Neben neuen eigenen Gedichten enthält dieser Band beinahe dreißig Coverversionen bekannter Gedichte von Brecht über Celan bis hin zu Hölderlin, überführt in Kraussers eigenen lyrischen Duktus. Und als Surplus die 33 besten Sonette Shakespeares in einer modernen, sinnlichen, freien Übertragung, die dem Original gleichwohl Respekt erweist. Mit Anmerkungen im unnachahmlichen Krausser-Stil.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.03.2015Wenn Komasaufen zum Amoklaufen führt
Wie viel Poesie steckt hinter der großen Pose? Helmut Kraussers neuer Gedichtband "Verstand & Kürzungen"
Einzelkämpfer, Klartexter, Tausendsassa, Frauenheld - das alles und noch viel mehr würde Helmut Krausser verkörpern, wenn er tatsächlich die Figur seiner Selbstinszenierung wäre. Krausser betreibt Lyrik als Maskenspiel. Der Autor schlüpft in unterschiedliche Rollen, das Publikum hat bitte schön zu staunen. Beklatschen wir also brav die wichtigsten Figuren in Kraussers lyrischem Kabinett. Zuerst den Einzelkämpfer, als den sich der Autor vom ersten Vers an geriert: "Ich zähle 20 000 Krieger / im Lager der Feinde. / Nur einen in meinem / Mich." Krausser kämpft gegen das Geschmeiß literarischer Durchschnittlichkeit. Bedeutungsschwere, bildungsbeflissene Lyrik ist ihm ein Graus. Für die verzärtelte Blümchenfraktion mit ihren naturpoetischen Abzählreimen hat er nur Verachtung übrig. Gegen die Vorherrschaft des Poesiegeschwurbels führt Krausser eine schlichte, alltagstaugliche, gerne auch derbe Sprache ins Feld. Er ist der Klartexter, der die scharfe Doppelklinge von "Verstand & Kürzungen" führt. Das titelgebende Wortpaar ziert den Gedichtband wie das Wappen eines Kampfschildes.
Doch noch bevor es zum Gefecht kommt, wechselt Krausser schnell die Rolle. Warum denn kämpfen, wenn die eigene Überlegenheit von vornherein feststeht? Denn Krausser kann einfach alles. Zu den Spezialitäten des Tausendsassas gehört sein Verschnitt von Hoch- und Popkultur. Daher enthält der neue Band in Anspielung auf Rilke zunächst "Neue Gedichte". Es folgen "Bonus-Gedichte", eine "U-12-" und eine "Ü-18-Abteilung", "Coverversionen" und nicht zuletzt die Top 33 der Shakespeare-Sonette, ausgewählt und übersetzt von Helmut Krausser himself. Genial, dieser Krausser, so der Anspruch an sich selbst. Endlich wieder ein Dichter, der sich mit den ganz großen von Catull über Shakespeare bis Hölderlin auf Augenhöhe befindet, während er die Minderbegabten mit der nötigen Strenge auf ihre Plätze verweist. Goethe zum Beispiel darf sich mit einer knappen Vier setzen: ",Ein Gleiches' ist kein so großes Gedicht, wie alle Welt behauptet, ist jedoch auch nicht so kraß überbewertet wie Goethes sonstige lyrische Produktion." Gut gebrüllt, Krausser.
Die große Pose amüsiert, sie reizt aber auch zum Widerspruch. Gut ist Krausser nämlich nur dort, wo er es tatsächlich mit Gegnern auf Augenhöhe aufnimmt. Wenn ihm beispielsweise zu Heidi Klum einfällt: "ihr blick ist vom vorüberziehen an linsen / so leer, als wäre zwischen kinn und stirn / nur werbefläche". Dann braucht er zwar Rilkes "Panther" als Hilfe für sein Gedicht, dafür funkeln seine Gemeinheiten den Lesern dann aber auch wie der versgewordene böse Blick entgegen. Beglückend sind auch jene Gedichte, die eine ansteckende Heiterkeit ausstrahlen, die Pfiff haben oder wie in diesem Fall eher Summ: "Ich summte in Madrid / mal eine Melodie, / und du erkanntest sie / und summtest leise mit." Doch solche Perlen sind rar. Das gilt ebenfalls für die Coverversionen und die Shakespeare-Übersetzungen, die beide am Vereinfachungssyndrom leiden. Da mag der Dichterkollege Hellmuth Opitz behaupten, Kraussers Shakespeare-Übersetzungen legten den Kern der Sonette frei. Aber selbst wenn Gedichte tatsächlich, wie die Obstanalogie nahelegt, einen Kern hätten - mit der Krausserschen Kerndiät verlieren sie jede Finesse. Spielen die Originale mit allen Formvarianten des Sonetts, kennen die Übersetzungen nur das schnöde 4:4:3:3. Inszenieren die Liebesgedichte feinste Nuancen taktiler Annäherung, kennt Krausser nur den Begriff "Berührung".
So sieht es leider auch bei den Coverversionen aus. Da erkundet Christian Morgenstern die Sitzgewohnheit des "ästhetischen Wiesel", das bevorzugt auf einem Kiesel Platz nimmt. Und der begnadete Poetozoologe kommt zu dem Schluss: "Das raffinier / te Tier / tat's um des Reimes willen." Poetisch nicht unbegabt das Tierchen, aber eben nichts gegen den Meister selbst, dessen Pointe weit über das Reimen hinausgeht. Und Krausser? Seine Schwäne plagt Migräne. Das war's. Und damit spielt er in der Reimliga der ästhetischen Wiesel, aber nicht der eines Morgenstern. Dieser Eindruck festigt sich, wenn Kraussers Verse eben nicht mit höchster Kunstfertigkeit das Einfache entwerfen, sondern ins Holpern, Stolpern, Hinken geraten. Zuerst sitzt das Anagramm schief: "komasaufen? / amoklaufen?", dann zwängt Krausser den Satz in eine Versform, als müsste er ihm alle Knochen brechen: "zwischen beiden / sich entscheiden / müssen, weist / doch hin, zumeist / auf einen zwang / zum schaffensdrang". Zwanglos kommt dieser Satz sicher nicht daher. In anderen Fällen klemmt die Prosodie: "Oben bei den Sternen wohnt / die Poesie, für die es sich / zu schreiben und zu sterben lohnt." Bei der Poesie liegt nach Krausser der Akzent also auf dem "Po". Oder sollte das etwa eine Anspielung auf den in den Gedichten kultivierten Sexismus sein? Das wäre zwar nicht lustig, aber gut möglich. Denn eine der anfangs aufgelisteten Lieblingsrollen ist ja noch offen: Krausser gefällt sich als Frauenheld alter Schule, der einen aus unerfindlichen Gründen noch einmal mit allen Muskelspielen des männlichen Chauvinismus behelligt. Das wirkt beinahe kindisch, zumal selbst die Kategorie "Über 18" letztlich nur Infantiles bietet. Was also tun, wenn sich hinter der großen Pose nur in Ausnahmefällen Poesie verbirgt? Statt wie Krausser Zensuren zu verteilen, folgen wir lieber seiner Hochkultur-Popverschnitt-Logik und empfehlen: Warten Sie auf die erste Single-Auskopplung aus dem Band.
CHRISTIAN METZ
Helmut Krausser: "Verstand & Kürzungen". Gedichte. DuMont Verlag. Köln 2014. 224 S. geb., 22,99 [Euro].
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Wie viel Poesie steckt hinter der großen Pose? Helmut Kraussers neuer Gedichtband "Verstand & Kürzungen"
Einzelkämpfer, Klartexter, Tausendsassa, Frauenheld - das alles und noch viel mehr würde Helmut Krausser verkörpern, wenn er tatsächlich die Figur seiner Selbstinszenierung wäre. Krausser betreibt Lyrik als Maskenspiel. Der Autor schlüpft in unterschiedliche Rollen, das Publikum hat bitte schön zu staunen. Beklatschen wir also brav die wichtigsten Figuren in Kraussers lyrischem Kabinett. Zuerst den Einzelkämpfer, als den sich der Autor vom ersten Vers an geriert: "Ich zähle 20 000 Krieger / im Lager der Feinde. / Nur einen in meinem / Mich." Krausser kämpft gegen das Geschmeiß literarischer Durchschnittlichkeit. Bedeutungsschwere, bildungsbeflissene Lyrik ist ihm ein Graus. Für die verzärtelte Blümchenfraktion mit ihren naturpoetischen Abzählreimen hat er nur Verachtung übrig. Gegen die Vorherrschaft des Poesiegeschwurbels führt Krausser eine schlichte, alltagstaugliche, gerne auch derbe Sprache ins Feld. Er ist der Klartexter, der die scharfe Doppelklinge von "Verstand & Kürzungen" führt. Das titelgebende Wortpaar ziert den Gedichtband wie das Wappen eines Kampfschildes.
Doch noch bevor es zum Gefecht kommt, wechselt Krausser schnell die Rolle. Warum denn kämpfen, wenn die eigene Überlegenheit von vornherein feststeht? Denn Krausser kann einfach alles. Zu den Spezialitäten des Tausendsassas gehört sein Verschnitt von Hoch- und Popkultur. Daher enthält der neue Band in Anspielung auf Rilke zunächst "Neue Gedichte". Es folgen "Bonus-Gedichte", eine "U-12-" und eine "Ü-18-Abteilung", "Coverversionen" und nicht zuletzt die Top 33 der Shakespeare-Sonette, ausgewählt und übersetzt von Helmut Krausser himself. Genial, dieser Krausser, so der Anspruch an sich selbst. Endlich wieder ein Dichter, der sich mit den ganz großen von Catull über Shakespeare bis Hölderlin auf Augenhöhe befindet, während er die Minderbegabten mit der nötigen Strenge auf ihre Plätze verweist. Goethe zum Beispiel darf sich mit einer knappen Vier setzen: ",Ein Gleiches' ist kein so großes Gedicht, wie alle Welt behauptet, ist jedoch auch nicht so kraß überbewertet wie Goethes sonstige lyrische Produktion." Gut gebrüllt, Krausser.
Die große Pose amüsiert, sie reizt aber auch zum Widerspruch. Gut ist Krausser nämlich nur dort, wo er es tatsächlich mit Gegnern auf Augenhöhe aufnimmt. Wenn ihm beispielsweise zu Heidi Klum einfällt: "ihr blick ist vom vorüberziehen an linsen / so leer, als wäre zwischen kinn und stirn / nur werbefläche". Dann braucht er zwar Rilkes "Panther" als Hilfe für sein Gedicht, dafür funkeln seine Gemeinheiten den Lesern dann aber auch wie der versgewordene böse Blick entgegen. Beglückend sind auch jene Gedichte, die eine ansteckende Heiterkeit ausstrahlen, die Pfiff haben oder wie in diesem Fall eher Summ: "Ich summte in Madrid / mal eine Melodie, / und du erkanntest sie / und summtest leise mit." Doch solche Perlen sind rar. Das gilt ebenfalls für die Coverversionen und die Shakespeare-Übersetzungen, die beide am Vereinfachungssyndrom leiden. Da mag der Dichterkollege Hellmuth Opitz behaupten, Kraussers Shakespeare-Übersetzungen legten den Kern der Sonette frei. Aber selbst wenn Gedichte tatsächlich, wie die Obstanalogie nahelegt, einen Kern hätten - mit der Krausserschen Kerndiät verlieren sie jede Finesse. Spielen die Originale mit allen Formvarianten des Sonetts, kennen die Übersetzungen nur das schnöde 4:4:3:3. Inszenieren die Liebesgedichte feinste Nuancen taktiler Annäherung, kennt Krausser nur den Begriff "Berührung".
So sieht es leider auch bei den Coverversionen aus. Da erkundet Christian Morgenstern die Sitzgewohnheit des "ästhetischen Wiesel", das bevorzugt auf einem Kiesel Platz nimmt. Und der begnadete Poetozoologe kommt zu dem Schluss: "Das raffinier / te Tier / tat's um des Reimes willen." Poetisch nicht unbegabt das Tierchen, aber eben nichts gegen den Meister selbst, dessen Pointe weit über das Reimen hinausgeht. Und Krausser? Seine Schwäne plagt Migräne. Das war's. Und damit spielt er in der Reimliga der ästhetischen Wiesel, aber nicht der eines Morgenstern. Dieser Eindruck festigt sich, wenn Kraussers Verse eben nicht mit höchster Kunstfertigkeit das Einfache entwerfen, sondern ins Holpern, Stolpern, Hinken geraten. Zuerst sitzt das Anagramm schief: "komasaufen? / amoklaufen?", dann zwängt Krausser den Satz in eine Versform, als müsste er ihm alle Knochen brechen: "zwischen beiden / sich entscheiden / müssen, weist / doch hin, zumeist / auf einen zwang / zum schaffensdrang". Zwanglos kommt dieser Satz sicher nicht daher. In anderen Fällen klemmt die Prosodie: "Oben bei den Sternen wohnt / die Poesie, für die es sich / zu schreiben und zu sterben lohnt." Bei der Poesie liegt nach Krausser der Akzent also auf dem "Po". Oder sollte das etwa eine Anspielung auf den in den Gedichten kultivierten Sexismus sein? Das wäre zwar nicht lustig, aber gut möglich. Denn eine der anfangs aufgelisteten Lieblingsrollen ist ja noch offen: Krausser gefällt sich als Frauenheld alter Schule, der einen aus unerfindlichen Gründen noch einmal mit allen Muskelspielen des männlichen Chauvinismus behelligt. Das wirkt beinahe kindisch, zumal selbst die Kategorie "Über 18" letztlich nur Infantiles bietet. Was also tun, wenn sich hinter der großen Pose nur in Ausnahmefällen Poesie verbirgt? Statt wie Krausser Zensuren zu verteilen, folgen wir lieber seiner Hochkultur-Popverschnitt-Logik und empfehlen: Warten Sie auf die erste Single-Auskopplung aus dem Band.
CHRISTIAN METZ
Helmut Krausser: "Verstand & Kürzungen". Gedichte. DuMont Verlag. Köln 2014. 224 S. geb., 22,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Da klemmt die Prosodie, meint Christian Metz wortspalterisch. Bei Helmut Kraussers Gedichten schaut er ganz genau hin, schließlich möchte es der Autor gern mit Shakespeare aufnehmen und über die Schwurbelpoeten macht er sich nur lustig. Den Crossover zwischen Pop und Klassik beherrscht Krausser zwar, gibt Metz zu, und das Großkotzige kann amüsant sein, so wenn Krausser mit Rilke den toten Blick von Heidi Klumm verdichtet. Doch dergleichen ist rar in diesem Band, warnt der Rezensent, und hinter der großen Pose bei diesem Autor versteckt sich nur ausnahmsweise auch große Poesie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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