Produktdetails
- Verlag: Opladen ; Wiesbaden : Westdt. Verl.
- ISBN-13: 9783531132761
- ISBN-10: 3531132768
- Artikelnr.: 28038797
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Wer bin ich? Jürgen Link entdeckt den Normalismus
Was ist normal, und wer entscheidet darüber? Die vielen oder die Spezialisten? Mit anderen Worten: Ist Normalität eine Frage der Quantität oder der Qualität? Im Wintersemester 1916/17 bat Sigmund Freud die Hörerinnen und Hörer seiner 23. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, kurz vom quantitativen Moment des seelischen Aufwands abzusehen, den die Bildung eines psychopathologischen Symptoms kostet: "So können Sie leicht sagen, daß wir alle krank, das ist neurotisch sind, denn die Bedingungen für die Symptombildung sind auch bei den Normalen nachzuweisen." Auf dem Umweg über die Qualität wird die Quantität hier allumfassend: Die Normalen sind nicht normal und umgekehrt. Mittlerweile ist diese zur Zeit Freuds noch unerhörte Feststellung ein Gemeinplatz.
In der Wissenschaftsgeschichte der Beweisführung ist im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts eine Verschiebung der Beweiskraft von der durch Autoritäten beglaubigten Herkömmlichkeit des Wissens zur aktuellen Selbstevidenz der Fakten zu verzeichnen. Die traditionellen Lehrmeinungen wichen neuen experimentellen Verfahren zur überprüfbaren Wiederholung dieser Selbstevidenz. In der dynamischen Psychologie führte die Privilegierung der Introspektion seit Karl Philipp Moritz' "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" schließlich zum Selbstexperiment. Freud etwa unterwarf sich einer Selbstanalyse, weil er die ausbleibende Trauer über den Tod seines Vaters als nicht normal ansah. Im Selbstexperiment wurden generell die Grenzen der Normalität erprobt und erforscht, die sich als zusehends fließender erwiesen - zur großen Bestürzung der Naturforscher, die immer auch eine heftige Erregung war.
So versuchte der englische Universalgelehrte Francis Galton, Autor der "Inquiries into the Human Faculty and its Development" (1883), der bei einem Selbstversuch, den Atmungsautomatismus seinem Willen zu unterwerfen, fast erstickt wäre, dadurch einen Eindruck vom Wahnsinn zu gewinnen, daß er alles, was ihm begegnete, "sei es Mensch, Tier oder leblos, mit den imaginären Eigenschaften eines Spions" versah. Der anschließende Morgenspaziergang führte beinahe in die Ausweglosigkeit: "Als ich eineinhalb Meilen gegangen war und die Droschkenstation in Picadilly am Ostende des Green Park erreicht hatte, schienen sämtliche Pferde mich zu beobachten, teils mit gespitzten Ohren, teils unter Tarnung ihrer Spionage. Stunden vergingen, bevor diese unheimliche Empfindung nachließ, und ich habe das Gefühl, daß ich sie nur allzu leicht wieder in Kraft setzen könnte."
Der französische Soziologe Auguste Comte beschritt den umgekehrten Weg: Durch einen Wahnsinnsanfall 1826 aus seiner enzyklopädischen Arbeitswut und aus seinem überhitzten Geschlechtsleben gerissen und von der "Manie" in die "Melancholie" gestürzt, tastete er sich Schritt für Schritt in die Normalität zurück. Dort angekommen, fand er in Francois-Joseph-Victor Broussais' Traktat "De l'irritation et de la folie" 1827 den Schlüssel zu seiner Erfahrung: Sein Wahnsinn war kein "wesenhaftes Fieber", sondern bloß die dynamische Überschreitung einer Normalitätsgrenze der "Erregung". Diese Normalitätsgrenze aber war gleitend, "alle beliebigen Phänomene des pathologischen Zustands" waren "grundsätzlich als einfache, gegenüber ihren üblichen Variationsgrenzen überzogene oder abgeschwächte Verlängerung von Phänomenen des Normalzustands aufzufassen". Diese Feststellung nannte Comte das "Broussaissche Prinzip".
Comtes Broussais-Lektüre war die Geburtsstunde des "Normalismus". So nennt Jürgen Link, Professor für Literaturwissenschaft und Diskurstheorie an der Universität Dortmund, das Netz der Strategien, die seit 1830 zur Festlegung der Grenze zwischen "Normalität" und "Anormalität" entwickelt worden sind. Sie lassen sich in zwei Gruppen einteilen, die allerdings ineinandergreifen: Der starren Grenzziehung des "Protonormalismus", die Link als Ausdruck der Angst vor dem Nicht-normal-Werden interpretiert, steht die geschmeidige Variante des "Flexibilitätsnormalismus" gegenüber, mit der ein "thrill" verbunden sein kann, der wiederum Angst weckt.
Link interessiert sich vor allem für die strategische Beweglichkeit normalistischer Modelle, ihre Entstehung und ihre Verankerung im kollektiven Diskurs. So umfaßte Francis Galtons Versuch, die soziologische Relevanz der Gaußschen "Normalverteilung" dadurch zu veranschaulichen, daß er Kügelchen auf dem sogenannten "Galton-Brett" aussiebte, die Möglichkeit, dieses zu "kippen" und dadurch den Durchschnitt nach oben zu verschieben. Das war der sozialhygienische Traum der Eugenik am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, die die protonormalistische Angst vor der biologischen Entartung am unteren Rand der Normalität schürte, um die Neigung zum oberen Rand zu fördern.
Die Gaußsche "Normalverteilung" ist ein Teil jener Kurvenlandschaft, die noch heute unsere Vorstellung von "Normalität" prägt. In einer Reihe von sogenannten "(nicht)normalen Fahrten" untersucht Link an literarischen Beispielen, die von Chamissos "Schlemihl" und Célines "Reise ans Ende der Nacht" bis zu Michael Endes "Momo" reichen, wie sich diese Kurvenlandschaft entwickelt, und kommt zum Schluß, daß die Reise in Richtung einer zunehmend flexibleren Selbstnormalisierung der Subjekte unter zunehmend chaotischen Bedingungen geht.
Geschult an Michel Foucault, ist Jürgen Links "Versuch über den Normalismus" ein vielseitiger Werkzeugkasten zur Analyse des Wissens, der Macht und des Selbstverhältnisses im Umgang mit der Unterscheidung zwischen Normalität und Anormalität. Allerdings ruft dieser Werkzeugkasten nach dem leidenschaftlichen, geduldigen bricoleur, denn Links Begriffsinstrumentarium ist sperrig. Wendungen wie: "ultralangdauerstabilisierte Substrate, wie ich den schillernden und meistens ideologisch aufgeladenen Begriff ,natürlich' verfremdend umschreiben möchte", sind keine Seltenheit.
Der Gewinn allerdings wiegt jede Mühe auf. Die Freudsche Psychoanalyse hat auf dem Weg zur allgemeinen Flexibilisierung des Normalismus eine entscheidende Rolle gespielt. Seither ist es mehr oder weniger normal, nicht normal zu sein. Aber erst Jürgen Link hat gezeigt, wie es dazu gekommen ist. MARTIN STINGELIN
Jürgen Link: "Versuch über den Normalismus". Wie Normalität produziert wird. Westdeutscher Verlag, Opladen 1997. 449 S., br., 69,80 DM.
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