Sorgfältig recherchierte Lebensgeschichten, geprägt von der Grausamkeit des NS-Regimes
Das Lesen mancher Kapitel ist bedrückend, manchmal sogar sehr bedrückend. Kinder und Jugendliche, die bis März 1938 miteinander in die Schule gingen, wurden von einem Tag auf den anderen vom Unterricht
ausgegrenzt. In der sogenannten Reichskristallnacht im November 1938 mussten sie zuschauen, zumindest…mehrSorgfältig recherchierte Lebensgeschichten, geprägt von der Grausamkeit des NS-Regimes
Das Lesen mancher Kapitel ist bedrückend, manchmal sogar sehr bedrückend. Kinder und Jugendliche, die bis März 1938 miteinander in die Schule gingen, wurden von einem Tag auf den anderen vom Unterricht ausgegrenzt. In der sogenannten Reichskristallnacht im November 1938 mussten sie zuschauen, zumindest mithören, wie ihre Väter erschossen, erstochen oder erschlagen und ihre Mütter gedemütigt und geschlagen wurden. Aber vielen Kinder und Jugendlichen wurden schon vor dem Anschluss und auch noch danach bis Anfang 1939 mit Kindertransporten nach England oder Palästina geschickt. Daher habe viele von ihnen überlebt. Sie und ihre Nachfahren stellten private Dokumente und Erinnerungen für dieses Buch zur Verfügung.
Als sehr hilf- und aufschlussreich habe ich den Teil 1 empfunden. Darin werden von der Autorin gut verständlich die Geschichte der Juden in Vorarlberg und Tirol sowie die Hintergründe geschildert, wie es zu der Vertreibung der Kinder und Jugendlichen kam und welchen Neuanfang sie in der Welt erlebten. Obwohl dieser Teil 1 stark auf Geschichte der Juden in Vorarlberg und Tirol zugeschnitten ist, gibt er doch einen sehr guten Einblick in die damalige Lebenssituation dieser Menschen und deren Geschichten. Ein Kapitel beschäftigt sich auch mit dem Thema Integration in den neuen Heimatländern oder zurück nach Österreich (was offenbar die Wenigsten wollten).
Im Teil 2 – Hundert oder mehr Geschichten – wird das Lesen dann abschnittsweise beklemmend. Die damalige Kinder und Jugendlichen erinnern sich heute für das Buch an die Gräuel des Novemberpogroms, an die Demütigungen in der Schule und bei ärztlichen Behandlungen, bei der Besorgung der Ausreisedokumente und selbst in den Fluchtländern wurden sie nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als „Feinde“ interniert. Einer dieser jungen Männer meldete sich zur britischen Armee. Ihm gelang es als Besatzungssoldat in Österreich zwei der Mörder seines Vaters ausfindig zu machen. Dem einen gelang jedoch die Flucht, der andere wurde nicht verurteilt. Diese und andere Erlebnisse hat die Autorin akribisch zusammengetragen. Viele Personen haben ihr Familienbilder zur Verfügung gestellt, die noch unbeschwerte Kinder zeigen, wie im Beispiel von Ilse und Inge Brüll. Bei allen Familien gibt es einen Überblick über die Familie an sich, also kurze Informationen über die Großeltern und Eltern, über Großfamilien und Geschwister.
550 Fußnoten, ein zweiseitiges Literaturverzeichnis und eine Seite Quellenangaben sowie ein Abbildungsverzeichnis zeugen von der wissenschaftlichen Recherche der Autorin Gerda Hofreiter. Das Buch ist aber kein Lesebuch, da die Informationsdichte bei den einzelnen Familie derart konzentriert ist, um es in einem Stück lesen zu können. Es stellt vielmehr ein Nachschlagewerk dar, vor allem für die Innsbrucker Bevölkerung, was aus ihren einstigen Nachbarn, vielleicht auch Freunden wurde. Zwar wird die Generation, die sich derer noch erinnern kann, wohl bald tot sein, aber das Buch dokumentiert den dunkelsten Abschnitt in der Geschichte Tirols.