Mikael Blomkvist steht vor einer Entscheidung. Böse Zungen behaupten, er sei nicht länger der Journalist, der er einst war. Lisbeth Salander hingegen ist aktiv wie eh und je. Die Wege kreuzen sich, als Frans Balder, einer der weltweit führenden Experten für künstliche Intelligenz, ermordet wird. Kurz vor seinem Tod hatte er Mikael Blomkvist brisante Informationen versprochen. Als Blomkvist erfährt, dass Balder auch in Kontakt zu Lisbeth Salander stand, nimmt er die Recherche auf. Die Spur führt zu einem amerikanischen Softwarekonzern, der mit der NSA verknüpft ist. Mikael Blomkvist wittert seine Chance, die Enthüllungsstory zu schreiben, die er so dringend braucht. Doch wie immer verfolgt Lisbeth Salander ihre ganz eigene Agenda.
Der Mann, der auch schon Zlatan war
David Lagercrantz hat Stieg Larssons "Millennium"-Trilogie fortgeschrieben. Die Frage dabei ist nicht, ob er das darf, sondern ob er es kann
Ist ja gut, hätte man am liebsten gerufen, es ist doch nur eine Marketing-Kampagne für ein neues Buch und kein Kreuzzug der Moral. Klar, nicht für irgendein Buch, aber auch nicht für den Megatonnenroman. Das Streitobjekt? David Lagercrantz' Roman "Verschwörung", die Fortschreibung der "Millennium"-Trilogie um Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist, die eine Auflage von mehr als 80 Millionen hat (und in Deutschland unter den Titeln "Verblendung", "Verdammnis", "Vergebung" erschien). Darf sie von einem anderen Autor fortgesetzt werden, nachdem ihr Erfinder Stieg Larsson schon 2004, noch vor Erscheinen des ersten Bandes, gestorben war?
Um keinen Preis, sagen die einen, das sei "Grabraub", aus Profitgier werde das Andenken des aufrechten linken Journalisten Larsson mit Füßen getreten - und Vater und Bruder des Verstorbenen spielten als Inhaber der Markenrechte bei diesem Spiel auch noch mit. Eva Gabrielsson, die mehr als dreißig Jahre mit Larsson zusammenlebte, aber, da unverheiratet, nach schwedischem Recht leer ausging, sagte, sie habe es nicht fassen können, als sie von der geplanten Fortsetzung erfuhr. Mit den Erben hat sie über die Jahre keine finanzielle Einigung erzielen können; deren Angebote fand sie unannehmbar. Und Lagercrantz ist für sie eine "völlig idiotische Wahl".
Kann man die Reaktion der Witwe, die vor dem Gesetz keine sein darf, noch verstehen, fällt das deutlich schwerer, wenn der unbeteiligte Schriftsteller Jussi Adler-Olsen in der dänischen Zeitung "Politiken" zu drastischen Maßnahmen aufruft: "Ich fordere dazu auf, dieses Buch zu boykottieren, und ich werde es nicht lesen", schrieb Olsen, so als klebe Blut an dem Werk, als sei es Produkt ausbeuterischer Kinderarbeit und schon die Lektüre moralisch verwerflich. Vom Gratismut der Hypermoral mal abgesehen, ist das eine abwegige Haltung: öffentlich zum Boykott eines Kollegen und eines Buches aufzufordern, das man nicht mal gelesen hat. Leuten wie Adler-Olsen scheint dabei auch zu entgehen, dass sie durch den fruchtlosen Protest gegen ein längst in 26 Ländern erschienenes Buch nur dazu beitragen, die Aufmerksamkeit für das Produkt noch zu steigern.
Der Purismus macht es sich immer leicht. Als vor Jahren, nur zum Beispiel, Robert B. Parker ein unvollendetes Manuskript ("Poodle Springs") von Raymond Chandler "vollendete" und dann auch noch eine "Fortsetzung" zu "Der große Schlaf" ("Perchance to Dream") produzierte, war der Aufschrei groß. Die Empörung ebbte ebenso rasch wieder ab, denn weder war Parkers Arbeit so unterirdisch, noch hat sie Chandlers Status irgendwie beeinträchtigt.
Was jedoch entscheidender ist: Auch im Fall Larsson-Lagercrantz handelt es sich um eine typische Double-Bind-Situation für Fans und Verehrer. Dem unwiderruflichen Abschluss eines Werks durch den Tod des Autors steht die kaum begründete, aber unverwüstliche Hoffnung gegenüber, von irgendwoher möge doch noch ein Manuskript auftauchen, ein paar Skizzen wenigstens. Es soll unbedingt weitergehen - aber nur durch den Verstorbenen selbst. Die Agenten des Kommerzes finden dafür eine pragmatische Therapie, von der sie selbst am meisten profitieren: Sie verpflichten jemanden, der dem Bedürfnis nach Mehr entspricht. Hieß es denn nicht auch, Larsson habe noch ein halbes Dutzend weiterer "Millennium"-Bände zu schreiben geplant? Hier ist es nun so, dass David Lagercrantz für diesen Roman, der "Det som inte dödar oss" (Was uns nicht tötet) heißt oder auch "The Girl in the Spider's Web" oder eben: "Verschwörung", nicht mal Material aus dem Nachlass von Larsson benutzt hat; Material, von dem allerdings weder bekannt ist, wo es sich befindet, bei seiner Lebensgefährtin oder den Erben, noch, ob es überhaupt existiert und nicht bloß ein hartnäckiges Gerücht ist. Lagercrantz, 53, war vielleicht nicht der nächstliegende Kandidat für den Job. Der Mann, der als Ghostwriter dem so begnadeten wie großmäuligen schwedischen Fußballer Zlatan Ibrahimovic zu einer hübsch gestylten Vom-Ghettokid-zum-unangepassten-Weltstar-Biographie verhalf, die sich allein im kleinen Schweden eine halbe Million Mal verkaufte, dieser Mann hat jedoch die Rolle angenommen, die man erwartet. Bei der Pressekonferenz gab er sich demütig als Zwerg auf den Schultern eines Riesen und sagte, er sei "beschwingt und zugleich von Albträumen geplagt gewesen", Lisbeth Salander werde sich rächen, wenn er seine Arbeit nicht anständig mache.
Er habe sich an den Computer gesetzt und versucht, sich in den Larsson-Modus zu versetzen. Wenn einer schon Zlatan war, dürfte das machbar gewesen sein. Und ein bisschen wird er wohl auch Mikael Blomkvist gewesen sein, denn Blomkvist und seine Zeitschrift "Millennium" waren ja eine Art idealisiertes Selbstporträt von Stieg Larsson. Ganz abgesehen davon, dass man den Markenkern, die rund 2000 Seiten der Trilogie, nicht einfach ignorieren kann.
Dann gibt es ja auch noch die Verfilmungen, die überwiegend fürs Fernsehen entstandene europäische Trilogie und die Adaption von "Verblendung" durch David Fincher. Die Hauptdarstellerin der europäischen Version, Noomi Rapace, ist zum Gesicht von Lisbeth Salander geworden, obwohl sie eigentlich viel zu groß ist, um die im Roman 1,50 Meter große und 40 Kilogramm schwere Punkerin-Rächerin-Superhackerin zu verkörpern. Und man sollte nicht unterschätzen, wie stark eine solche mediale Verbreitung das kollektive Gedächtnis prägt und rückwirkend auch die Welt der Romane - und sei es, dass Fans und Leser die Bildwerdung ihrer Helden auf das Heftigste zurückweisen
Wie leicht abzusehen war, ist "Verschwörung" kein literarischer Quantensprung. Schon Larsson wurde von einigen Kritikern abgekanzelt für seinen schlichten Stil und für die wirklich schwer erträgliche Redundanz, die einen händeringend um einen Lektor flehen ließ. Auch Lagercrantz macht es nicht unter 600 Seiten (in deutscher Übersetzung), und die Eleganz des schlanken, lakonischen Erzählens ist nicht sein Programm. Sein Stil wirkt, im Gegensatz zu Larssons glanzloser und manchmal umständlicher Prosa, mitunter blumig und mit leichten lyrischen Duftnoten parfümiert - "das schwarze Herz hinter ihrem brennenden Rachedurst" -, aber deshalb nicht weniger redundant. Und seine mitunter praktizierte Schuss-Gegenschuss-Technik sorgt bloß für sinnlose Verdoppelung, wenn ein Vorgang erst aus der Sicht der einen, dann aus der Sicht der zweiten beteiligten Person beschrieben wird, ohne dass sich eine signifikante Abweichung in den Wahrnehmungen erkennen ließe.
Aber taugt der Plot wenigstens was? Passt er zu den Figuren, die Larsson entwickelt hat? Gibt es grobe Verzerrungen? Lagercrantz ist natürlich weder Grabschänder noch Innovator. Routiniert setzt er die obligaten Cliffhanger, um die Spannung zu halten. Es wimmelt von trivialpsychologischen Erklärungen und einigen ziemlich platten dramaturgischen Konstruktionen. Aber er hat sich den Bauplan der Trilogie genau angeschaut, denn darum ging es ja: in dem weitläufigen Gebäude von Larssons Werk noch leere Räume zu entdecken, übersehene Tapetentüren oder ungenutzte Keller.
Ausgegraben hat er Camilla, ihrer Zwillingsschwester Lisbeth in tiefer Feindschaft verbunden. Dazu tauchen, ganz serienkonform, fast alle wichtigen Akteure von früher auf, vom Kommissar Bublanski und seinem Stab über "Millennium"-Chefredakteurin Erika Berger bis zu Holger Palmgren, Lisbeths einstigem Vormund. Die Elemente der Story sind zwar nicht so wahnsinnig originell gewählt, aber es sind auch keine abwegigen Zutaten.
Die NSA ins Spiel zu bringen, die jeder in den letzten Jahren als das allgegenwärtige Auge kennengelernt hat, dazu die Big-Data-Bedrohung mit den Themen Künstliche Intelligenz und neuronale Netze zu kombinieren, liegt ja nahe, wenn man schon ein Superbrain wie Lisbeth im Team hat. Namen wie Ray Kurzweil werden beiläufig eingestreut, die Cyberkriminalität ergibt sich ganz von selber. Als modisches Accessoire macht es sich auch gut, dass der achtjährige Sohn des KI-Forschers am Asperger-Syndrom leidet und deshalb zu phänomenalen Dingen fähig ist.
Und wenn man weiß, wie es um die Printmedien steht, nicht nur um linke Zeitschriften wie "Millennium", muss es natürlich kriseln, auch bei Blomkvist persönlich, der den Comeback-Coup sucht und trotz aller Anstrengungen bei Lagercrantz noch mehr verblasst als bei Stieg Larsson.
Für "All das Böse", wie es bei Larsson so schön hieß, ist Lisbeths Schwester zuständig, die sich Thanos nennt, was ins Universum der Marvel-Comics weist, aber auch in die griechische Mythologie zu Thanatos. Sie wird ausgestattet mit computeraffinen Schergen, eher analog operierenden Schlägern und dieser mysteriösen Ungreifbarkeit, die schon den Trilogie-Schurken Zalatschenko auszeichnete und die vor allem das Potential fürs Sequel in sich trägt.
Vorfreude und Lektürespaß sollte man nicht verderben, indem man hier mehr verrät. Man kann das Buch lesen, kann es aber auch lassen, weil es einem, wenn man ohnehin häufiger Kriminalromane liest, vorkommt wie ein aus zahllosen alten Teilen zusammengeschraubter Gebrauchtwagen: fahrtüchtig, aber eben nicht viel mehr. Dem Genre fügt das Buch nicht nur nichts hinzu, wie es Larsson mit der Figur der Lisbeth Salander gelungen ist; es bleibt in Präzision, Kompaktheit und Spannungsaufbau sogar eher hinter den internationalen erzählerischen Standards zurück.
Über Datenspionage, Geheimdienste und die NSA schreibt zurzeit die Realität eh die besseren Szenarien, der Bedarf an Schwedenkrimis ist mittlerweile wohl rückläufig, und die Strahlkraft des Duos Blomkvist-Salander ist dann irgendwann auch verbraucht. Schon mit "Vergebung" hatte sich ja im Grunde auf ganz einleuchtende Weise ein erzählerischer Bogen vollendet.
Ob Larsson selbst nach dieser Closure einen fulminanten Neustart geschafft hätte, kann man mit guten Gründen bezweifeln. Das Wort "auserzählt" klingt zwar nicht besonders schön, trifft es aber. Und wenn das Ende der Trilogie damals auch viele Leser auf Entzug setzte und verzweifelt auf neuen Stoff hoffen ließ - mittlerweile sollte der Entzug erfolgreich gewesen sein. Rückfallgefahr besteht jedenfalls nicht, wenn man "Verschwörung" liest.
PETER KÖRTE
David Lagercrantz: "Verschwörung". Roman. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Heyne, 608 Seiten, 22,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
David Lagercrantz hat Stieg Larssons "Millennium"-Trilogie fortgeschrieben. Die Frage dabei ist nicht, ob er das darf, sondern ob er es kann
Ist ja gut, hätte man am liebsten gerufen, es ist doch nur eine Marketing-Kampagne für ein neues Buch und kein Kreuzzug der Moral. Klar, nicht für irgendein Buch, aber auch nicht für den Megatonnenroman. Das Streitobjekt? David Lagercrantz' Roman "Verschwörung", die Fortschreibung der "Millennium"-Trilogie um Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist, die eine Auflage von mehr als 80 Millionen hat (und in Deutschland unter den Titeln "Verblendung", "Verdammnis", "Vergebung" erschien). Darf sie von einem anderen Autor fortgesetzt werden, nachdem ihr Erfinder Stieg Larsson schon 2004, noch vor Erscheinen des ersten Bandes, gestorben war?
Um keinen Preis, sagen die einen, das sei "Grabraub", aus Profitgier werde das Andenken des aufrechten linken Journalisten Larsson mit Füßen getreten - und Vater und Bruder des Verstorbenen spielten als Inhaber der Markenrechte bei diesem Spiel auch noch mit. Eva Gabrielsson, die mehr als dreißig Jahre mit Larsson zusammenlebte, aber, da unverheiratet, nach schwedischem Recht leer ausging, sagte, sie habe es nicht fassen können, als sie von der geplanten Fortsetzung erfuhr. Mit den Erben hat sie über die Jahre keine finanzielle Einigung erzielen können; deren Angebote fand sie unannehmbar. Und Lagercrantz ist für sie eine "völlig idiotische Wahl".
Kann man die Reaktion der Witwe, die vor dem Gesetz keine sein darf, noch verstehen, fällt das deutlich schwerer, wenn der unbeteiligte Schriftsteller Jussi Adler-Olsen in der dänischen Zeitung "Politiken" zu drastischen Maßnahmen aufruft: "Ich fordere dazu auf, dieses Buch zu boykottieren, und ich werde es nicht lesen", schrieb Olsen, so als klebe Blut an dem Werk, als sei es Produkt ausbeuterischer Kinderarbeit und schon die Lektüre moralisch verwerflich. Vom Gratismut der Hypermoral mal abgesehen, ist das eine abwegige Haltung: öffentlich zum Boykott eines Kollegen und eines Buches aufzufordern, das man nicht mal gelesen hat. Leuten wie Adler-Olsen scheint dabei auch zu entgehen, dass sie durch den fruchtlosen Protest gegen ein längst in 26 Ländern erschienenes Buch nur dazu beitragen, die Aufmerksamkeit für das Produkt noch zu steigern.
Der Purismus macht es sich immer leicht. Als vor Jahren, nur zum Beispiel, Robert B. Parker ein unvollendetes Manuskript ("Poodle Springs") von Raymond Chandler "vollendete" und dann auch noch eine "Fortsetzung" zu "Der große Schlaf" ("Perchance to Dream") produzierte, war der Aufschrei groß. Die Empörung ebbte ebenso rasch wieder ab, denn weder war Parkers Arbeit so unterirdisch, noch hat sie Chandlers Status irgendwie beeinträchtigt.
Was jedoch entscheidender ist: Auch im Fall Larsson-Lagercrantz handelt es sich um eine typische Double-Bind-Situation für Fans und Verehrer. Dem unwiderruflichen Abschluss eines Werks durch den Tod des Autors steht die kaum begründete, aber unverwüstliche Hoffnung gegenüber, von irgendwoher möge doch noch ein Manuskript auftauchen, ein paar Skizzen wenigstens. Es soll unbedingt weitergehen - aber nur durch den Verstorbenen selbst. Die Agenten des Kommerzes finden dafür eine pragmatische Therapie, von der sie selbst am meisten profitieren: Sie verpflichten jemanden, der dem Bedürfnis nach Mehr entspricht. Hieß es denn nicht auch, Larsson habe noch ein halbes Dutzend weiterer "Millennium"-Bände zu schreiben geplant? Hier ist es nun so, dass David Lagercrantz für diesen Roman, der "Det som inte dödar oss" (Was uns nicht tötet) heißt oder auch "The Girl in the Spider's Web" oder eben: "Verschwörung", nicht mal Material aus dem Nachlass von Larsson benutzt hat; Material, von dem allerdings weder bekannt ist, wo es sich befindet, bei seiner Lebensgefährtin oder den Erben, noch, ob es überhaupt existiert und nicht bloß ein hartnäckiges Gerücht ist. Lagercrantz, 53, war vielleicht nicht der nächstliegende Kandidat für den Job. Der Mann, der als Ghostwriter dem so begnadeten wie großmäuligen schwedischen Fußballer Zlatan Ibrahimovic zu einer hübsch gestylten Vom-Ghettokid-zum-unangepassten-Weltstar-Biographie verhalf, die sich allein im kleinen Schweden eine halbe Million Mal verkaufte, dieser Mann hat jedoch die Rolle angenommen, die man erwartet. Bei der Pressekonferenz gab er sich demütig als Zwerg auf den Schultern eines Riesen und sagte, er sei "beschwingt und zugleich von Albträumen geplagt gewesen", Lisbeth Salander werde sich rächen, wenn er seine Arbeit nicht anständig mache.
Er habe sich an den Computer gesetzt und versucht, sich in den Larsson-Modus zu versetzen. Wenn einer schon Zlatan war, dürfte das machbar gewesen sein. Und ein bisschen wird er wohl auch Mikael Blomkvist gewesen sein, denn Blomkvist und seine Zeitschrift "Millennium" waren ja eine Art idealisiertes Selbstporträt von Stieg Larsson. Ganz abgesehen davon, dass man den Markenkern, die rund 2000 Seiten der Trilogie, nicht einfach ignorieren kann.
Dann gibt es ja auch noch die Verfilmungen, die überwiegend fürs Fernsehen entstandene europäische Trilogie und die Adaption von "Verblendung" durch David Fincher. Die Hauptdarstellerin der europäischen Version, Noomi Rapace, ist zum Gesicht von Lisbeth Salander geworden, obwohl sie eigentlich viel zu groß ist, um die im Roman 1,50 Meter große und 40 Kilogramm schwere Punkerin-Rächerin-Superhackerin zu verkörpern. Und man sollte nicht unterschätzen, wie stark eine solche mediale Verbreitung das kollektive Gedächtnis prägt und rückwirkend auch die Welt der Romane - und sei es, dass Fans und Leser die Bildwerdung ihrer Helden auf das Heftigste zurückweisen
Wie leicht abzusehen war, ist "Verschwörung" kein literarischer Quantensprung. Schon Larsson wurde von einigen Kritikern abgekanzelt für seinen schlichten Stil und für die wirklich schwer erträgliche Redundanz, die einen händeringend um einen Lektor flehen ließ. Auch Lagercrantz macht es nicht unter 600 Seiten (in deutscher Übersetzung), und die Eleganz des schlanken, lakonischen Erzählens ist nicht sein Programm. Sein Stil wirkt, im Gegensatz zu Larssons glanzloser und manchmal umständlicher Prosa, mitunter blumig und mit leichten lyrischen Duftnoten parfümiert - "das schwarze Herz hinter ihrem brennenden Rachedurst" -, aber deshalb nicht weniger redundant. Und seine mitunter praktizierte Schuss-Gegenschuss-Technik sorgt bloß für sinnlose Verdoppelung, wenn ein Vorgang erst aus der Sicht der einen, dann aus der Sicht der zweiten beteiligten Person beschrieben wird, ohne dass sich eine signifikante Abweichung in den Wahrnehmungen erkennen ließe.
Aber taugt der Plot wenigstens was? Passt er zu den Figuren, die Larsson entwickelt hat? Gibt es grobe Verzerrungen? Lagercrantz ist natürlich weder Grabschänder noch Innovator. Routiniert setzt er die obligaten Cliffhanger, um die Spannung zu halten. Es wimmelt von trivialpsychologischen Erklärungen und einigen ziemlich platten dramaturgischen Konstruktionen. Aber er hat sich den Bauplan der Trilogie genau angeschaut, denn darum ging es ja: in dem weitläufigen Gebäude von Larssons Werk noch leere Räume zu entdecken, übersehene Tapetentüren oder ungenutzte Keller.
Ausgegraben hat er Camilla, ihrer Zwillingsschwester Lisbeth in tiefer Feindschaft verbunden. Dazu tauchen, ganz serienkonform, fast alle wichtigen Akteure von früher auf, vom Kommissar Bublanski und seinem Stab über "Millennium"-Chefredakteurin Erika Berger bis zu Holger Palmgren, Lisbeths einstigem Vormund. Die Elemente der Story sind zwar nicht so wahnsinnig originell gewählt, aber es sind auch keine abwegigen Zutaten.
Die NSA ins Spiel zu bringen, die jeder in den letzten Jahren als das allgegenwärtige Auge kennengelernt hat, dazu die Big-Data-Bedrohung mit den Themen Künstliche Intelligenz und neuronale Netze zu kombinieren, liegt ja nahe, wenn man schon ein Superbrain wie Lisbeth im Team hat. Namen wie Ray Kurzweil werden beiläufig eingestreut, die Cyberkriminalität ergibt sich ganz von selber. Als modisches Accessoire macht es sich auch gut, dass der achtjährige Sohn des KI-Forschers am Asperger-Syndrom leidet und deshalb zu phänomenalen Dingen fähig ist.
Und wenn man weiß, wie es um die Printmedien steht, nicht nur um linke Zeitschriften wie "Millennium", muss es natürlich kriseln, auch bei Blomkvist persönlich, der den Comeback-Coup sucht und trotz aller Anstrengungen bei Lagercrantz noch mehr verblasst als bei Stieg Larsson.
Für "All das Böse", wie es bei Larsson so schön hieß, ist Lisbeths Schwester zuständig, die sich Thanos nennt, was ins Universum der Marvel-Comics weist, aber auch in die griechische Mythologie zu Thanatos. Sie wird ausgestattet mit computeraffinen Schergen, eher analog operierenden Schlägern und dieser mysteriösen Ungreifbarkeit, die schon den Trilogie-Schurken Zalatschenko auszeichnete und die vor allem das Potential fürs Sequel in sich trägt.
Vorfreude und Lektürespaß sollte man nicht verderben, indem man hier mehr verrät. Man kann das Buch lesen, kann es aber auch lassen, weil es einem, wenn man ohnehin häufiger Kriminalromane liest, vorkommt wie ein aus zahllosen alten Teilen zusammengeschraubter Gebrauchtwagen: fahrtüchtig, aber eben nicht viel mehr. Dem Genre fügt das Buch nicht nur nichts hinzu, wie es Larsson mit der Figur der Lisbeth Salander gelungen ist; es bleibt in Präzision, Kompaktheit und Spannungsaufbau sogar eher hinter den internationalen erzählerischen Standards zurück.
Über Datenspionage, Geheimdienste und die NSA schreibt zurzeit die Realität eh die besseren Szenarien, der Bedarf an Schwedenkrimis ist mittlerweile wohl rückläufig, und die Strahlkraft des Duos Blomkvist-Salander ist dann irgendwann auch verbraucht. Schon mit "Vergebung" hatte sich ja im Grunde auf ganz einleuchtende Weise ein erzählerischer Bogen vollendet.
Ob Larsson selbst nach dieser Closure einen fulminanten Neustart geschafft hätte, kann man mit guten Gründen bezweifeln. Das Wort "auserzählt" klingt zwar nicht besonders schön, trifft es aber. Und wenn das Ende der Trilogie damals auch viele Leser auf Entzug setzte und verzweifelt auf neuen Stoff hoffen ließ - mittlerweile sollte der Entzug erfolgreich gewesen sein. Rückfallgefahr besteht jedenfalls nicht, wenn man "Verschwörung" liest.
PETER KÖRTE
David Lagercrantz: "Verschwörung". Roman. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Heyne, 608 Seiten, 22,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main