Was ist im Haus von Theresias Großeltern los? Nach und nach verschwinden immer mehr Dinge, vom Korkenzieher über ein altes Radio mit magischem Auge bis hin zum massiven Eichenbüfett, auf unerklärliche Weise - bis schließlich das ganze Gebäude in Flammen aufgeht. Aber verschwand überhaupt etwas, oder wurde nur vergessen, wo es hingeriet? Theresia verfolgt die Geschehnisse, zunächst als Gast ihrer zunehmend verzweifelten Großeltern; dann aber wird sie selbst von den unheimlichen Vorgängen eingeholt. Im Märchenton erzählt Hans Magnus Enzensberger eine Familiengeschichte, in der sich Verstörung ausbreitet, bis sie in Zerstörung kulminiert. Und doch ist auch dies noch nicht der Endpunkt von Verschwinden und Vergesslichkeit. Mit großer zeichnerischer Phantasie begleitet Jonathan Penca das geheimnisvolle Geschehen und überträgt es in eine Bildwelt voller abgründiger Gegenstände.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2014Korkenzieher gesucht
Hans Magnus Enzensberger: "Verschwunden"
Es gibt vieles, was einem im Laufe eines Jahres so abhandenkommt: Schlüssel, Telefone, Kreditkarten, Ohrringe, Gelassenheit. Dabei ist, was uns abhandenkommt, nicht weg. Es ist bloß temporär nicht auffindbar. Das gilt für Geld ebenso wie für Männer, Haargummis oder andere wichtige Gegenstände. Darum beginnen die wirklich großen Fragen, also jene, die nach Aktion rufen, bekanntlich nicht "Warum", sondern "Wo".
Im Fall von Theresias Großvater Jakob häufen sich die Wo-Fragen und mit ihnen die impliziten Vorwürfe an seine Frau Wally, seine Schwägerin Hulda und das Dienstmädchen Anna. Denn irgendwer muss es doch gewesen sein! Hans Magnus Enzensbergers verblüffende Geschichte "Verschwunden", erschienen im Insel Verlag, die man hervorragend heute zwischen halb zwölf und Neujahr lesen kann, während andere hektisch auf Mitternacht warten, beginnt recht harmlos mit einem verschwundenen Korkenzieher. In der Folge bekommt erst der Hut des Großvaters Beine, dann die Stehlampe neben dem Sofa und schließlich sogar das Eichenbüfett. All diese Dinge und zahlreiche andere bleiben verschwunden, obwohl Jakob das ganze alte Haus auf den Kopf stellt. Und als Theresia am Ende der Sommerferien im Allgäu heimfahren will, ist ihr Koffer unauffindbar. Da sind die Nerven des armen Mädchens vom Umgang mit den eigenbrötlerischen Altchen ohnehin schon strapaziert. Großmama warnt die Neunjährige eindringlich vor Geistern und Erdstrahlen, Großpapa erklärt die Glaubenssätze seiner Frau für Unsinn - und hält sich seinerseits an sein Pendel. Während Jakob ein Pedant ist, der über den Verbrauch von Zigarillos Buch führt, geht bei Wally alles durcheinander, ob auf dem Schreibtisch oder im Kochtopf. Im Kopf indes scheinen beide klar - auf ihre Weise. Mit dem verschwundenen Korkenzieher nimmt ein Unheil seinen Lauf, bei dem die unterschiedlichen Lebenseinstellungen des Paares aufeinanderprallen und die atmosphärischen Störungen durchaus diesseitiger Natur sind. Jakob schaltet zuletzt die Polizei ein, doch auch die Beamten treten irgendwann den Rückzug an. Und das Pendel kann, da ebenfalls futsch, auch keine Antwort geben.
Hans Magnus Enzensberger hat eine wunderbar leichte und witzige Erzählung über die Entropie geschrieben und den Umstand, dass alle Ordnung nach Auflösung strebt; Jonathan Penca hat das Chaos ins Bild gesetzt. An Silvester allerdings hätte selbst Jakob seinen Korkenzieher nicht vermisst, denn heute knallen die Champagnerkorken von alleine.
fvl
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hans Magnus Enzensberger: "Verschwunden"
Es gibt vieles, was einem im Laufe eines Jahres so abhandenkommt: Schlüssel, Telefone, Kreditkarten, Ohrringe, Gelassenheit. Dabei ist, was uns abhandenkommt, nicht weg. Es ist bloß temporär nicht auffindbar. Das gilt für Geld ebenso wie für Männer, Haargummis oder andere wichtige Gegenstände. Darum beginnen die wirklich großen Fragen, also jene, die nach Aktion rufen, bekanntlich nicht "Warum", sondern "Wo".
Im Fall von Theresias Großvater Jakob häufen sich die Wo-Fragen und mit ihnen die impliziten Vorwürfe an seine Frau Wally, seine Schwägerin Hulda und das Dienstmädchen Anna. Denn irgendwer muss es doch gewesen sein! Hans Magnus Enzensbergers verblüffende Geschichte "Verschwunden", erschienen im Insel Verlag, die man hervorragend heute zwischen halb zwölf und Neujahr lesen kann, während andere hektisch auf Mitternacht warten, beginnt recht harmlos mit einem verschwundenen Korkenzieher. In der Folge bekommt erst der Hut des Großvaters Beine, dann die Stehlampe neben dem Sofa und schließlich sogar das Eichenbüfett. All diese Dinge und zahlreiche andere bleiben verschwunden, obwohl Jakob das ganze alte Haus auf den Kopf stellt. Und als Theresia am Ende der Sommerferien im Allgäu heimfahren will, ist ihr Koffer unauffindbar. Da sind die Nerven des armen Mädchens vom Umgang mit den eigenbrötlerischen Altchen ohnehin schon strapaziert. Großmama warnt die Neunjährige eindringlich vor Geistern und Erdstrahlen, Großpapa erklärt die Glaubenssätze seiner Frau für Unsinn - und hält sich seinerseits an sein Pendel. Während Jakob ein Pedant ist, der über den Verbrauch von Zigarillos Buch führt, geht bei Wally alles durcheinander, ob auf dem Schreibtisch oder im Kochtopf. Im Kopf indes scheinen beide klar - auf ihre Weise. Mit dem verschwundenen Korkenzieher nimmt ein Unheil seinen Lauf, bei dem die unterschiedlichen Lebenseinstellungen des Paares aufeinanderprallen und die atmosphärischen Störungen durchaus diesseitiger Natur sind. Jakob schaltet zuletzt die Polizei ein, doch auch die Beamten treten irgendwann den Rückzug an. Und das Pendel kann, da ebenfalls futsch, auch keine Antwort geben.
Hans Magnus Enzensberger hat eine wunderbar leichte und witzige Erzählung über die Entropie geschrieben und den Umstand, dass alle Ordnung nach Auflösung strebt; Jonathan Penca hat das Chaos ins Bild gesetzt. An Silvester allerdings hätte selbst Jakob seinen Korkenzieher nicht vermisst, denn heute knallen die Champagnerkorken von alleine.
fvl
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Hans Magnus Enzensberger hat eine wunderbar leichte und witzige Erzählung über die Entropie geschrieben und den Umstand, dass alle Ordnung nach Auflösung strebt.« fvl Frankfurter Allgemeine Zeitung 20141231