Ein freundlicher, dichter Meistertext
Vom 18. bis 20. Oktober 1974 lässt sich Perec zu unterschiedlichen Tageszeiten in Cafés und am Brunnen an der Place St. Sulpice nieder und notiert, was sich Touristen oder Reiseschriftsteller aufschreiben. Er schaut dem chaotischen Durchgangsleben rund um die Kirche zu, er registriert auch, was geschieht, wenn eigentlich nichts passiert. Unermüdlich neugierig darauf, wie die Wahrnehmungsbilder sein Denken verändern. Perec lesend, schärfen wir unseren eigenen Blick.
Vom 18. bis 20. Oktober 1974 lässt sich Perec zu unterschiedlichen Tageszeiten in Cafés und am Brunnen an der Place St. Sulpice nieder und notiert, was sich Touristen oder Reiseschriftsteller aufschreiben. Er schaut dem chaotischen Durchgangsleben rund um die Kirche zu, er registriert auch, was geschieht, wenn eigentlich nichts passiert. Unermüdlich neugierig darauf, wie die Wahrnehmungsbilder sein Denken verändern. Perec lesend, schärfen wir unseren eigenen Blick.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2011Platz da für die literarische Anschauung!
Der beste Ort für ein Spiel mit der Ortskenntnis ist immer noch die Literatur, wie Georges Perec beweist
"Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen", so heißt ein schmaler Text, den Georges Perec Mitte der siebziger Jahre schrieb. Und auch wenn Tobias Scheffel ihn nun exzellent übersetzt hat, lohnt ein kurzer Seitenblick auf den Originaltitel, "Tentative d'épuisement d'un lieu Parisien". Ausgeschöpft sollte werden, was ein bestimmter Pariser Platz - die Wahl fiel auf die Place Saint Sulpice - einem Betrachter an beiläufigen Eindrücken zu bieten hatte. Und zwar in angegebenen Zeiträumen an bestimmten Tagen des Oktober 1974 von ziemlich genau bezeichneten Blickpunkten aus.
Nun liegt auf der Hand, dass die tatsächlich erschöpfende Beschreibung eines so bestimmten Wahrnehmungsausschnitts eigentlich eine Unmöglichkeit ist. Genau darin lag für Perec wohl nicht zuletzt der Reiz dieses Selbstversuchs. Was dabei herauskam, ist ein Protokoll, das sich in die lange Reihe der Aufzählungen, Listen und Inventare fügt, in denen der 1982 verstorbene Perec exzellierte. In ihm geht es - zumindest für den Leser - weniger um einen geschärften Blick auf die im Protokoll festgehaltenen alltäglichen Begebnisse, sondern weit eher um die ständig präsente Frage, nach welchen Kriterien eigentlich deren notierte Auswahl zustande kommt.
Die Busse rollen, Fußgänger gehen vorbei, eine Frau sitzt auf einer Bank; ein Mann zieht einen Handkarren; Gegenstände mit bestimmten Farben machen sich bemerkbar, Tauben plustern sich im Brunnen, vorbei gehen auch Jean-Paul Aron und Paul Virilio, Anzeigen leuchten auf. Das Protokoll ist kunstlos, keine Prosa ist zu bewundern, die ihre Kraft aus den unscheinbaren Dingen, den Belegstücken des "Infra-Ordinären", zieht. Der Reiz, auf den Perec bei diesem Spiel setzt, ist abstrakter, steckt in der experimentellen Situation selbst, der sich der Betrachter als Protokollant unterwirft. Ein Experiment, für dessen Ausbau zu einer langen Folge von Texten es seit Ende der sechziger Jahre zumindest einen Plan gab: Zwölf Pariser Orte, in den zwölf Monaten des Jahres aufgesucht, jeweils einmal im direkten Protokoll festgehalten und einmal in der Erinnerung, nämlich an einem der anderen Orte, geschrieben, wobei niemals dieselben Orte kombiniert würden, und das Ganze über zwölf Jahre hinweg.
Das lässt zwar gleich an die kombinatorischen Exerzitien im Geiste des "Ouvroir de Littérature Potentielle" (Oulipo) denken. Doch die Elemente dieses aufgegebenen Tableaus - immerhin wären es fast dreihundert Protokolle geworden - sind eigentlich nicht durch künstliche Einschränkungen und Vorgaben bestimmt, wie sie den Oulipisten teuer waren, sondern durch die Grenzen der Aufmerksamkeit (oder auch der Erinnerung) selbst und die ihrer Konvertierung ins Notat, das seine eigene Entstehung dokumentiert.
Eine hübsche Versuchsanordnung jedenfalls, selbst dann, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, nur den einen, (fast) im Augenblick des Schreibens wahrgenommenen Platz vor der Kirche Saint Sulpice umfasst. Man kann als Leser sechsunddreißig Jahre später übrigens auch auf die Kulisse achten, die Perec bewusst nur kurz skizziert, wenn er die dort angesiedelten Behörden, Geschäfte und Unternehmen nennt. Jene Dinge also, die "beschrieben, inventarisiert, fotografiert, erzählt oder zahlenmäßig erfasst" sind und ihn gerade nicht interessierten, weil er ja notieren wollte, "was nicht bemerkt wird, was keine Bedeutung hat, das, was passiert, wenn nichts passiert", eben das "Infra-Ordinäre".
Achtet man also stattdessen auf den städtischen Hintergrund, so steht man heute vor zwei kleinen Cafés weniger, aber immerhin noch vor dem stattlichen "Café de la Mairie"; findet zwar den von Georges Perec erwähnten Bestatter nicht mehr, dafür aber ein zweites Devotionaliengeschäft (vielleicht ja auch der ehemalige Bestatter); sieht keine Schneiderei, sondern geht eine Reihe von schicken Markenläden ab, wie sie den teuersten Wohnlagen in diesem Pariser Arrondissement eben anstehen; und würde auch den großen Verlag vergeblich suchen, der schon seit einigen Jahren weggezogen ist. Aber dafür markieren doch das Bezirksrathaus und das Finanzamt, das Hotel Recamier und das Reisebüro die spürbare Dauerhaftigkeit der urbanen Bühne, auf der Georges Perec sich damals seine Standorte suchte. Und erst recht die von ihm so getreulich verzeichneten Buslinien, die dort noch immer ihre Haltestelle haben: Yves Saint-Laurent mag kommen und gehen, aber auf die RATP kann man eben verlässlich bauen.
HELMUT MAYER
Georges Perec: "Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen".
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Tobias Scheffel. Libelle Verlag, Konstanz 2010. 60 S., br., 12,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der beste Ort für ein Spiel mit der Ortskenntnis ist immer noch die Literatur, wie Georges Perec beweist
"Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen", so heißt ein schmaler Text, den Georges Perec Mitte der siebziger Jahre schrieb. Und auch wenn Tobias Scheffel ihn nun exzellent übersetzt hat, lohnt ein kurzer Seitenblick auf den Originaltitel, "Tentative d'épuisement d'un lieu Parisien". Ausgeschöpft sollte werden, was ein bestimmter Pariser Platz - die Wahl fiel auf die Place Saint Sulpice - einem Betrachter an beiläufigen Eindrücken zu bieten hatte. Und zwar in angegebenen Zeiträumen an bestimmten Tagen des Oktober 1974 von ziemlich genau bezeichneten Blickpunkten aus.
Nun liegt auf der Hand, dass die tatsächlich erschöpfende Beschreibung eines so bestimmten Wahrnehmungsausschnitts eigentlich eine Unmöglichkeit ist. Genau darin lag für Perec wohl nicht zuletzt der Reiz dieses Selbstversuchs. Was dabei herauskam, ist ein Protokoll, das sich in die lange Reihe der Aufzählungen, Listen und Inventare fügt, in denen der 1982 verstorbene Perec exzellierte. In ihm geht es - zumindest für den Leser - weniger um einen geschärften Blick auf die im Protokoll festgehaltenen alltäglichen Begebnisse, sondern weit eher um die ständig präsente Frage, nach welchen Kriterien eigentlich deren notierte Auswahl zustande kommt.
Die Busse rollen, Fußgänger gehen vorbei, eine Frau sitzt auf einer Bank; ein Mann zieht einen Handkarren; Gegenstände mit bestimmten Farben machen sich bemerkbar, Tauben plustern sich im Brunnen, vorbei gehen auch Jean-Paul Aron und Paul Virilio, Anzeigen leuchten auf. Das Protokoll ist kunstlos, keine Prosa ist zu bewundern, die ihre Kraft aus den unscheinbaren Dingen, den Belegstücken des "Infra-Ordinären", zieht. Der Reiz, auf den Perec bei diesem Spiel setzt, ist abstrakter, steckt in der experimentellen Situation selbst, der sich der Betrachter als Protokollant unterwirft. Ein Experiment, für dessen Ausbau zu einer langen Folge von Texten es seit Ende der sechziger Jahre zumindest einen Plan gab: Zwölf Pariser Orte, in den zwölf Monaten des Jahres aufgesucht, jeweils einmal im direkten Protokoll festgehalten und einmal in der Erinnerung, nämlich an einem der anderen Orte, geschrieben, wobei niemals dieselben Orte kombiniert würden, und das Ganze über zwölf Jahre hinweg.
Das lässt zwar gleich an die kombinatorischen Exerzitien im Geiste des "Ouvroir de Littérature Potentielle" (Oulipo) denken. Doch die Elemente dieses aufgegebenen Tableaus - immerhin wären es fast dreihundert Protokolle geworden - sind eigentlich nicht durch künstliche Einschränkungen und Vorgaben bestimmt, wie sie den Oulipisten teuer waren, sondern durch die Grenzen der Aufmerksamkeit (oder auch der Erinnerung) selbst und die ihrer Konvertierung ins Notat, das seine eigene Entstehung dokumentiert.
Eine hübsche Versuchsanordnung jedenfalls, selbst dann, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, nur den einen, (fast) im Augenblick des Schreibens wahrgenommenen Platz vor der Kirche Saint Sulpice umfasst. Man kann als Leser sechsunddreißig Jahre später übrigens auch auf die Kulisse achten, die Perec bewusst nur kurz skizziert, wenn er die dort angesiedelten Behörden, Geschäfte und Unternehmen nennt. Jene Dinge also, die "beschrieben, inventarisiert, fotografiert, erzählt oder zahlenmäßig erfasst" sind und ihn gerade nicht interessierten, weil er ja notieren wollte, "was nicht bemerkt wird, was keine Bedeutung hat, das, was passiert, wenn nichts passiert", eben das "Infra-Ordinäre".
Achtet man also stattdessen auf den städtischen Hintergrund, so steht man heute vor zwei kleinen Cafés weniger, aber immerhin noch vor dem stattlichen "Café de la Mairie"; findet zwar den von Georges Perec erwähnten Bestatter nicht mehr, dafür aber ein zweites Devotionaliengeschäft (vielleicht ja auch der ehemalige Bestatter); sieht keine Schneiderei, sondern geht eine Reihe von schicken Markenläden ab, wie sie den teuersten Wohnlagen in diesem Pariser Arrondissement eben anstehen; und würde auch den großen Verlag vergeblich suchen, der schon seit einigen Jahren weggezogen ist. Aber dafür markieren doch das Bezirksrathaus und das Finanzamt, das Hotel Recamier und das Reisebüro die spürbare Dauerhaftigkeit der urbanen Bühne, auf der Georges Perec sich damals seine Standorte suchte. Und erst recht die von ihm so getreulich verzeichneten Buslinien, die dort noch immer ihre Haltestelle haben: Yves Saint-Laurent mag kommen und gehen, aber auf die RATP kann man eben verlässlich bauen.
HELMUT MAYER
Georges Perec: "Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen".
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Tobias Scheffel. Libelle Verlag, Konstanz 2010. 60 S., br., 12,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Scheint eine Art "Cinema realite" zu sein, aber keineswegs reizlos. Drei Tage lang setzte sich Georges Perec im Jahre 1974 ins (heute noch existierende) Cafe de la Mairie auf der Place Saint-Sulpice im damals noch nicht so feinen 6. Arrondissment von Paris - und tat nichts weiter als zu notieren, was er sah. Stefan Zweifel beschreibt es in seiner Rezension sehr anschaulich, spricht von Perecs Oulipo-Ästhetik - der Auferlegung willkürlicher Regeln zur Erstellung von Literatur - und lässt immer wieder kleine Wahrnehmungsmomente Perecs Revue passieren. Eine Frau geht vorüber. Ein Frisee-Salat lugt aus ihrer Tasche. Wozu das gut sein soll? "Entrümpelt unseren Geist", ruft der Rezensent. Man hat Lust, es zu lesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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