institutionen des österreichischen Bundeslandes aufmerksam machte.
Wolfgang Schopf, Leiter des Literaturarchivs der Hochschule und jüngst mit der Ehrendoktorwürde der Universität Oldenburg ausgezeichnet, führte kenntnisreich in Frischmuths Werk ein. Im Lesesaal des Bibliothekszentrums Geisteswissenschaften auf dem Westend-Campus hatten sich neben Lesern auch jene versammelt, die den Werdegang der Autorin einst mitbestimmten. Klaus Reichert etwa, über dessen Schreibtisch Frischmuths erstes Manuskript, "Die Klosterschule", in den späten Sechzigern zu Suhrkamp gelangte, oder Karlheinz Braun, der die Autorin nach dem dortigen Lektorenaufstand als Gesellschafterin in den Verlag der Autoren übernahm und am Lesungsabend seinen 87. Geburtstag feierte. Mit den Worten "Willkommen daheim" konnte Schopf die Autorin also angemessen begrüßen.
Altaussee hat einen ambivalenten Ruf. Das idyllische Dorf zwischen Totem Gebirge im Norden und Dachsteingebirge im Süden war als Sommerfrische bei Schriftstellern wie Wassermann, Torberg, Schnitzler und Broch ebenso beliebt wie bei Goebbels. Dort wuchs "die Kleine", wie Frischmuth ihre Protagonistin nennt, als Tochter eines Hoteliers auf, wie sie selbst, die ihren Vater 1943 im Krieg verlor. Die Mutter führte das Hotel bis 1956 weiter, da war die Tochter schon im Internat. Diesen Zeitraum umspannt auch das dreiteilige Buch, das sich aus Erinnerungen speist, aber ausdrücklich als Roman gelesen sein will, erzählt aus der Kinderperspektive, wie sie sich im Bewusstsein der Autorin über Jahrzehnte erhalten hat. Gelegentlich merkt man ihm auch an, dass unter den 118 Titeln der Verfasserin etliche Kinderbücher sind.
Das Hotel sei auch von jüdischen Wienern besucht worden, sagte Frischmuth: "Heil und Unheil sitzen Tisch an Tisch und wissen voneinander." Zum Beispiel Tante Hanna, eine leise Widerstandskämpferin, die Juden versteckte, und ihr Mann Onkel Leo, Parteimitglied und Chirurg, der den Vater der Kleinen vor der Wehrmacht versteckte. Flüchtige Kollaborateure aus dem besetzten Osteuropa sind einquartiert: Ungarn, Rumänen, Bulgaren, die vor Hunger ihre Pferde schlachten müssen, was das Kind sein Leben lang nicht vergessen wird. Höhepunkt der Lesung aber war Cousin Robi, der mit einem Lausbubenstreich zum "Saboteur" wird, indem er die Flüchtlinge einschließt und die Schlüssel versteckt.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Das Buch erzählt von der Magie, dem Unerklärlichen und der Verlorenheit einer Kindheit.« Der neue Tag 20190910