1989 veröffentlichte Peter Handke den Versuch über die Müdigkeit, ein Jahr danach folgte der Versuch über die Jukebox. Den vorläufigen Abschluß dieser erzählerischen Umkreisungen des Alltags bildete der Versuch über den geglückten Tag. Zwanzig Jahre später legt er einen neuen Versuch vor: Versuch über den Stillen Ort. "Lang lang ist es her, daß ich einen Roman des englischen Schriftstellers A.J. - ,Archibald Joseph', wenn ich mich nicht irre - Cronin gelesen habe, in einer deutschen Übersetzung, mit dem Titel ,Die Sterne blicken herab'. Es war ein ziemlich dickes Buch, aber es liegt nicht an dem Autor und seiner Geschichte, die mich damals mitgenommen und begeistert hat, daß ich mich an kaum welche Einzelheiten erinnern kann. Was mir von dem Roman geblieben ist, neben den Sternen, die fortwährend herabblicken: Eine englische Bergwerksgegend und die Chronik einer darbenden Bergleutefamilie, abwechselnd mit jener von betuchten Besitzern (wiederum: ,wenn ich mich nicht irre'). Viel später, angesichts des Films ,Wie grün war mein Tal', von John Ford, gaukelten, im guten Sinn, die Bilder der Gesichter und Landschaften mir vor, daß es sich da, obwohl ich's doch besser wußte, nicht etwa um eine Verfilmung von Richard Llewellyns ,How Green My Valley was', vielmehr von Cronins ,The Stars Are Looking Down' handelte. Dabei habe ich doch von dem Epos der herabblickenden Sterne eine einzige Einzelheit behalten. Aber diese geht mir bis zum heutigen Tag nach, und sie ist es auch, welche den Ausgangspunkt für mein nun fast schon lebenslanges Umkreisen und Einkreisen des Stillen Orts und der stillen Orte bildet, und mit der jetzt hier dementsprechend der Anfang des Versuchs darüber gemacht werden soll."
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
So abwegig und amüsant sich der "Versuch über den Stillen Ort" auch anhört: Peter Handkes neues Buch fügt sich harmonisch ins Œvre des Autors und ist durchaus nicht ironisch gemeint, beteuert Adam Soboczynski. Schon in seinen früheren "Versuchen" über die Müdigkeit, die Jukebox und den geglückten Tag sei es dem Autor schließlich darum gegangen, das "Alltagsbanale ins Zentrum" zu rücken und dadurch von seiner scheinbaren Banalität zu befreien. Und was gibt es schon Banaleres als die Toilette? Wobei sie hier kaum ihrer ursprünglichen Bestimmung dient, sondern vor allem als Ausweich- und Rückzugsraum fungiert. Richtig so, meint der Rezensent, denn das eigentliche Geschäft verrichtet Handke mit diesem Band metaphorisch selbst - was ist Literatur schließlich anderes als "das Lesen, das Verdauen von Gelesenem und das, pardon, Ausscheiden von eigentümlich Neuem?"
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2012Eine Frage des Lichts
Siebzig Jahre Peter Handke: Über durchsichtige Buchstaben, den Briefwechsel mit seinem Verleger und Reisen an die stillsten Orte der Welt
Die Kunst des Beginnens und immer wieder Neu-Beginnens ist vielleicht seine größte Kunst. Auch jetzt wieder, beim Lesen von Peter Handkes bisher letztem Buch, dem "Versuch über den Stillen Ort", hat man das Gefühl, dass es wieder so leicht und neu anfängt, wie ein allererstes Werk. Obwohl er mit so tiefem Greisenatem anhebt, dass man beim einleitenden "Lang lang ist es her" schon an den Beginn von Thomas Manns "Joseph"-Romanen denken kann, kommt doch schon in der dritten Zeile ein schlenkernd selbstbezweifelndes "wenn ich mich nicht irre" dazwischen, und das neue Erzählen beginnt.
Am kommenden Donnerstag wird Peter Handke siebzig Jahre alt. Die meisten seiner Bücher lesen sich sehr jung und gegenwärtig und leichtgewichtig. Vor allem im Gegensatz zu den Büchern der mehr als zehn Jahre älteren ewigen Platzherren der deutschen Literatur Walser und Grass fällt es auf. Deren Bücher tragen ja immer die Zentnerlasten eines Lebenswerkes auf den Buchstaben. Und ihr Generationsgenosse Enzensberger inszeniert seine immer neue sprunghafte Fliegender-Roberthaftigkeit manchmal etwas überselbstbewusst. Handke inszeniert auch, klar. Handke ist ein Inszenierungskünstler von den Anfängen in Princeton an. Aber seine Bücher lesen sich uninszeniert, ehrlich und direkt. Natürlich ist man als Leser froh, dass die "Jugoslawien-Phase" vorüber ist, weitgehend vorüber, in der er seine radikale Subjektivität kämpferisch gegen eine ganze Welt in Stellung brachte. In diesem aussichtslosen Kampf musste alle Leichtigkeit verlorengehen. Dass er sie wiedergewonnen hat, ist ein Triumph. Und wenn er jetzt im "Versuch über den Stillen Ort" beklagt, dass in einem Reiseführer zu den schönsten Toiletten der Welt ausgerechnet die herrlich-stillen serbischen Toiletten unterschlagen wurden, hört man das Lachen des Autors beim Lesen mit.
Das Buch ist ein Rückzugsbuch, wieder mal. Die meisten Handke-Bücher sind das ja. Blick nach innen, Sehnsucht nach Stille, Weite, echten Wörtern. Man kann das alles jetzt im Briefwechsel mit seinem Verleger Siegfried Unseld nachlesen, der in diesen Tagen erscheint. Seine ganze Poetologie ist darin enthalten, die Geschichte einer Entfaltung. An der Oberfläche wird das Spiel gespielt wie in allen Briefwechseln, die man von Unseld mit seinen Autoren kennt: Der eine (der Dichter Koeppen/Frisch/Bernhard/etc.) fühlt sich verkannt, ungeliebt, missachtet, unter einem Dach mit lauter Trotteln, Nichtskönnern, Aufmerksamkeitssaugern - und der andere (Unseld) leidet, macht alles falsch, lobt falsch, liest falsch, lobt zu spät, zu früh, im falschen Ton, lässt sich beschimpfen, ausnehmen, prügeln, bis es ihm irgendwann einmal reicht. Und zwar, so mein Eindruck - reichte es Unseld bei jedem seiner Autoren, die allesamt ihm gegenüber das Sozialverhalten von ungefähr Fünfjährigen an den Tag legten - genau einmal. Einmal im Leben schimpft er zurück. (Legendär nach der missratenen Geburtstagsfeier zu Frischs 60. in New York: "Ein für alle Mal: ein Verleger ist kein Hund!") Danach ist das Verhältnis zwischen Autor und Verleger meist klarer.
Im Falle Handke dauerte es lange, bis sich eine Art kämpferisches Gleichgewicht einstellte. Der 22-jährige Debütant, der da im Sommer 1965 mit seinem ersten Manuskript, den "Hornissen", vor dem Verleger stand, war doch ein gar zu bleiches, dünnes Bürschchen, als dass der Großkörper Unseld ihn wirklich hätte bemerken können. Handke hat sich später erinnert: "Siegfried Unseld nicht nur im Dastehen mitten im Raum gar übermächtig." Und auch später, wenn ihn der Verleger zu Hause besuchen wird, klagt Handke, dass er keine Sitzgelegenheit habe, die diesem Mann genügend Platz biete. Unseld seinerseits ist von Anfang an bemüht, nicht zu viel Selbstbewusstsein bei dem bleichen Neuling mit der großen Brille aufkommen zu lassen: "Werden Sie bloß nicht übermütig", war seine Botschaft an den Debütanten, der sich über eine freundliche Besprechung seines Erstlingswerkes in der F.A.Z. etwas zu überschwänglich zu freuen drohte. "Werden Sie bloß nicht übermütig" - der Verleger ahnte vielleicht, was da auf ihn zukommen könnte, so mit den Jahren.
Übermut wird in allen Spielarten an der Verlegerperson ausprobiert. Kein Vorwurf ist zu absurd, um nicht vorgebracht zu werden. Die Startauflage seiner Bücher ist entweder zu hoch oder zu niedrig, Anzeigen werden zu viele oder zu wenige geschaltet, am Anfang beklagt sich Handke, seine Bücher seien zu teuer, am Ende sind sie zu billig, die Umschläge des legendären Buchgestalters Willy Fleckhaus sind immer falsch. (Unseld versucht es da einmal mit einer ebenfalls übermütigen Replik: "Ja, der Fleckhaus-Umschlag ist vielleicht zu perfekt.") Aber Übermut ist hier nur einem gestattet.
Also Peter Handke probiert an Demütigungsideen so ziemlich alles aus, was das Autor-Verleger-Verhältnis bietet. Aber er ist da keineswegs bösartiger und quälfreudiger als zum Beispiel Thomas Bernhard. Dessen erstes Buch Handke noch atemlos und begeistert gelesen hatte, den er aber schon bald als geistlosen, literaturfeindlichen und uninteressanten (dabei vor allem zu sehr von Unseld geliebten) Zeitgenossen abtat und das auch gerne öffentlich erklärte, wohl wissend, in welch neue Nöte das den gemeinsamen Verleger wieder bringen würde. Das ist ja das Lieblingsspiel aller Suhrkamp-Autoren: vom Verleger ein für alle Mal zu erfahren, wer ihm der wichtigste ist. Peter Handke musste etwa dreißig Jahre warten, bis ihm Unseld das erlösende: "Sie sind der wichtigste Autor des Verlages" schreibt. (Ein Superlativ, der nicht gerade dazu angetan war, den Übermut des Autors einzudämmen.)
Einmal, im Frühjahr 1974, sitzen sie zusammen mit Jeanne Moreau und Gérard Depardieu in einem Restaurant in Paris. Die beiden hatten mit großem Erfolg in der Inszenierung von Handkes "Linkshändiger Frau" gespielt. Unseld staunt über den bezaubernden, locker Französisch parlierenden, über alle Maßen charmanten Peter Handke. Dann macht er den Fehler, ein Gastspiel des Stückes in Wiesbaden vorzuschlagen, beziehungsweise er teilt mit, dass es dafür schon Pläne gäbe. Jeanne Moreau gerät außer sich, was er sich einbilde, sie habe keine Zeit, wurde nicht gefragt und so weiter. Unselds Französisch ist schlecht, er lässt sich beschimpfen, versteht nur die Hälfte. Handke, so notiert er in seinem Journal, schweigt. Unseld versucht zu beruhigen, schlägt eine Fernsehaufzeichnung des Stückes vor, was nun erst recht zu einer Moreau-Explosion führt. Warum er sich nicht schon längst darum gekümmert habe, jetzt sei es dafür zu spät und eine Schande und so weiter. Handke: schwieg weiter. Unseld ist schuld, wie immer. Am Ende sind die Schauspieler weg, Verleger und Autor sitzen da. Unseld schreibt: "Wir saßen noch lang nach Mitternacht da und dachten über den Zorn der Jeanne Moreau nach."
So haben sie oft beisammen gesessen. Oft geschwiegen. Unseld beschwert sich manchmal in seinem Journal, dass Handke nichts frage, dass es so viele Gesprächspausen gäbe. Handke erinnert sich später, dass er oft und gerne mit Unseld geschwiegen habe. Schon früh, als Unseld ihm die Nachricht vom Selbstmord seiner Mutter überbringen musste. Handke lebte im Taunus, ohne Telefon. "Belebend: Zum erstenmal durch diesen besonderen Menschen sich angeschaut zu spüren, skeptisch, dabei mit großen Augen, ohne Sprechen. Was vorher ein Hindernis war, war ja immer diese Verlegersprache, die Sprechsprache."
Das ist jetzt keineswegs so böse gemeint, wie es vielleicht klingt. Es war für beide ein langer Lernprozess, vor allem für Unseld. Diese sonderbare Handkesche Wörtermagie, Sprechmagie und Schreibmagie, der musste er sich langsam und behutsam annähern. Wie oft beschwert sich Handke, dass er seine Bücher nicht "wirklich" gelesen habe, dass er nicht "wirklich" gelobt habe, dass er bei einem Gespräch nicht "wirklich" anwesend gewesen sei. Handke hat Unseld einmal "das verkörperte Prinzip Wirklichkeit" genannt. Tatsächlich war aber immer er, Handke, der Wirklichkeitsüberprüfer. Er spürt sofort, wenn Unseld nicht ehrlich ist. Wenn er nur scheinbar lobt. Peter Handke hat ein untrügliches Gespür für Ehrlichkeit, hat man das Gefühl beim Lesen dieser Briefe. Denn Unseld war natürlich ein großer Verstellungsmeister. Er wusste, es kam darauf an, die Bücher seiner liebebedürftigen Autoren allesamt so emphatisch wie möglich zu loben. Handke hörte jeden falschen Zwischenton heraus. Und die waren manchmal gut versteckt. Nicht so schlecht wie in diesem Fall: "Das Buch wird seine Leser finden", hatte Unseld zu einem Werk geschrieben. Das hätte er besser nicht getan. Für diesen fatalen, lieblosen Satz will Handke augenblicklich den Verlag verlassen. Wie viel Mühe, wie viel ehrliche Verehrungsworte kostet es Unseld, den so Beleidigten zu besänftigen!
Handke hat unglaublich empfindliche Wahrnehmungsorgane. Das liest sich in diesen Briefen, wenn es fast ausschließlich um ihn und seine Empfindlichkeiten geht, meist lustig übertrieben. Es führt aber doch zum Kern von Handkes Wahrnehmungs- und also Schreibkunst. Sein Gehör, seine Sehkraft, Empfindlichkeit für falsche Töne, falsche Farben, Unehrlichkeit. Eine Genauigkeit, die er oft ins Schreiben zu übertragen vermag. Im März 1969, er schreibt gerade an der Erzählung "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter", schreibt er an Unseld: "Nach den Erfahrungen, die ich bis jetzt mit Sätzen gemacht habe, glaube ich, so durchsichtig schreiben zu können, daß ich auch wieder eine richtige Geschichte schreiben kann." ,Durchsichtig schreiben' - das kann man zum Beispiel einfach Quatsch nennen oder eine schöne Beschreibung für die Leichtigkeit und Durchlässigkeit, die Handkes Sprache in den besten Momenten auszeichnet. Man kann durch die Wörter hindurchsehen, wie durch eine Brille. Eine Sehhilfe für eine andere Sicht auf die Welt.
Vielleicht werden auch deshalb die Bücher Peter Handkes nicht langweilig, obwohl doch der immerselbe Mensch von der immerselben Welt erzählt. Die Verwandlungen, die der Erzähler erfährt, erfährt der Leser gleich mit ihm. Ohne dass es ein flaches autobiographisches Erzählen wäre. Es ist, um es mal maximal groß zusammenzufassen: Selbsterkenntnis als Welterkenntnis. Oder wie er im September 1977 an Unseld schrieb: "Nun hoffe ich wieder Ruhe zu finden zum Selbsterkennen, woraus dann die Formen fürs Schreiben kommen."
Einmal war Peter Handke dem Tode nahe. Im April 1976 erlitt er eine Herzattacke, lag mehrere Tage im Krankenhaus. Als er entlassen wurde, schrieb er in ein Notizbuch: "An diesem schönstmöglichen Tag der Welt gehe ich, aus dem Krankenhaus entlassen, umher mit dem Gefühl, ich hätte nichts versäumt, wenn ich jetzt tot wäre." Und weiter: "Ich muss, hier draußen, in der Stadt, herausfinden, wer ich bin, wer ich geworden bin." Seinem Verleger erzählt er, dass ihn die Lektüre von Goethes "Wahlverwandtschaften" geheilt habe. "Weißt Du, dass Bücher Medizin sein können?", fragt er Unseld unschuldig. Der kommentiert in seinem Journal: "Eine merkwürdige Frage von Peter Handke."
Schreiben ist eine existentielle Erfahrung und Lesen auch. Das bedeutet auf der anderen Seite auch, dass er - als das Original seines Manuskripts der "Wiederholung" auf dem Postweg verlorenging, dem Verleger ganz unaufgeregt und kühl und ernsthaft schreibt, dass er sich, wenn es keine Kopie des Manuskriptes gegeben hätte, im Falle des endgültigen Verlustes umgebracht hätte. Kein anderer Autor der Gegenwart hat so viele Autoren gefördert, gefordert und übersetzt. Sich immer wieder für andere Autoren, unbekannte vor allem, eingesetzt, wie gerade erst wieder in dem Text über Wolfgang Welt, den wir in unserem Feuilleton abgedruckt haben. Worin er schreibt, über ihn, über sich: "Was er so bezeichnet: das Leben jenseits der Historie und der Aktualitäten, und was für ein Leben! - so einmalig, wie eben der Wolfgang Welt einmalig, ein Fall, ist, und so universell, wie eben ich, der Leser, mit ihm, seinen Sekunden, seinen Bruchteilsekundensätzen mitstreune, mitirre, mithaspele, mitstolpere, mittapere." Das ist der Leser Handke, und so sind seine Leser, die Glücklichen, auch. Mittapernd. Mitirrend. Noch viele Bücher weit.
VOLKER WEIDERMANN
Peter Handke, Siegfried Unseld: "Der Briefwechsel". Hrsg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Suhrkamp, 700 Seiten, 39,95 Euro
Peter Handke: "Versuch über den Stillen Ort". Suhrkamp, 110 Seiten, 17,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Siebzig Jahre Peter Handke: Über durchsichtige Buchstaben, den Briefwechsel mit seinem Verleger und Reisen an die stillsten Orte der Welt
Die Kunst des Beginnens und immer wieder Neu-Beginnens ist vielleicht seine größte Kunst. Auch jetzt wieder, beim Lesen von Peter Handkes bisher letztem Buch, dem "Versuch über den Stillen Ort", hat man das Gefühl, dass es wieder so leicht und neu anfängt, wie ein allererstes Werk. Obwohl er mit so tiefem Greisenatem anhebt, dass man beim einleitenden "Lang lang ist es her" schon an den Beginn von Thomas Manns "Joseph"-Romanen denken kann, kommt doch schon in der dritten Zeile ein schlenkernd selbstbezweifelndes "wenn ich mich nicht irre" dazwischen, und das neue Erzählen beginnt.
Am kommenden Donnerstag wird Peter Handke siebzig Jahre alt. Die meisten seiner Bücher lesen sich sehr jung und gegenwärtig und leichtgewichtig. Vor allem im Gegensatz zu den Büchern der mehr als zehn Jahre älteren ewigen Platzherren der deutschen Literatur Walser und Grass fällt es auf. Deren Bücher tragen ja immer die Zentnerlasten eines Lebenswerkes auf den Buchstaben. Und ihr Generationsgenosse Enzensberger inszeniert seine immer neue sprunghafte Fliegender-Roberthaftigkeit manchmal etwas überselbstbewusst. Handke inszeniert auch, klar. Handke ist ein Inszenierungskünstler von den Anfängen in Princeton an. Aber seine Bücher lesen sich uninszeniert, ehrlich und direkt. Natürlich ist man als Leser froh, dass die "Jugoslawien-Phase" vorüber ist, weitgehend vorüber, in der er seine radikale Subjektivität kämpferisch gegen eine ganze Welt in Stellung brachte. In diesem aussichtslosen Kampf musste alle Leichtigkeit verlorengehen. Dass er sie wiedergewonnen hat, ist ein Triumph. Und wenn er jetzt im "Versuch über den Stillen Ort" beklagt, dass in einem Reiseführer zu den schönsten Toiletten der Welt ausgerechnet die herrlich-stillen serbischen Toiletten unterschlagen wurden, hört man das Lachen des Autors beim Lesen mit.
Das Buch ist ein Rückzugsbuch, wieder mal. Die meisten Handke-Bücher sind das ja. Blick nach innen, Sehnsucht nach Stille, Weite, echten Wörtern. Man kann das alles jetzt im Briefwechsel mit seinem Verleger Siegfried Unseld nachlesen, der in diesen Tagen erscheint. Seine ganze Poetologie ist darin enthalten, die Geschichte einer Entfaltung. An der Oberfläche wird das Spiel gespielt wie in allen Briefwechseln, die man von Unseld mit seinen Autoren kennt: Der eine (der Dichter Koeppen/Frisch/Bernhard/etc.) fühlt sich verkannt, ungeliebt, missachtet, unter einem Dach mit lauter Trotteln, Nichtskönnern, Aufmerksamkeitssaugern - und der andere (Unseld) leidet, macht alles falsch, lobt falsch, liest falsch, lobt zu spät, zu früh, im falschen Ton, lässt sich beschimpfen, ausnehmen, prügeln, bis es ihm irgendwann einmal reicht. Und zwar, so mein Eindruck - reichte es Unseld bei jedem seiner Autoren, die allesamt ihm gegenüber das Sozialverhalten von ungefähr Fünfjährigen an den Tag legten - genau einmal. Einmal im Leben schimpft er zurück. (Legendär nach der missratenen Geburtstagsfeier zu Frischs 60. in New York: "Ein für alle Mal: ein Verleger ist kein Hund!") Danach ist das Verhältnis zwischen Autor und Verleger meist klarer.
Im Falle Handke dauerte es lange, bis sich eine Art kämpferisches Gleichgewicht einstellte. Der 22-jährige Debütant, der da im Sommer 1965 mit seinem ersten Manuskript, den "Hornissen", vor dem Verleger stand, war doch ein gar zu bleiches, dünnes Bürschchen, als dass der Großkörper Unseld ihn wirklich hätte bemerken können. Handke hat sich später erinnert: "Siegfried Unseld nicht nur im Dastehen mitten im Raum gar übermächtig." Und auch später, wenn ihn der Verleger zu Hause besuchen wird, klagt Handke, dass er keine Sitzgelegenheit habe, die diesem Mann genügend Platz biete. Unseld seinerseits ist von Anfang an bemüht, nicht zu viel Selbstbewusstsein bei dem bleichen Neuling mit der großen Brille aufkommen zu lassen: "Werden Sie bloß nicht übermütig", war seine Botschaft an den Debütanten, der sich über eine freundliche Besprechung seines Erstlingswerkes in der F.A.Z. etwas zu überschwänglich zu freuen drohte. "Werden Sie bloß nicht übermütig" - der Verleger ahnte vielleicht, was da auf ihn zukommen könnte, so mit den Jahren.
Übermut wird in allen Spielarten an der Verlegerperson ausprobiert. Kein Vorwurf ist zu absurd, um nicht vorgebracht zu werden. Die Startauflage seiner Bücher ist entweder zu hoch oder zu niedrig, Anzeigen werden zu viele oder zu wenige geschaltet, am Anfang beklagt sich Handke, seine Bücher seien zu teuer, am Ende sind sie zu billig, die Umschläge des legendären Buchgestalters Willy Fleckhaus sind immer falsch. (Unseld versucht es da einmal mit einer ebenfalls übermütigen Replik: "Ja, der Fleckhaus-Umschlag ist vielleicht zu perfekt.") Aber Übermut ist hier nur einem gestattet.
Also Peter Handke probiert an Demütigungsideen so ziemlich alles aus, was das Autor-Verleger-Verhältnis bietet. Aber er ist da keineswegs bösartiger und quälfreudiger als zum Beispiel Thomas Bernhard. Dessen erstes Buch Handke noch atemlos und begeistert gelesen hatte, den er aber schon bald als geistlosen, literaturfeindlichen und uninteressanten (dabei vor allem zu sehr von Unseld geliebten) Zeitgenossen abtat und das auch gerne öffentlich erklärte, wohl wissend, in welch neue Nöte das den gemeinsamen Verleger wieder bringen würde. Das ist ja das Lieblingsspiel aller Suhrkamp-Autoren: vom Verleger ein für alle Mal zu erfahren, wer ihm der wichtigste ist. Peter Handke musste etwa dreißig Jahre warten, bis ihm Unseld das erlösende: "Sie sind der wichtigste Autor des Verlages" schreibt. (Ein Superlativ, der nicht gerade dazu angetan war, den Übermut des Autors einzudämmen.)
Einmal, im Frühjahr 1974, sitzen sie zusammen mit Jeanne Moreau und Gérard Depardieu in einem Restaurant in Paris. Die beiden hatten mit großem Erfolg in der Inszenierung von Handkes "Linkshändiger Frau" gespielt. Unseld staunt über den bezaubernden, locker Französisch parlierenden, über alle Maßen charmanten Peter Handke. Dann macht er den Fehler, ein Gastspiel des Stückes in Wiesbaden vorzuschlagen, beziehungsweise er teilt mit, dass es dafür schon Pläne gäbe. Jeanne Moreau gerät außer sich, was er sich einbilde, sie habe keine Zeit, wurde nicht gefragt und so weiter. Unselds Französisch ist schlecht, er lässt sich beschimpfen, versteht nur die Hälfte. Handke, so notiert er in seinem Journal, schweigt. Unseld versucht zu beruhigen, schlägt eine Fernsehaufzeichnung des Stückes vor, was nun erst recht zu einer Moreau-Explosion führt. Warum er sich nicht schon längst darum gekümmert habe, jetzt sei es dafür zu spät und eine Schande und so weiter. Handke: schwieg weiter. Unseld ist schuld, wie immer. Am Ende sind die Schauspieler weg, Verleger und Autor sitzen da. Unseld schreibt: "Wir saßen noch lang nach Mitternacht da und dachten über den Zorn der Jeanne Moreau nach."
So haben sie oft beisammen gesessen. Oft geschwiegen. Unseld beschwert sich manchmal in seinem Journal, dass Handke nichts frage, dass es so viele Gesprächspausen gäbe. Handke erinnert sich später, dass er oft und gerne mit Unseld geschwiegen habe. Schon früh, als Unseld ihm die Nachricht vom Selbstmord seiner Mutter überbringen musste. Handke lebte im Taunus, ohne Telefon. "Belebend: Zum erstenmal durch diesen besonderen Menschen sich angeschaut zu spüren, skeptisch, dabei mit großen Augen, ohne Sprechen. Was vorher ein Hindernis war, war ja immer diese Verlegersprache, die Sprechsprache."
Das ist jetzt keineswegs so böse gemeint, wie es vielleicht klingt. Es war für beide ein langer Lernprozess, vor allem für Unseld. Diese sonderbare Handkesche Wörtermagie, Sprechmagie und Schreibmagie, der musste er sich langsam und behutsam annähern. Wie oft beschwert sich Handke, dass er seine Bücher nicht "wirklich" gelesen habe, dass er nicht "wirklich" gelobt habe, dass er bei einem Gespräch nicht "wirklich" anwesend gewesen sei. Handke hat Unseld einmal "das verkörperte Prinzip Wirklichkeit" genannt. Tatsächlich war aber immer er, Handke, der Wirklichkeitsüberprüfer. Er spürt sofort, wenn Unseld nicht ehrlich ist. Wenn er nur scheinbar lobt. Peter Handke hat ein untrügliches Gespür für Ehrlichkeit, hat man das Gefühl beim Lesen dieser Briefe. Denn Unseld war natürlich ein großer Verstellungsmeister. Er wusste, es kam darauf an, die Bücher seiner liebebedürftigen Autoren allesamt so emphatisch wie möglich zu loben. Handke hörte jeden falschen Zwischenton heraus. Und die waren manchmal gut versteckt. Nicht so schlecht wie in diesem Fall: "Das Buch wird seine Leser finden", hatte Unseld zu einem Werk geschrieben. Das hätte er besser nicht getan. Für diesen fatalen, lieblosen Satz will Handke augenblicklich den Verlag verlassen. Wie viel Mühe, wie viel ehrliche Verehrungsworte kostet es Unseld, den so Beleidigten zu besänftigen!
Handke hat unglaublich empfindliche Wahrnehmungsorgane. Das liest sich in diesen Briefen, wenn es fast ausschließlich um ihn und seine Empfindlichkeiten geht, meist lustig übertrieben. Es führt aber doch zum Kern von Handkes Wahrnehmungs- und also Schreibkunst. Sein Gehör, seine Sehkraft, Empfindlichkeit für falsche Töne, falsche Farben, Unehrlichkeit. Eine Genauigkeit, die er oft ins Schreiben zu übertragen vermag. Im März 1969, er schreibt gerade an der Erzählung "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter", schreibt er an Unseld: "Nach den Erfahrungen, die ich bis jetzt mit Sätzen gemacht habe, glaube ich, so durchsichtig schreiben zu können, daß ich auch wieder eine richtige Geschichte schreiben kann." ,Durchsichtig schreiben' - das kann man zum Beispiel einfach Quatsch nennen oder eine schöne Beschreibung für die Leichtigkeit und Durchlässigkeit, die Handkes Sprache in den besten Momenten auszeichnet. Man kann durch die Wörter hindurchsehen, wie durch eine Brille. Eine Sehhilfe für eine andere Sicht auf die Welt.
Vielleicht werden auch deshalb die Bücher Peter Handkes nicht langweilig, obwohl doch der immerselbe Mensch von der immerselben Welt erzählt. Die Verwandlungen, die der Erzähler erfährt, erfährt der Leser gleich mit ihm. Ohne dass es ein flaches autobiographisches Erzählen wäre. Es ist, um es mal maximal groß zusammenzufassen: Selbsterkenntnis als Welterkenntnis. Oder wie er im September 1977 an Unseld schrieb: "Nun hoffe ich wieder Ruhe zu finden zum Selbsterkennen, woraus dann die Formen fürs Schreiben kommen."
Einmal war Peter Handke dem Tode nahe. Im April 1976 erlitt er eine Herzattacke, lag mehrere Tage im Krankenhaus. Als er entlassen wurde, schrieb er in ein Notizbuch: "An diesem schönstmöglichen Tag der Welt gehe ich, aus dem Krankenhaus entlassen, umher mit dem Gefühl, ich hätte nichts versäumt, wenn ich jetzt tot wäre." Und weiter: "Ich muss, hier draußen, in der Stadt, herausfinden, wer ich bin, wer ich geworden bin." Seinem Verleger erzählt er, dass ihn die Lektüre von Goethes "Wahlverwandtschaften" geheilt habe. "Weißt Du, dass Bücher Medizin sein können?", fragt er Unseld unschuldig. Der kommentiert in seinem Journal: "Eine merkwürdige Frage von Peter Handke."
Schreiben ist eine existentielle Erfahrung und Lesen auch. Das bedeutet auf der anderen Seite auch, dass er - als das Original seines Manuskripts der "Wiederholung" auf dem Postweg verlorenging, dem Verleger ganz unaufgeregt und kühl und ernsthaft schreibt, dass er sich, wenn es keine Kopie des Manuskriptes gegeben hätte, im Falle des endgültigen Verlustes umgebracht hätte. Kein anderer Autor der Gegenwart hat so viele Autoren gefördert, gefordert und übersetzt. Sich immer wieder für andere Autoren, unbekannte vor allem, eingesetzt, wie gerade erst wieder in dem Text über Wolfgang Welt, den wir in unserem Feuilleton abgedruckt haben. Worin er schreibt, über ihn, über sich: "Was er so bezeichnet: das Leben jenseits der Historie und der Aktualitäten, und was für ein Leben! - so einmalig, wie eben der Wolfgang Welt einmalig, ein Fall, ist, und so universell, wie eben ich, der Leser, mit ihm, seinen Sekunden, seinen Bruchteilsekundensätzen mitstreune, mitirre, mithaspele, mitstolpere, mittapere." Das ist der Leser Handke, und so sind seine Leser, die Glücklichen, auch. Mittapernd. Mitirrend. Noch viele Bücher weit.
VOLKER WEIDERMANN
Peter Handke, Siegfried Unseld: "Der Briefwechsel". Hrsg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Suhrkamp, 700 Seiten, 39,95 Euro
Peter Handke: "Versuch über den Stillen Ort". Suhrkamp, 110 Seiten, 17,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Beim Lesen von Peter Handkes Buch ... hat man das Gefühl, dass es wieder so leicht und neu anfängt, wie ein allererstes Werk.« Volker Weidermann Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20121202