Ein Ausspruch von Raymond Aron klingt wie ein Motto zu diesem Buch: "Es hätte Deutschlands Jahrhundert sein können." Aber die Größe, die möglich schien, wurde verspielt. Davon spricht Fritz Stern, der bedeutende Historiker, in den Essays dieses Buches. Zugleich aber weist er mahnend darauf hin, daß Deutschland eine "zweite Chance" hat, eine Chance freilich, die es nur wahrnehmen kann durch behutsames Umgehen mit der neuen Macht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996Wenn Fortuna zweimal klingelt
Fritz Stern wägt Glück und Unglück in der deutschen Geschichte / Von Ulrich Raulff
In den Jahren seit 1989 hat Fritz Stern, dessen Studien zum Kulturpessimismus des Fin de siècle, über Bismarcks Bankier Bleichröder und zur deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts längst eine große Leserschaft gefunden hatten, sich dem deutschen Publikum noch einmal in besonderer Weise eingeprägt, als er das glücklich gefundene Wort von der "zweiten Chance" in Umlauf brachte. Am Beginn des Jahrhunderts, so Stern, sei Deutschland "das Land des dynamischen Aufstiegs" gewesen, ein Land, dem die Zukunft zu gehören schien, Ursprung von immensen künstlerischen und wissenschaftlichen Potenzen, Geburtsstätte und Wiege der anbrechenden Moderne. "Es hätte Deutschlands Jahrhundert sein können", lautet ein Ausspruch Raymond Arons, den Stern zustimmend überliefert. Das ist es allenfalls im Bösen geworden. Das Glück, das dem Land damals winkte, hat schon der Erste Weltkrieg zunichte gemacht.
Erst heute, gegen Ende des Jahrhunderts, sieht Stern eine zweite Chance für Deutschland gekommen (Weimar, so liest man zwischen den Zeilen, hat keine gehabt). Ob es sie diesmal erkennt und zu nutzen versteht, hängt nicht nur von der Weisheit seiner Regierenden ab. Die innere, menschliche Wiedervereinigung muß gelingen, und über sie entscheiden Selbstbewußtsein und Humanität der Bürger. Aber anders als für die Mehrzahl der Zeitgenossen liegt für Stern der entscheidende Prüfstein für demokratische Gesinnung und politischen Bürgersinn nicht im Auftreten Deutschlands in der Welt. Für ihn stellt sich die Frage anders: "Wie behandeln Deutsche Deutsche - die innere Entzweiung hat schon immer außenpolitische Vernunft bedroht. Das Unglück der ersten Chance war die innere Zersplitterung; daran muß man denken, wenn man die zweite Chance wahrnehmen will."
Kein distanzierter Weltweiser spricht hier über Glück und Unglück in der deutschen Geschichte, sondern ein teilnehmender Beobachter, ein politisch denkender Historiker, ein Zeitzeuge des Jahrhunderts. 1926 in Breslau geboren, 1938 nach Amerika emigriert, ist Stern nicht müde geworden, der dreifachen - deutschen, jüdischen, amerikanischen - Schicksalsgemeinschaft, mit der die Geschichte ihn bedacht hat, nachzuforschen. Vor allem der deutsch-jüdischen Pioniere der wissenschaftlich-technischen Moderne, der Heroen der "zweiten Geniezeit" Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, hat sich Stern - wie schon in früheren Schriften - mit bewundernswerter psychologischer Einfühlung und meisterlicher Porträtkunst angenommen. Aber auch die amerikanische Sicht der deutschen Vergangenheit, die Sterns Essay über hundert Jahre amerikanische Historiographie und Deutschlandforschung einfängt, ist mehr als ein Stück konzentrierter Geistesgeschichte: Wiederum wird eigene Erfahrung sichtbar, erneut gibt sich Lebensgeschichte als Unterfutter der Wissenschaftsgeschichte zu erkennen.
In der Tat finden sich, diskret verborgen in Zitaten, Parenthesen, Fußnoten, eine Reihe biographischer Fäden, die den Autor mit seinen Figuren verbinden: Einstein und Weizmann hat er selbst gekannt, ebenso Paul Ehrlichs Witwe und Tochter; Fritz Haber stand seinem Vater, Rudolf Stern, nahe (Fritz Stern zitiert aus einem Brief Habers von 1934 an seinen Vater Sätze von visionärer Klarheit, die das Schicksal Deutschlands betreffen). Doch die Meisterschaft des Biographen und Historikers Stern gründet nicht (oder nicht allein) in der existentiellen Nähe zu seinen Figuren. Sie liegt in dem mit großer Zurückhaltung eingesetzten und doch jederzeit spürbaren dramatischen Talent des Historikers, der gelegentlich an das Wort Fernand Braudels erinnert, die Vergangenheit sei ein großes "gesellschaftliches Drama".
Ungesuchte Natürlichkeit und Schlichtheit, Humanität und Humilität kennzeichnen den Stil des Geschichtsschreibers Stern. Spürbar ist die Wahlverwandtschaft, die ihn mit der großen realistischen Tradition von Flaubert und Fontane verbindet. Doch die scheinbare Einfachheit seiner Geschichten täuscht. Die eigentümliche Faszination, die sie auf den Leser ausüben, rührt von ihrer dramatischen Anlage her. Vielleicht wird diese nirgends deutlicher als in dem biographischen Essay über Walther Rathenaus Weg in die Politik. Meint man doch, ihm früher schon begegnet zu sein, diesem Mann, in dem sich alle Kompliziertheiten der Moderne, alle Verheißungen der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz und alles Verhängnis des jüdischen Intellektuellen in der deutschen Politik in einzigartiger Weise verdichten. Doch erst nach der Lektüre von Fritz Sterns Essay weiß man, wer Walther Rathenau wirklich war: ein in verwandelter Gestalt wiedergekehrter, ein jüdisch-deutscher Hamlet.
Auch für Fritz Stern, und für ihn in besonderer Weise, ist der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. Mochten die Genies der "zweiten Geniezeit" auch weiterleben, ihre Zeit und ihre Hoffnungen waren dahin. "Wir sind heute", schrieb G. M. Trevelyan, "um nichts besser als ein Trupp Urmenschen, die einen Weltbrand überlebt haben. Betäubt sitzen wir zwischen den Ruinen der Welt, die wir kannten. Das Leben vor dem Krieg ist sonderbar unterschieden von dem Leben nachher. Die Gewißheit der Dauer ist verschwunden."
Deshalb ist der Essay über die Historiker und den Ersten Weltkrieg vielleicht der interessanteste des ganzen Bandes, jedenfalls der mit der größten historischen Dichte. In diesem Text nämlich tritt der Historiker sukzessive in verschiedenste Dialoge: zunächst mit den Historikern einer anderen Zeit, dann mit den Stimmen des Jahrhunderts, schließlich mit sich, dem Geschichtsschreiber Fritz Stern, und am Ende, wer weiß, vielleicht mit der Kunst selbst. Mehr und mehr gleichen Sterns historische Betrachtungen jenem letzten, fragmentarischen Text, in dem Siegfried Kracauer gleichzeitig eine Theorie der Geschichtsschreibung, eine Parabel des Exils und eine intellektuelle Autobiographie ineinander verschachtelte. Hinter der vielschichtigen Einfachheit dieser Texte verbirgt sich, was in der Historie fast so selten ist wie in der Geschichte selbst: Weisheit.
Gewiß ist, daß Deutschland seine erste, große Chance am Beginn des Jahrhunderts verspielt hat, zweifelhaft, ob es an dessen Ende die zweite zu nutzen vermag. Aber es gibt noch eine zweite Chance anderer Art, die verspielte Größe von einst nachträglich zu retten. Es ist die Chance des Historikers, die Chance des Eingedenkens. Fritz Stern hat sie zu nutzen gewußt.
Fritz Stern: "Verspielte Größe". Essays zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Verlag C. H. Beck, München 1996. 316 S., geb., 48,- DM.
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Fritz Stern wägt Glück und Unglück in der deutschen Geschichte / Von Ulrich Raulff
In den Jahren seit 1989 hat Fritz Stern, dessen Studien zum Kulturpessimismus des Fin de siècle, über Bismarcks Bankier Bleichröder und zur deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts längst eine große Leserschaft gefunden hatten, sich dem deutschen Publikum noch einmal in besonderer Weise eingeprägt, als er das glücklich gefundene Wort von der "zweiten Chance" in Umlauf brachte. Am Beginn des Jahrhunderts, so Stern, sei Deutschland "das Land des dynamischen Aufstiegs" gewesen, ein Land, dem die Zukunft zu gehören schien, Ursprung von immensen künstlerischen und wissenschaftlichen Potenzen, Geburtsstätte und Wiege der anbrechenden Moderne. "Es hätte Deutschlands Jahrhundert sein können", lautet ein Ausspruch Raymond Arons, den Stern zustimmend überliefert. Das ist es allenfalls im Bösen geworden. Das Glück, das dem Land damals winkte, hat schon der Erste Weltkrieg zunichte gemacht.
Erst heute, gegen Ende des Jahrhunderts, sieht Stern eine zweite Chance für Deutschland gekommen (Weimar, so liest man zwischen den Zeilen, hat keine gehabt). Ob es sie diesmal erkennt und zu nutzen versteht, hängt nicht nur von der Weisheit seiner Regierenden ab. Die innere, menschliche Wiedervereinigung muß gelingen, und über sie entscheiden Selbstbewußtsein und Humanität der Bürger. Aber anders als für die Mehrzahl der Zeitgenossen liegt für Stern der entscheidende Prüfstein für demokratische Gesinnung und politischen Bürgersinn nicht im Auftreten Deutschlands in der Welt. Für ihn stellt sich die Frage anders: "Wie behandeln Deutsche Deutsche - die innere Entzweiung hat schon immer außenpolitische Vernunft bedroht. Das Unglück der ersten Chance war die innere Zersplitterung; daran muß man denken, wenn man die zweite Chance wahrnehmen will."
Kein distanzierter Weltweiser spricht hier über Glück und Unglück in der deutschen Geschichte, sondern ein teilnehmender Beobachter, ein politisch denkender Historiker, ein Zeitzeuge des Jahrhunderts. 1926 in Breslau geboren, 1938 nach Amerika emigriert, ist Stern nicht müde geworden, der dreifachen - deutschen, jüdischen, amerikanischen - Schicksalsgemeinschaft, mit der die Geschichte ihn bedacht hat, nachzuforschen. Vor allem der deutsch-jüdischen Pioniere der wissenschaftlich-technischen Moderne, der Heroen der "zweiten Geniezeit" Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, hat sich Stern - wie schon in früheren Schriften - mit bewundernswerter psychologischer Einfühlung und meisterlicher Porträtkunst angenommen. Aber auch die amerikanische Sicht der deutschen Vergangenheit, die Sterns Essay über hundert Jahre amerikanische Historiographie und Deutschlandforschung einfängt, ist mehr als ein Stück konzentrierter Geistesgeschichte: Wiederum wird eigene Erfahrung sichtbar, erneut gibt sich Lebensgeschichte als Unterfutter der Wissenschaftsgeschichte zu erkennen.
In der Tat finden sich, diskret verborgen in Zitaten, Parenthesen, Fußnoten, eine Reihe biographischer Fäden, die den Autor mit seinen Figuren verbinden: Einstein und Weizmann hat er selbst gekannt, ebenso Paul Ehrlichs Witwe und Tochter; Fritz Haber stand seinem Vater, Rudolf Stern, nahe (Fritz Stern zitiert aus einem Brief Habers von 1934 an seinen Vater Sätze von visionärer Klarheit, die das Schicksal Deutschlands betreffen). Doch die Meisterschaft des Biographen und Historikers Stern gründet nicht (oder nicht allein) in der existentiellen Nähe zu seinen Figuren. Sie liegt in dem mit großer Zurückhaltung eingesetzten und doch jederzeit spürbaren dramatischen Talent des Historikers, der gelegentlich an das Wort Fernand Braudels erinnert, die Vergangenheit sei ein großes "gesellschaftliches Drama".
Ungesuchte Natürlichkeit und Schlichtheit, Humanität und Humilität kennzeichnen den Stil des Geschichtsschreibers Stern. Spürbar ist die Wahlverwandtschaft, die ihn mit der großen realistischen Tradition von Flaubert und Fontane verbindet. Doch die scheinbare Einfachheit seiner Geschichten täuscht. Die eigentümliche Faszination, die sie auf den Leser ausüben, rührt von ihrer dramatischen Anlage her. Vielleicht wird diese nirgends deutlicher als in dem biographischen Essay über Walther Rathenaus Weg in die Politik. Meint man doch, ihm früher schon begegnet zu sein, diesem Mann, in dem sich alle Kompliziertheiten der Moderne, alle Verheißungen der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz und alles Verhängnis des jüdischen Intellektuellen in der deutschen Politik in einzigartiger Weise verdichten. Doch erst nach der Lektüre von Fritz Sterns Essay weiß man, wer Walther Rathenau wirklich war: ein in verwandelter Gestalt wiedergekehrter, ein jüdisch-deutscher Hamlet.
Auch für Fritz Stern, und für ihn in besonderer Weise, ist der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. Mochten die Genies der "zweiten Geniezeit" auch weiterleben, ihre Zeit und ihre Hoffnungen waren dahin. "Wir sind heute", schrieb G. M. Trevelyan, "um nichts besser als ein Trupp Urmenschen, die einen Weltbrand überlebt haben. Betäubt sitzen wir zwischen den Ruinen der Welt, die wir kannten. Das Leben vor dem Krieg ist sonderbar unterschieden von dem Leben nachher. Die Gewißheit der Dauer ist verschwunden."
Deshalb ist der Essay über die Historiker und den Ersten Weltkrieg vielleicht der interessanteste des ganzen Bandes, jedenfalls der mit der größten historischen Dichte. In diesem Text nämlich tritt der Historiker sukzessive in verschiedenste Dialoge: zunächst mit den Historikern einer anderen Zeit, dann mit den Stimmen des Jahrhunderts, schließlich mit sich, dem Geschichtsschreiber Fritz Stern, und am Ende, wer weiß, vielleicht mit der Kunst selbst. Mehr und mehr gleichen Sterns historische Betrachtungen jenem letzten, fragmentarischen Text, in dem Siegfried Kracauer gleichzeitig eine Theorie der Geschichtsschreibung, eine Parabel des Exils und eine intellektuelle Autobiographie ineinander verschachtelte. Hinter der vielschichtigen Einfachheit dieser Texte verbirgt sich, was in der Historie fast so selten ist wie in der Geschichte selbst: Weisheit.
Gewiß ist, daß Deutschland seine erste, große Chance am Beginn des Jahrhunderts verspielt hat, zweifelhaft, ob es an dessen Ende die zweite zu nutzen vermag. Aber es gibt noch eine zweite Chance anderer Art, die verspielte Größe von einst nachträglich zu retten. Es ist die Chance des Historikers, die Chance des Eingedenkens. Fritz Stern hat sie zu nutzen gewußt.
Fritz Stern: "Verspielte Größe". Essays zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Verlag C. H. Beck, München 1996. 316 S., geb., 48,- DM.
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