Literatur kann dem Menschen zu Erkenntnissen verhelfen, die die Wissenschaften nicht liefern können. Insbesondere der Roman als umfassendste Literaturgattung eröffnet uns einen forschenden Blick auf uns selbst und die Gesellschaft. Zur Klärung der Frage, was der Roman für uns leisten kann, zieht Ernst-Wilhelm Händler Ideen und Begriffe aus der Systemtheorie, der Logik, Neurologie und Robotertechnik heran. In kompakter und hochkonzentrierter Form klärt er zunächst die Voraussetzungen des menschlichen Erkenntnisstrebens - Bewusstsein, Sprache, Erinnerung, Wahrnehmung und Gefühle -, um zu einer ganz eigenen, hoch inspirierenden Kulturtheorie zu finden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2015Romantheorie für Roboter
Schweres Gepäck: Ernst-Wilhelm Händler fragt, was wir aus Romanen lernen können, und geht dafür weite Wege
Während die Frage "Was ist ein Roman?" angesichts so weit voneinander entfernter Beispiele wie "Don Quixote" und "Die Wanderhure" immer schwieriger zu beantworten ist, steht eine andere, auch schon alte Frage gerade wieder hoch im Kurs: Was können wir aus Romanen lernen? Das "Wissen der Literatur" beschäftigt aktuell zahlreiche geisteswissenschaftliche Disziplinen. Angesichts eines derzeitigen Trends von Zwittertexten zwischen Sachbuch und Roman (jüngst etwa George Packers Amerika-Buch "Die Abwicklung") scheint die Frage aber auch für ein großes Lesepublikum von Interesse. Wenn nun ein Autor, dessen Romane neue wissenschaftliche und technische Errungenschaften stets im Blick haben, einen "Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument" vorlegt und sich damit schon durch den Titel in eine Reihe romantheoretischer Literatur stellt, die mit Friedrich von Blanckenburgs "Versuch über den Roman" (1774) beginnt, könnte das ja durchaus eine spannende Angelegenheit sein.
Ernst-Wilhelm Händler scheint aber eher eine systemtheoretische Studie anzustreben, die der Belletristik mit naturwissenschaftlicher Skepsis gegenübertritt. Er gräbt darin tief und erörtert zunächst Grundbegriffe wie Sprache, Realismus und Bewusstsein. Seine Gedankenbewegung gleicht dabei einer langen, grüblerischen Konzessivsatzkette, in der er nach lauter Einschränkungen endlich doch noch etwas Gutes an der schönen Literatur findet: Obwohl sie die Wissenschaft nicht ersetzen kann, obwohl sie nicht "wahr" ist und keine Beweise liefert, könne sie doch zusätzliche Beobachtungsebenen in die Wirklichkeit einziehen und gewisse "Abkürzungen" nehmen, um die Menschheit voranzubringen. Das ist aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers oder Ökonomen wahrscheinlich schon ein großes Lob. Von einem Romanautor hätte man vielleicht etwas mehr Euphorie erwartet.
Wie man aus der bewegten Geschichte der Romantheorie weiß, kann diese höchst unterschiedliche Formen annehmen - schwärmerische, philosophische, marxistische oder auch unterhaltsame. Aber die Schlegelsche Vorstellung von einer Theorie des Romans, die "selbst ein Roman sein müsste" und in der "Sancho von neuem mit Don Quixote scherzt", ist Händlers Sache wohl nicht. Bei ihm muss man sich auf eine kühl zergliedernde Sprache einstellen, die notwendige und hinreichende Bedingungen bedenkt. Selbst Benns "Roman des Phänotyp" wirkt daneben noch wie die reinste Lyrik.
Wenn Händler euphorisch über die Literatur spricht, klingt das etwa so: Sie liefere "einen Variantenpool für die Kombination von Emotionen und Kognitionen, der gut einsehbar ist und jederzeitigen Zugriff erlaubt". Unter solchen technokratischen Einlassungen kann man leicht übersehen, wie Händler letztlich doch gewisse romantische Annahmen verteidigt. Er glaubt zum Beispiel trotz allem noch an das gute alte Subjekt: "Es existiert keine einzige wissenschaftliche Theorie, die sich des Subjekts nicht entledigt hätte, vorzugsweise mit theatralischem Aplomb, und in die sich das Subjekt nicht, meist mit einer lustigen Verkleidung, durch die Hintertür wieder hereingeschlichen hätte." In Händlers Essay hätte man sich mehr Subjektivität gewünscht, ebenso viel mehr anschauliche Beispiele, die bekanntlich jedes Lernen erleichtern. Manchmal geht er gedanklich sehr weite Wege, um dann bei Erkenntnissen wie dieser anzulangen: "Ein Roman muss nicht die Vorgaben einer Forschungsgemeinschaft einhalten."
Als Romancier hat Händler schon oft sein Faible für Science-Fiction offenbart, zuletzt in seinem Roboterroman "Der Überlebende" (2011). Für einen solchen Autor ist die Frage nicht abwegig, ob in der Zukunft sich die biologische Ausstattung des Menschen fundamental ändern wird und die "einst prothetische Technologie sich verselbständigt", was dazu führt, dass Romane von Cyborgs geschrieben werden können. An Händlers Horizont scheint schließlich die auch heute schon gar nicht mehr allzu freaky wirkende Möglichkeit eines "planetarischen Brain-Net" auf, "in dem die Gehirne aller Menschen, nach dem Vorbild des Internet, direkt miteinander verbunden sind". Was das für die Romanform hieße, ist tatsächlich eine spannende Frage.
Unter dem Text von Händlers Essay fährt ein großes U-Boot mit, das mit allerhand Forschungsgeschichte beladen ist. An Bord hat es zum Beispiel Rezeptionsästhetik und Editionsphilologie, die in der folgenden Problematisierung des Werkbegriffs im digitalen Zeitalter deutlich durchscheinen: "Der Roman zu zwei verschiedenen Zeitpunkten kann nicht derselbe sein. Dem Philologen ist die Zeitlichkeit des Romans nicht nur Neben-, sondern Existenzbedingung seiner Profession, der neue Editionsstand des Werkes bedeutet ein anderes Werk."
Im Fließtext kommt Händler ohne Fußnoten und Verweise aus, der Verlag bewirbt sein Buch zudem als "nicht akademisch". Das ist ein legitimer Versuch, eine breitere Leserschaft anzusprechen, führt aber freilich etwas in die Irre - denn ganz offensichtlich greift der wissenschaftlich vielseitig beschlagene Autor auf eine Fülle akademischer Ideen und Konzepte zurück, deren Urheber am Schluss in einer zweiseitigen Liste "nützlicher nichtliterarischer Literatur" aufgeführt werden: Dort finden sich neben Kant, Hegel und Luhmann zahlreiche Sprachphilosophen, Linguisten, Psychologen, Hirnforscher oder auch Erfinder wie Ray Kurzweil.
Und das ist ja auch gut so: Es ist so kühn wie lobenswert, ein solches Buch, das auch eine große interdisziplinäre Leistung darstellt, im Hauptprogramm eines Publikumsverlages zu veröffentlichen. Leichte Lektüre wird deswegen trotzdem nicht daraus. Am Ende erinnert Händlers Unterfangen auch ein bisschen an den überlieferten Ausspruch des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch, er habe mehr als tausend Menschen seziert, aber die Seele nicht gefunden.
JAN WIELE
Ernst-Wilhelm Händler: "Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument".
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 283 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schweres Gepäck: Ernst-Wilhelm Händler fragt, was wir aus Romanen lernen können, und geht dafür weite Wege
Während die Frage "Was ist ein Roman?" angesichts so weit voneinander entfernter Beispiele wie "Don Quixote" und "Die Wanderhure" immer schwieriger zu beantworten ist, steht eine andere, auch schon alte Frage gerade wieder hoch im Kurs: Was können wir aus Romanen lernen? Das "Wissen der Literatur" beschäftigt aktuell zahlreiche geisteswissenschaftliche Disziplinen. Angesichts eines derzeitigen Trends von Zwittertexten zwischen Sachbuch und Roman (jüngst etwa George Packers Amerika-Buch "Die Abwicklung") scheint die Frage aber auch für ein großes Lesepublikum von Interesse. Wenn nun ein Autor, dessen Romane neue wissenschaftliche und technische Errungenschaften stets im Blick haben, einen "Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument" vorlegt und sich damit schon durch den Titel in eine Reihe romantheoretischer Literatur stellt, die mit Friedrich von Blanckenburgs "Versuch über den Roman" (1774) beginnt, könnte das ja durchaus eine spannende Angelegenheit sein.
Ernst-Wilhelm Händler scheint aber eher eine systemtheoretische Studie anzustreben, die der Belletristik mit naturwissenschaftlicher Skepsis gegenübertritt. Er gräbt darin tief und erörtert zunächst Grundbegriffe wie Sprache, Realismus und Bewusstsein. Seine Gedankenbewegung gleicht dabei einer langen, grüblerischen Konzessivsatzkette, in der er nach lauter Einschränkungen endlich doch noch etwas Gutes an der schönen Literatur findet: Obwohl sie die Wissenschaft nicht ersetzen kann, obwohl sie nicht "wahr" ist und keine Beweise liefert, könne sie doch zusätzliche Beobachtungsebenen in die Wirklichkeit einziehen und gewisse "Abkürzungen" nehmen, um die Menschheit voranzubringen. Das ist aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers oder Ökonomen wahrscheinlich schon ein großes Lob. Von einem Romanautor hätte man vielleicht etwas mehr Euphorie erwartet.
Wie man aus der bewegten Geschichte der Romantheorie weiß, kann diese höchst unterschiedliche Formen annehmen - schwärmerische, philosophische, marxistische oder auch unterhaltsame. Aber die Schlegelsche Vorstellung von einer Theorie des Romans, die "selbst ein Roman sein müsste" und in der "Sancho von neuem mit Don Quixote scherzt", ist Händlers Sache wohl nicht. Bei ihm muss man sich auf eine kühl zergliedernde Sprache einstellen, die notwendige und hinreichende Bedingungen bedenkt. Selbst Benns "Roman des Phänotyp" wirkt daneben noch wie die reinste Lyrik.
Wenn Händler euphorisch über die Literatur spricht, klingt das etwa so: Sie liefere "einen Variantenpool für die Kombination von Emotionen und Kognitionen, der gut einsehbar ist und jederzeitigen Zugriff erlaubt". Unter solchen technokratischen Einlassungen kann man leicht übersehen, wie Händler letztlich doch gewisse romantische Annahmen verteidigt. Er glaubt zum Beispiel trotz allem noch an das gute alte Subjekt: "Es existiert keine einzige wissenschaftliche Theorie, die sich des Subjekts nicht entledigt hätte, vorzugsweise mit theatralischem Aplomb, und in die sich das Subjekt nicht, meist mit einer lustigen Verkleidung, durch die Hintertür wieder hereingeschlichen hätte." In Händlers Essay hätte man sich mehr Subjektivität gewünscht, ebenso viel mehr anschauliche Beispiele, die bekanntlich jedes Lernen erleichtern. Manchmal geht er gedanklich sehr weite Wege, um dann bei Erkenntnissen wie dieser anzulangen: "Ein Roman muss nicht die Vorgaben einer Forschungsgemeinschaft einhalten."
Als Romancier hat Händler schon oft sein Faible für Science-Fiction offenbart, zuletzt in seinem Roboterroman "Der Überlebende" (2011). Für einen solchen Autor ist die Frage nicht abwegig, ob in der Zukunft sich die biologische Ausstattung des Menschen fundamental ändern wird und die "einst prothetische Technologie sich verselbständigt", was dazu führt, dass Romane von Cyborgs geschrieben werden können. An Händlers Horizont scheint schließlich die auch heute schon gar nicht mehr allzu freaky wirkende Möglichkeit eines "planetarischen Brain-Net" auf, "in dem die Gehirne aller Menschen, nach dem Vorbild des Internet, direkt miteinander verbunden sind". Was das für die Romanform hieße, ist tatsächlich eine spannende Frage.
Unter dem Text von Händlers Essay fährt ein großes U-Boot mit, das mit allerhand Forschungsgeschichte beladen ist. An Bord hat es zum Beispiel Rezeptionsästhetik und Editionsphilologie, die in der folgenden Problematisierung des Werkbegriffs im digitalen Zeitalter deutlich durchscheinen: "Der Roman zu zwei verschiedenen Zeitpunkten kann nicht derselbe sein. Dem Philologen ist die Zeitlichkeit des Romans nicht nur Neben-, sondern Existenzbedingung seiner Profession, der neue Editionsstand des Werkes bedeutet ein anderes Werk."
Im Fließtext kommt Händler ohne Fußnoten und Verweise aus, der Verlag bewirbt sein Buch zudem als "nicht akademisch". Das ist ein legitimer Versuch, eine breitere Leserschaft anzusprechen, führt aber freilich etwas in die Irre - denn ganz offensichtlich greift der wissenschaftlich vielseitig beschlagene Autor auf eine Fülle akademischer Ideen und Konzepte zurück, deren Urheber am Schluss in einer zweiseitigen Liste "nützlicher nichtliterarischer Literatur" aufgeführt werden: Dort finden sich neben Kant, Hegel und Luhmann zahlreiche Sprachphilosophen, Linguisten, Psychologen, Hirnforscher oder auch Erfinder wie Ray Kurzweil.
Und das ist ja auch gut so: Es ist so kühn wie lobenswert, ein solches Buch, das auch eine große interdisziplinäre Leistung darstellt, im Hauptprogramm eines Publikumsverlages zu veröffentlichen. Leichte Lektüre wird deswegen trotzdem nicht daraus. Am Ende erinnert Händlers Unterfangen auch ein bisschen an den überlieferten Ausspruch des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch, er habe mehr als tausend Menschen seziert, aber die Seele nicht gefunden.
JAN WIELE
Ernst-Wilhelm Händler: "Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument".
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 283 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Netter Versuch, meint Jan Wiele angesichts der Verpackung von Ernst-Wilhelm Händlers laut Rezensent durchaus akademischer romantheoretischer Einlassung als Publikumsrenner in spe. Daran, dass Händlers mit wissenschaftlichen Ideen und Konzepten aus Rezeptionsästhetik und Editionsphilologie um sich werfende Studie ein breiteres Publikum erreichen wird, hat Wiele noch so seine Zweifel. Auch wenn der Autor den Fließtext von Fußnoten und Verweisen freihält, wie Wiele einräumt. Kühn und als interdisziplinäres Projekt lobenswert findet er den Essay dennoch. Noch kühner hätte er ihn freilich gefunden, hätte der Romancier Händler seinen sprachlichen und inhaltlichen Technokratismus manchmal gegen etwas mehr Subjektivität und Euphorie eingetauscht. Denn am Ende, meint Wiele, findet selbst Händler noch etwas Gutes an der schönen Literatur.
© Perlentaucher Medien GmbH
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[...]zu einer anstrengenden, aber auch anregenden Lektüre, die hoffentlich viele Diskussionen anstößt: darüber, was ein Roman eigentlich ist, was seine Rezeption bewirkt. Wolfgang Seibel ORF 20140914