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Dem Historiker Dan Diner, einem der besten Kenner der komplexen nahöstlichen Konfliktlage, gelingt es auf überzeugende Weise, die Ursachen dieser Entwicklungsblockade zu benennen. Der diagnostizierte Stillstand ist weniger dem Islam als Religion geschuldet als vielmehr spezifischen sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Gegebenheiten des Vorderen Orients. Sie führen zu einer Allgegenwart des Sakralen auch in Bereichen, aus denen es andernorts auf dem Weg in die Moderne verdrängt worden ist. Historisch argumentierend und aus einer Fülle kaum bekannter Quellen schöpfend, eröffnet…mehr

Produktbeschreibung
Dem Historiker Dan Diner, einem der besten Kenner der komplexen nahöstlichen Konfliktlage, gelingt es auf überzeugende Weise, die Ursachen dieser Entwicklungsblockade zu benennen. Der diagnostizierte Stillstand ist weniger dem Islam als Religion geschuldet als vielmehr spezifischen sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Gegebenheiten des Vorderen Orients. Sie führen zu einer Allgegenwart des Sakralen auch in Bereichen, aus denen es andernorts auf dem Weg in die Moderne verdrängt worden ist. Historisch argumentierend und aus einer Fülle kaum bekannter Quellen schöpfend, eröffnet Diner einen neuen, erhellenden Blick auf eines der brisantesten Problemfelder unserer Zeit.
Der augenfällige Stillstand in der islamischen Zivilisation, insbesondere in ihren arabischen Kernländern, zählt zu den explosivsten Problemen der Gegenwart - und allem Anschein nach auch der Zukunft. Der Historiker Dan Diner untersucht die ökonomischen, kulturellen und politischen Ursachen der Stagnation dieses einst blühenden Kulturraums. Sein Fazit: Die Allgegenwart des Sakralen, das Ausbleiben von Säkularisierung, verhindern bis heute jene Entwicklung, die den Westen von der Frühen Neuzeit an in die Moderne geführt hat.
Autorenporträt
Dan Diner, geboren 1946, lehrt Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und war bis vor Kurzem Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Seit 1999 ist er Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur. Als ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig steht er dem in Verbindung mit dem Simon-Dubnow-Institut durchgeführten Forschungsprojekt "Europäische Traditionen Enzyklopädie jüdischer Kulturen" vor.2006 wurde Dan Diner mit dem Ernst Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen am Rhein ausgezeichnet; im Jahr 2007 erhielt er den italienischen Premio Capalbio in der Sektion Internationale Politik. Als Gastprofessor wirkte er an Universitäten und Forschungsinstituten in Kassel, München, Wien, Urbana-Champaign, Luzern, Oxford und Princeton.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2006

Verfugung und Verschwörung
Sakralität als Grund für die Selbstblockade der islamischen Kultur

Der Titel ist sehr poetisch, doch das Buch selbst behandelt sehr konkrete, handfeste, ja - wenn man an den Terrorismus und den Irak-Krieg denkt - brutale Ereignisse. Es versucht eine neuerliche Antwort auf die Frage zu geben, die Bernard Lewis, der Nestor der amerikanischen Orientwissenschaft, in seinem Essayband "What went wrong in the Muslim world?" bereits vor geraumer Zeit behandelt hatte. Dan Diner nimmt sich in seinem Buch "Versiegelte Zeit" die Dimension des Sakralen vor. Der Untertitel "Über den Stillstand in der islamischen Welt" führt ein wenig in die Irre, denn in den muslimischen Ländern Südostasiens oder in der Türkei herrscht keineswegs Stillstand; dort entwickeln sich die Volkswirtschaften rasch, und gesellschaftliche Veränderungen sind durchaus zu beobachten.

So meint das Buch denn auch mehr den Kernraum des "Dar al Islam", jene von etwa 200 Millionen Arabern bewohnten Regionen Nordafrikas und Vorderasiens, in denen der Islam vor knapp eineinhalb Jahrtausenden entstand und von wo aus er sich ausbreitete. Arabische Autoren wie Rifaa al-Tahtawi oder Schakib Arslan befaßten sich schon im 19. Jahrhundert mit dem Gegensatz zwischen einer rasch voranschreitenden europäischen Welt und dem hinter ihr offenkundig zurückgebliebenen Islam. Sie warben für die Übernahme der modernen Errungenschaften des Westens, um den Islam ebenso stark zu machen.

Rein äußerlich ist das wohl gelungen, wenn man sich das Erscheinungsbild etwa der arabischen Städte ansieht (insbesondere am erdölreichen Golf). Doch der zivilisatorische, politische und intellektuelle Rückstand ist im wesentlichen geblieben oder hat sich, wegen des Erstarkens fundamentalistischer Bewegungen, sogar noch vergrößert. Dies registrieren nicht westliche Neokolonialisten, sondern die arabischen Autoren des "Arab Human Development Report" der Vereinten Nationen im Jahre 2004, wenn sie ihren Ländern schwere Defizite auf fast allen Gebieten wirtschaftlicher und kultureller Aktivität bescheinigen. In einem Land wie Ägypten mit siebzig Millionen Einwohnern werden jährlich knapp vierhundert ausländische Bücher übersetzt, in dem kleinen Israel hingegen etwa zehnmal so viele. Der Anteil der gedruckten Bücher in der gesamten arabischen Welt macht 0,8 Prozent der Weltproduktion aus. Spricht daraus Angst vor fremden Ideen, vor Ideen überhaupt?

Diner setzt nicht bei Imperialismus- und Kolonialismustheorien oder beim Ökonomismus an (jedenfalls nicht primär), sondern sieht in der - weitgehend unveränderten - Verfugung des Sakralen mit der Politik und der Gesellschaft das Haupthindernis für die Aufhebung einer "Entwicklungsblockade", die die arabisch-islamische Welt seit dem Ausgang des Mittelalters zum Stagnieren gebracht habe. Der durch einen nicht kritisch befragten Koran und eine ebenso unkritisch weitergetragene Tradition geprägte sakrale Charakter aller öffentlichen wie privaten Lebensbereiche kontrastiere in seiner offenkundigen Schwäche auf das schärfste mit dem Selbstbild einer "allseitigen Überlegenheit", das die Muslime von sich hätten und das ihr Selbstbewußtsein konstituiere. Das Resultat sind Verschwörungstheorien.

Der interessanteste Teil dieser Essays - freilich auch der strittigste - sind Diners Ausführungen über die Sakralität der Sprache, des Arabischen, die mit ihrem Charakter als exklusive Sprache der koranischen Offenbarung gegeben sei. Natürlich ist das zunächst einmal so. Die Sakralität der Offenbarungssprache, in der alle theologischen und weltlichen Belange qua Religionsgesetz geregelt scheinen, macht sie unantastbar für eine Öffnung zum Zeitlichen. Das Sakrale versiegelt sie quasi und verhindert eine Profanierung der Zeit über die Säkularisierung der Sprache, wie sie in der westlichen Moderne stattfand, in der Zeitlosigkeit des Sakralen. Es trifft auch zu, daß der Gegensatz zwischen dieser als unantastbar empfundenen sakralen Hochsprache und den arabischen Dialekten groß ist und vielleicht immer größer wird. Freilich hat sich unter den Gebildeten längst auch so etwas herausgebildet wie eine Koine, die zwischen den Dialekten und dem sakralen Koranarabisch vermittelt, wie umgekehrt Autoren wie Taufiq al Hakim oder Nagib Mahfuz auch dialektale Elemente literaturfähig gemacht haben. Daß die islamische Kultur wegen der Sakralität des Arabischen von einer generellen Aversion gegen Bücher bestimmt gewesen sei, wie der Autor behauptet, kann angesichts der berühmten Bibliotheken von Córdoba, Bagdad oder Buchara, um nur diese Beispiele zu nennen, nicht bestätigt werden. Daß der Buchdruck im Osmanischen Reich (der erste Versuch unter dem Renegaten Ibrahim Müteferrika scheiterte im 18. Jahrhundert) recht spät Einzug hielt, hat die Muslime hingegen ohne Zweifel zeitlich zurückgeworfen. Die Schriftgelehrten hüteten zu der Zeit, da die Dekadenz längst im Gange war, eifersüchtig ihr Lese- und Deutungsmonopol nach der Methode des "taqlid", der theologischen "Nachahmung" der Altvorderen, gegen Versuche der Neuinterpretation und Reform, die allzuleicht in den Ruch der Ketzerei (bid' a) gelangten.

Behutsam und ohne Schärfe plädiert Diner dafür, die islamische Zivilisation müsse sich zu einer Selbstreflexion durchringen, um die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zu überwinden, das heißt den Gegensatz zwischen den Erfordernissen der im Flusse befindlichen modernen Zeit und dem Essentialismus der sakralen Zeit. Durch weltliche Reformen, wie etwa 1924 unter Atatürk oder im Reformjudentum, hin zu einer zeitgebundenen Souveränität der Menschen in der Demokratie und der ewigen Souveränität Gottes werde der Islam keineswegs zerstört. Das Buch gehört dank einer Fülle von Gedanken und intellektuellen Querverbindungen mit zum Anregendsten, was in den vergangenen Jahren zu dem schwierigen Thema Islam und Islamismus publiziert worden ist.

WOLFGANG GÜNTER LERCH

Dan Diner: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt. Propyläen Verlag, Berlin 2005. 287 Seiten, 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Überzeugend findet Rezensent Wolfgang Günter Lerch Dan Diners Buch über die Ursachen des wirtschaftlichen und kulturellen Rückstands der islamischen Welt. Dabei setzte Diner nicht primär bei Imperialismus- und Kolonialismustheorien oder ökonomischen Erklärungen an. Im Zentrum des Buchs sieht Lerch vielmehr die "Verfugung des Sakralen mit der Politik und der Gesellschaft", für Diner das Haupthindernis für die Aufhebung einer "Entwicklungsblockade" in der arabisch-islamische Welt. Für den "interessantesten" und zugleich "strittigsten" Teil dieser Essays hält Lerch hierbei die Ausführungen über die Sakralität der Sprache, des Arabischen, die mit ihrem Charakter als exklusive Sprache der koranischen Offenbarung gegeben sei. Er lobt Diners Plädoyer für Selbstreflexion der islamische Zivilisation als "behutsam und ohne Schärfe". Insgesamt bescheinigt er dem Buch eine "Fülle von Gedanken und intellektuellen Querverbindungen". Daher gehört es für Lerch auch mit zum Anregendsten, "was in den vergangenen Jahren zu dem schwierigen Thema Islam und Islamismus publiziert worden ist."

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