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Erzähle, bitte!
Wir erzählen einander Geschichten. Permanent. Warum tun wir das?
Ein Freundeskreis, ein fester Kern, einige lose Bekannte. Von ihnen allen lässt sich Daniela Geschichten vom Verschwinden erzählen. Gustav erzählt ihr von einer Frau, die auf offner Strecke aus dem Zug steigt, Josepha vom Riesen auf einer Nordseeinsel, eine nervöse Dame beichtet einen Anschlag auf das Christkind, und Olga ist verzweifelt, weil in ihrer Wohnung eingebrochen wurde, man hat ihr den Laptop gestohlen, nun ist alles weg, ihre Adressen, ihre Mails, alle ihre Aufzeichnungen. Auch die Beamten der…mehr

Produktbeschreibung
Erzähle, bitte!

Wir erzählen einander Geschichten. Permanent. Warum tun wir das?

Ein Freundeskreis, ein fester Kern, einige lose Bekannte. Von ihnen allen lässt sich Daniela Geschichten vom Verschwinden erzählen. Gustav erzählt ihr von einer Frau, die auf offner Strecke aus dem Zug steigt, Josepha vom Riesen auf einer Nordseeinsel, eine nervöse Dame beichtet einen Anschlag auf das Christkind, und Olga ist verzweifelt, weil in ihrer Wohnung eingebrochen wurde, man hat ihr den Laptop gestohlen, nun ist alles weg, ihre Adressen, ihre Mails, alle ihre Aufzeichnungen. Auch die Beamten der Spurensicherung glauben an die Endgültigkeit dieses Verschwindens. Konrad erzählt von Isolde, deren neuer Freund, in den sie sich so sehr verliebt hatte, plötzlich und ohne Ankündigung vom Erdboden verschluckt zu sein scheint.

Daniela kommt nicht mehr hinaus in die Welt, ist also angewiesen auf die Erlebnisse anderer. Oder ist das vielleicht nur ein Vorwand? Versucht Daniela in Wahrheit mit den Geschichten vom Verschwinden gegen das Verschwinden anzukämpfen? Denn nichts ist unheimlicher als die Lücke, die jemand hinterlässt, der verschwindet. Bald reden und schreiben alle nur noch vom Verschwinden. Das hat Daniela erreicht. Mit radikalen Auswirkungen.
Autorenporträt
Silvia Bovenschen, 1946-2017, lebte als Literaturwissenschaftlerin und Essayistin in Berlin. 2000 wurde sie mit dem "Roswitha Preis" der Stadt Gandersheim und dem "Johann-Heinrich-Merck-Preis" der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. 2007 erhielt Silvia Bovenschen den "Ernst-Robert-Curtis-Preis" für Essayistik und 2014 wurde sie mit dem "Bayerischen Buchpreis" in der Kategorie Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2008

Einszweidreivier Eckstein, alles muss versteckt sein
Hinter mir, da gilt es nicht: Silvia Bovenschens vertracktes Versteckspiel "Verschwunden" / Von Rose-Maria Gropp

Es beginnt mit einer "Vorbemerkung", die alles in sich hat. Darin erklärt eine gewisse Daniela Listmann, was jetzt folgen wird: "Das vorliegende Buch versammelt Erzählungen, die ich meinen Freunden abnötigte. Vom Verschwinden sollte in beliebiger Weise die Rede sein. Das war meine Vorgabe." Damit verschwindet zugleich das Ich der Daniela Listmann aus ihrem Buch, jedoch nur beinah. Denn zweimal wird sie schon noch selbst erscheinen, einmal davon spät im Buch mit der Parabel über eine gewisse Molly, "einer Geschichte, die ich mir selbst erzähle"; aber dann ist schon fast vergessen, wer da spricht.

Daniela Listmanns Ich geht von nun an ein in die Reden über sie, wie sie ihre Freunde in ihre Geschichten einflechten, und diese Erwähnungen sind nicht nur freundlich, sondern liefern Splitter einer eigensinnigen, auch herrischen Person. Hat sich doch Daniela Listmann in einer "Erklärung" schriftlich bescheinigen lassen, dass jeder ihrer Freunde ihr seine Geschichte schenkt, die sie aufzeichnet mit ihrem Gerät, und dass sie selbst, als "die Autorin", dann völlig frei darüber verfügen, sie verwerfen und nach Belieben verändern darf; ein fataler Kontrakt: Wen kümmert's, wer spricht?

Dem Nachnamen ist ja auf simple Weise das listige Vorgehen eingeschrieben. Das konstatiert in einem "Vorher", einer Art Vorspiel auf dem Theater, ehe die Erzählungen der anderen überhaupt einsetzen, eine "Bea" einem "Anton" gegenüber in arrogant warnender Form. Diese Bea zitiert da Daniela selbst, wie sie "von der fiesen Berechnung der Behinderten spricht" - von sich nämlich, da sie im Rollstuhl sitzt. Doch Danielas Rache an Beas trivialer Psychologie war zuerst da; Daniela wollte nie eine Geschichte von Bea hören - schlimme Zurückweisung, seit Samuel Beckett sprichwörtlich tiefste Kränkung des Anspruchs, den ein Anderer stellen und erhoffen kann. Als Bea sich ihr dennoch aufzudrängen versucht in einem "Erzählversuch" mit einer Rechenschaft von angeblich "existentieller" Bedeutung, erteilt ihr Daniela eine eiskalte Abfuhr. Sie schildert das einem "Konrad" am Telefon, an jener zweiten Stelle eben, für die sie ihr Ich im Buch benötigt: Bea habe sich ihr "narrativ feilgeboten", sagt sie, ein bitterböses Verdikt, eine Formulierung, die scharfkantig glitzert. Doch von nun an werden die Geschichten der Anderen, der Freunde, das endgültige Verschwinden umzingeln und streicheln, bedauern und feststellen, betrauern und manchmal hinnehmen: Es wird hell, wenn jemand spricht.

Unter dem Alias Daniela Listmann also, einer ersten Maske, der ein Dutzend weitere Maskeraden folgen, eröffnet Silvia Bovenschen ihr mutwilliges Satyrspiel auf jene Fundamentalkritik jeglicher Autorschaft, die der Philosoph Michel Foucault 1969 in einem seiner berühmtesten Texte formuliert hat. Sie tut das in einer beiläufigen, gewissermaßen nachlässigen Paraphrase. Die theoretische Untergründung muss ohnehin kein Leser kennen; es reicht, was dieses Stück Literatur da anzettelt. Ein vertracktes Versteckspiel wird inszeniert.

Man liest das atemlos und zunehmend angegriffen, ergriffen; das geht so: Figuren, Frauen und Männer, treten auf, meistens mehrfach, in Varianten oder Fortsetzungen ihrer Reden, deren Vornamen die Anfangsbuchstaben A bis O tragen - von Anton bis Olga. Das A und O des Menschlichen ist doch zweierlei: das Sprechen und der Verlust. Sie alle berichten vom Verschwinden, genauer: vom Verschwundenbleiben, das sich nicht begreifen lässt.

Ihre Geschichten sind banal und unglaublich, lächerlich und tragisch. Alles Mögliche bleibt ein für alle Male weg: ein Laptop oder ein Ring, ein Spielgefährte oder ein Elternhaus im Traum, eine Frau oder ein Mann (der "Psychologe", Fachmann für das Verschwinden, der immer wieder auftaucht, sei dem Leser als lachhafte Beute überlassen). Sie erzählen die Geschichten in ganz verschiedenen Stilen. Ist das ihr je eigener Stil? Oder der Stil, den Daniela Listmann, die allmächtige Autorin, für jeden Einzelnen gefunden hat, den sie sich aneignet? Hier funkelt die Kunstfertigkeit der Silvia Bovenschen, die den Leser fesselt an die Phantasie vom logischen Fortgang einer Handlung, der doch möglich sein müsste. Sie legt Fährten aus. Man schnürt um die Zusammenhänge wie ein Fuchs um seine Beute, gebannt von dem Gedanken, ein Sinn habe zu entstehen in diesem diffusen Erzählen. Man ahnt, dass es eine Chronologie gibt, nur, um zu erkennen, dass sie mutwillig aufgebrochen wird. Man fängt an, dem Erzählen der Freunde das Alphabet zu unterlegen; doch da fehlt ein "H" als Vorname. Warum nur? Ob das fehlende H womöglich eine Hommage an jenen Hugo von Hofmannsthal ist, der in seinem "Brief des Lord Chandos" die Worte für alles Wirkliche im Mund wie modrige Pilze zerfallen ließ? Man traut dieses weggelassene H der Autorin zu, die sich, schon in der "Vorbemerkung", die todesnahen Niederschriften ihrer Freundin Celia im Tagebuch gesichert hat für ihr Buch, neben den hysterischen Monologen ihrer Freundin Frederike. Ja, C(elia) und F(rederike) sind nah bei D(aniela); die eine als innere Stimme, die andere als andere Stimme der Autorin. Dazwischen nur ein E, vertreten von einem "Eduard", dem die erste und die letzte Geschichte des Buchs eingeräumt sind, die menschenwärmsten Rechenschaften überhaupt. Wer kennte ihn nicht, jenen am Ende einfach eingeschlafenen Eduard aus Goethes "Wahlverwandtschaften"?

Doch dies alles ist womöglich Trug, die Gewalt der Interpretation. Denn es gibt keine Evidenzen der gemeinen Art in Silvia Bovenschens neuem Buch. Und der fremde "Rufer" auf der Straße, der mit seinen zotigen Einlassungen stets bei Celia ist, bis sie in ihr Tagebuch am 13. März 2007 notiert "Die letzte Mitteilung an mich: Ich werde heute nicht mehr sein" - hat nur Celia ihn gehört?

Mit ihrem neuen Buch schließt Silvia Bovenschen, gleichsam auf einer Benutzeroberfläche, an ihren vorigen Bestseller "Älter werden" an, den sie "Notizen" untertitelte und "meinen Freunden" widmete. Mit "Verschwunden" wird es jedoch ernst. Dieses Buch macht die Probe aufs Exempel, ob seiner Verfasserin das Ich aus dem eigenen Körper auszutreiben ist. Silvia Bovenschen hat in "Älter werden" ihre frühe Erkrankung an Multipler Sklerose offengelegt, der sie seit Jahrzehnten trotzt. Jetzt bringt sie den Tod ins Spiel. Man muss dieses Buch aushalten, so, wie Silvia Bovenschen selbst es ausgehalten hat. Es ist eine Kampfansage an die Feigheit, eine Liebeserklärung an das Leben.

Silvia Bovenschen: "Verschwunden". S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008. 166 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Für Andrea Köhler verwischen in ihrer Besprechung von Silvia Bovenschens "Verschwunden" die Grenzen zwischen Autorin und Erzählerin. Die an multipler Sklerose erkrankte Schriftstellerin findet sie in Daniela Listmann wieder, der Frau, die in diesem Buch ihre Freunde dazu bringt, ihr Geschichten vom Verschwinden zu erzählen, kleinen Verlusten und großen. Eine wie Bovenschen an ihre Wohnung 'gefesselte' Frau wird zur Sammlerin von Geschichten, bei denen es nicht auf Authentizität im Sinne eines "wie es wirklich war" ankommt. Nach Köhlers Meinung ist der Literaturwissenschaftlerin Bovenschen damit ein großer Wurf gelungen, ein "gewitztes Spiel mit dem Verschwinden der eindeutig identifzierbaren Rede" und zugleich eine Antwort auf den grassierenden Biografismus (den die Rezensentin in ihrer Gleichsetzung von Autor und Erzähler keineswegs konsequent unterläuft). Nie wird klar, wer genau spricht. Unterstützung für ihre Lesart findet Köhler in Bezugnahmen zum Werk Roland Barthes', der mit seinem Wortpaar "Komplizität und Gereiztheit" die "Grundbefindlichkeit dieses lebensklugen und empfindungsgenauen Buches" auf den Punkt gebracht habe.

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