Musik gilt als eine Kunst, die ohne Begriffe auskommt. Von zufälligen Tönen aber unterscheidet sie sich durch Strukturen, die denen der Sprache ähneln. Albrecht Wellmer erkennt in den zentralen Werken der Musik des 20. Jahrhunderts den Versuch, sprachliche Strukturen möglichst zu vermeiden: Sie setzt, etwa bei John Cage, auf das Prinzip Zufall oder lässt, etwa bei Helmut Lachenmann, das Geräusch gleichberechtigt neben dem Klang gelten. Wellmer versucht, eine Philosophie für die Neue Musik zu entwickeln, die ihrer Vielfalt gerecht wird. Das Verhältnis von Musik und Sprache ist für ihn eine Schlüsselkategorie, um die Herausforderungen zeitgenössischen Komponierens zu beschreiben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2009Vom Weltbezug der reinen Töne
Musik möchte hörend verstanden werden. Aber was tun wir dabei eigentlich? Albrecht Wellmer bringt musikalische Erfahrungen auf den Begriff.
Erschöpft von dem Versuch, den Weltbezug der Musik begrifflich klarer zu fassen, höre ich ein Klavierkonzert von Mozart und höre nichts als Musik, reine absolute Musik." Natürlich höre er, Albrecht Wellmer, gliedernd, artikulierend. Aber das sei eben nichts außerhalb der Musik, ein musikalischer, kein musikjenseitiger Sinn. "Es ist, als ob der Witz der Musik darin läge, die interpretierenden Leistungen des Gehörs vom Weltbezug der Töne weg- und zu ihrer puren Klanglichkeit bzw. ihren internen strukturellen Zusammenhängen hinzulenken." Musik, der Sinn der Musik, das sind Klänge und Strukturen, tönend bewegte Formen - wird irgendjemand außerhalb eines engen Kreises von Musikwissenschaftlern und eines noch engeren Kreises von Musikphilosophen das für eine angemessene Deutung seines eigenen Hörens halten? Hat es irgendeine Plausibilität, dass von reinen, sich selbst genügenden Klängen und Strukturen Menschen seit jeher erfreut oder zu Tränen gerührt werden?
Immerhin, die Wertschätzung autonomer Instrumentalmusik ist jüngeren Datums. Noch Goethe hat sie eher als Geräusch empfunden, und auch heute wird die weit überwiegende Mehrheit des Musikgebrauchs untermalenden Charakter haben. Beim Arbeiten, Einkaufen, Lesen stellt sie ein allgemeines Stimulans dar, und Film, Liedtext, Opernhandlung geben dem Verstehen einen Halt. Demgegenüber ist es eine kulturelle Leistung, einem Instrumentalwerk von Anfang bis Ende zuzuhören, ohne an irgendetwas anderes zu denken.
Doch dieses Musikstück wird dann als ausdrucksvoll genommen. Nicht in dem Sinne, dass wir uns bestimmte Gefühle oder gar eine Geschichte dabei vorstellen, sondern wir verstehen seinen Ausdruck, wie wir den Ausdruck eines Menschen oder einer Landschaft verstehen. Natürlich können wir den Ausdruck auch missverstehen, oder er kann uns unverständlich bleiben. Aber beides ist überhaupt nur möglich auf der Grundlage des Verstehens. Wer bloße Klänge und Strukturen wahrzunehmen behaupten wollte, verhielte sich wie jemand, der in einer friedlichen Landschaft nur Bäume, Weiden und Häuser sieht, aber keinen Frieden.
Was heißt Gelungenheit?
Die Kritik könnte unfair scheinen. Denn der "Versuch über Musik und Sprache" will eingreifen im Streit zwischen Formalisten und Hermeneutikern, zwischen - mit Friedrich Theodor Vischer gesprochen - Formhubern und Sinnhubern. Geschlichtet werden soll er durch den erkenntniskritischen Rückgang auf das "Explizitmachen der Verstehensvollzüge der ästhetischen Erfahrung". Die Philosophie hat die Rechtsprechung über die Inhalte der Kunst verloren, aber für Wellmer geradezu notwendig ist sie, um richtig zu verstehen, was wir machen, wenn wir mit Kunstwerken umgehen.
Und da liegt der bedeutsame Gedanke des Buches. Vielleicht trägt es allzu sehr die Spuren seiner Entstehung mit sich, wenn umständlich die Analogie zwischen Musik und Sprache diskutiert wird, natürlich mit dem Resultat, dass diese teils etwas trifft, teils in die Irre führt. Eigentlich jedoch geht es um das "esse est interpretari": Das Sein des Kunstwerkes besteht darin, interpretiert zu werden. Von seiner lebenslangen Beschäftigung mit Wittgenstein her hat Wellmer ein scharfes Bewusstsein dafür, wo alles Interpretieren hineinspielt und wie vielgestaltig das Interpretieren ist. Dieses Bewusstsein wiederum trägt er in sein lebensdurchgreifendes Interesse an Musik.
"Zum Musikmachen und Musikhören gehört ein Moment der Reflexion." Selbst das scheinbar reine Hören muss aus der Vielzahl möglicher Parameter und Kombinationen bestimmte auswählen, damit aus dem Geräuschfluss der Zusammenhang eines Werkes oder zumindest einer Melodie wird. In dieser Auswahl wird es von der Erfahrung geleitet. Wer zum ersten Mal ein Werk der niederländischen Renaissance oder der persischen Musik hört, nimmt kaum mehr wahr als ein vielleicht wohliges Tönen; erst nach vielfacher Wiederholung merkt man, auf was es ankommt. In das Hören fließt aber auch all das ein, was über Musik im Gespräch und zu lesen ist.
Die Musikwissenschaft freilich täuschte sich, wenn sie ihre formalen Analysen für objektiv und endgültig hielte. Auch sie wählt aus. Sie tut das vor dem Hintergrund von Fachtraditionen. So hebt Wellmer hervor, dass die motivisch-thematische Analyse, die mit der Schönbergschule dominant wurde und zur Zeit rapide an Bedeutung verliert, den Klangaspekt, die Instrumentation etwa, vernachlässigt. Vor allem aber analysieren Musikwissenschaftler vor dem Hintergrund von Hörerfahrungen. Sie halten etwas analytisch für wichtig, weil sie es beim Lesen der Partitur als wichtig hören. Und dieses innere Hören geht auf die Interpretationen zurück, die sie ihrerseits gehört haben. Musikalische Interpretationen werden zunehmend auch wissenschaftlich untersucht. Weit darüber hinausgehend, nimmt Wellmer nicht die Partitur, sondern die klangliche Realisierung als das eigentliche Werk.
Ihr Kriterium ist die Gelungenheit. Erst der ausführende Musiker macht die Probe aufs Exempel, ob der Anspruch der Partitur, einen ästhetisch schlüssigen Zusammenhang zu bezeichnen, berechtigt ist. Interpretationen aber existieren nur im Plural, weshalb es den Kritiker gibt. Auch ihn im Plural. Es dürfte noch nie so klar herausgestellt worden sein, dass erst das Zusammenspiel von Komponist, Musiker, Hörer, Wissenschaftler, Kritiker das Leben der Musik ausmacht. Hinzu kommen die anderen Künste. Eine Operninszenierung ist eine Interpretation der Musik. Auch die Verwendung eines Musikstücks als Filmmelodie ist eine Interpretation der Musik. Das eingangs genannte Klavierkonzert wurde berühmt als Musik zu "Elvira Madigan". Wellmer bekundet ein schlechtes Gewissen, dass er die Filmbilder nicht loswird, um dann doch zu sagen, dass sie ihm so unangemessen gar nicht scheinen.
Zu den vielen Möglichkeiten, Musik zu verstehen, gehört für Wellmer die Möglichkeit, sie als Ausdruck zu verstehen. Wellmer leugnet also nicht, dass Musik mit Gefühlen zu tun hat. Er fragt sich im Gegenteil sogar, ob es ein rein technisches Vokabular der Musikanalyse überhaupt geben kann, ob nicht in Begriffen wie Spannung, Entwicklung, Motiv, Trugschluss, weicher Klang immer darstellende und expressive Momente einfließen. Aber er hat ein begrenztes Verständnis von Ausdruck und weist ihm einen begrenzten Platz zu. Musik ist ihm Sprache der Empfindungen, insofern sie an eine schon in den lautlichen, rhythmischen und gestischen Charakteren des normalen Sprechens vorhandene Möglichkeit anschließt.
Einem solchen Ausdruck der Sprachmelodie könnte man einen Ausdruck von Landschaften entgegenstellen, wie er etwa für Debussy, überhaupt die französische Tradition vorbildlich ist, während die Sprachmelodie eher aus der italienischen Oper kommt. Näher besehen, gibt es überhaupt nichts auf der Welt, was für uns nicht auch einen Ausdruck hat, und von daher werden wir wohl die Musik auf ganz verschiedene Weise als expressiv nehmen können.
Auf jeden Fall bleibt Ausdruck für Wellmer etwas Lokales. "Je mehr eine Analyse sich auf die technischen Details eines Werks einlässt, auf das also, was strukturell und klanglich objektiv da ist, desto mehr wird auch an den hermeneutischen Deutungen das nicht objektiv Zwingende, etwas einer Sinnprojektion Ähnliches, gleichsam etwas bloß Subjektives an solchen Deutungen in Erscheinung treten." Das klingt ein wenig wie: Je mehr man ein Auto auseinandernimmt, umso weniger fährt es. Es stimmt schon: Zum Hören gehört Bildung. Wer keine Formen erkennen kann, nichts von Harmonie oder Kontrapunkt weiß, hört nur schöne Stellen, und viele schöne Stellen hört er gar nicht. Oder vielmehr, er hat den vagen Gesamteindruck einer Stimmung, für die er dann - auch das stimmt - den Halt von Bildern oder Texten braucht.
Aber alle Analyse soll doch in die Wahrnehmung zurückfließen. Adam Smith hat in einem bedeutenden musikästhetischen Nachlassfragment argumentiert, dass man Malerei in Komposition, Kolorit und Ausdruck unterteilen könne. Von Melodie, Harmonie und Ausdruck zu reden sei dagegen keine logische Unterteilung, weil es doch gerade Melodie und Harmonie sind, die den Ausdruck bewirken. Mozarts Fähigkeit etwa, vom Phrasenbau bis zur Großform die Musik als ein Gefüge von ausbalancierten Gegensätzen aufzubauen, ist es, die den Eindruck einer zwanglosen Ordnung schafft. Wellmer dagegen muss sich einen Hörer vorstellen, der an einer Stelle Traurigkeit und an einer anderen einen Kontrapunkt wahrnimmt.
Das Einspruchsrecht der Partitur
"In der Kunst kommen immer auch Bedeutungen ins Spiel." Das sei das partielle Recht in der "Versuchung der Wahrheitsästhetik". Aber über Wahrheit könne man andernorts viel besser reden. Für die Kunst ist sie nur wichtig als eine Bedingung unter anderen, um das Interpretieren in Bewegung zu setzen. Denn eigentliches Ziel ist die Lust am freien Spiel der Erkenntniskräfte. Und diese Lust ist in der Musik am stärksten, weil die Musik uns "in sonst verschlossenen Tiefen des Unbewussten und unseres affektiv und erotisch in die Welt verwickelten Körpers berühren kann". Bei Kant ging es um die Erfahrung des Naturschönen, und die hatte einen metaphysischen Zweck, nämlich uns das Gefühl zu geben, in die Welt zu passen. In der heutigen ästhetischen Debatte ist das Kunstwerk ein letztlich beliebiger Gegenstand der ästhetischen Erfahrung und deren Ziel einzig die Lust eines gesteigerten Selbstgefühls.
Um des Spiels der Erkenntniskräfte willen muss denn auch das Interpretieren unabschließbar sein. Doch mit der "interpretativen Uneinholbarkeit und Unerschöpflichkeit von Kunstwerken" kann man es übertreiben. Wir hören ein Stück immer wieder, aber das liegt daran, dass sich Sinnlichkeit nicht durch Worte ersetzen lässt. Es gibt immer wieder neue Einspielungen, aber nur wenige davon zählen. Es gibt immer neue Bücher zur Musik, aber viele davon bringen oder übergehen alte Argumente.
Wer überhaupt in den Streit um Werke oder deren Aufführungen einsteigt, wird mehrere, aber keineswegs unüberschaubare viele Positionen feststellen. Und in diesem Streit kursieren gute Gründe. Von einem "objektivistischen Phantasma" spricht Wellmer bei der Idee von Werktreue. Und natürlich gibt es großartige Interpretationen, die sich zum Beispiel nicht an Beethovens Metronom-Angaben halten, und die Interpretationen, die sich an sie halten, mögen unzureichend sein. Bleibt aber doch das Einspruchsrecht der Partitur und damit die Forderung, sie besser zu verstehen. Erst einer Philosophie, für die die Ausrichtung auf Wahrheit eine beobachtbare Haltung unter anderen geworden ist, wird die Kunst zum bloßen Spiel. Der Rest ist die einsame Leere "ekstatischer Momente einer gesteigerten Präsenzerfahrung".
GUSTAV FALKE
Albrecht Wellmer: "Versuch über Musik und Sprache". Edition Akzente. Hanser Verlag, München 2009. 324 S., br., 21,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Musik möchte hörend verstanden werden. Aber was tun wir dabei eigentlich? Albrecht Wellmer bringt musikalische Erfahrungen auf den Begriff.
Erschöpft von dem Versuch, den Weltbezug der Musik begrifflich klarer zu fassen, höre ich ein Klavierkonzert von Mozart und höre nichts als Musik, reine absolute Musik." Natürlich höre er, Albrecht Wellmer, gliedernd, artikulierend. Aber das sei eben nichts außerhalb der Musik, ein musikalischer, kein musikjenseitiger Sinn. "Es ist, als ob der Witz der Musik darin läge, die interpretierenden Leistungen des Gehörs vom Weltbezug der Töne weg- und zu ihrer puren Klanglichkeit bzw. ihren internen strukturellen Zusammenhängen hinzulenken." Musik, der Sinn der Musik, das sind Klänge und Strukturen, tönend bewegte Formen - wird irgendjemand außerhalb eines engen Kreises von Musikwissenschaftlern und eines noch engeren Kreises von Musikphilosophen das für eine angemessene Deutung seines eigenen Hörens halten? Hat es irgendeine Plausibilität, dass von reinen, sich selbst genügenden Klängen und Strukturen Menschen seit jeher erfreut oder zu Tränen gerührt werden?
Immerhin, die Wertschätzung autonomer Instrumentalmusik ist jüngeren Datums. Noch Goethe hat sie eher als Geräusch empfunden, und auch heute wird die weit überwiegende Mehrheit des Musikgebrauchs untermalenden Charakter haben. Beim Arbeiten, Einkaufen, Lesen stellt sie ein allgemeines Stimulans dar, und Film, Liedtext, Opernhandlung geben dem Verstehen einen Halt. Demgegenüber ist es eine kulturelle Leistung, einem Instrumentalwerk von Anfang bis Ende zuzuhören, ohne an irgendetwas anderes zu denken.
Doch dieses Musikstück wird dann als ausdrucksvoll genommen. Nicht in dem Sinne, dass wir uns bestimmte Gefühle oder gar eine Geschichte dabei vorstellen, sondern wir verstehen seinen Ausdruck, wie wir den Ausdruck eines Menschen oder einer Landschaft verstehen. Natürlich können wir den Ausdruck auch missverstehen, oder er kann uns unverständlich bleiben. Aber beides ist überhaupt nur möglich auf der Grundlage des Verstehens. Wer bloße Klänge und Strukturen wahrzunehmen behaupten wollte, verhielte sich wie jemand, der in einer friedlichen Landschaft nur Bäume, Weiden und Häuser sieht, aber keinen Frieden.
Was heißt Gelungenheit?
Die Kritik könnte unfair scheinen. Denn der "Versuch über Musik und Sprache" will eingreifen im Streit zwischen Formalisten und Hermeneutikern, zwischen - mit Friedrich Theodor Vischer gesprochen - Formhubern und Sinnhubern. Geschlichtet werden soll er durch den erkenntniskritischen Rückgang auf das "Explizitmachen der Verstehensvollzüge der ästhetischen Erfahrung". Die Philosophie hat die Rechtsprechung über die Inhalte der Kunst verloren, aber für Wellmer geradezu notwendig ist sie, um richtig zu verstehen, was wir machen, wenn wir mit Kunstwerken umgehen.
Und da liegt der bedeutsame Gedanke des Buches. Vielleicht trägt es allzu sehr die Spuren seiner Entstehung mit sich, wenn umständlich die Analogie zwischen Musik und Sprache diskutiert wird, natürlich mit dem Resultat, dass diese teils etwas trifft, teils in die Irre führt. Eigentlich jedoch geht es um das "esse est interpretari": Das Sein des Kunstwerkes besteht darin, interpretiert zu werden. Von seiner lebenslangen Beschäftigung mit Wittgenstein her hat Wellmer ein scharfes Bewusstsein dafür, wo alles Interpretieren hineinspielt und wie vielgestaltig das Interpretieren ist. Dieses Bewusstsein wiederum trägt er in sein lebensdurchgreifendes Interesse an Musik.
"Zum Musikmachen und Musikhören gehört ein Moment der Reflexion." Selbst das scheinbar reine Hören muss aus der Vielzahl möglicher Parameter und Kombinationen bestimmte auswählen, damit aus dem Geräuschfluss der Zusammenhang eines Werkes oder zumindest einer Melodie wird. In dieser Auswahl wird es von der Erfahrung geleitet. Wer zum ersten Mal ein Werk der niederländischen Renaissance oder der persischen Musik hört, nimmt kaum mehr wahr als ein vielleicht wohliges Tönen; erst nach vielfacher Wiederholung merkt man, auf was es ankommt. In das Hören fließt aber auch all das ein, was über Musik im Gespräch und zu lesen ist.
Die Musikwissenschaft freilich täuschte sich, wenn sie ihre formalen Analysen für objektiv und endgültig hielte. Auch sie wählt aus. Sie tut das vor dem Hintergrund von Fachtraditionen. So hebt Wellmer hervor, dass die motivisch-thematische Analyse, die mit der Schönbergschule dominant wurde und zur Zeit rapide an Bedeutung verliert, den Klangaspekt, die Instrumentation etwa, vernachlässigt. Vor allem aber analysieren Musikwissenschaftler vor dem Hintergrund von Hörerfahrungen. Sie halten etwas analytisch für wichtig, weil sie es beim Lesen der Partitur als wichtig hören. Und dieses innere Hören geht auf die Interpretationen zurück, die sie ihrerseits gehört haben. Musikalische Interpretationen werden zunehmend auch wissenschaftlich untersucht. Weit darüber hinausgehend, nimmt Wellmer nicht die Partitur, sondern die klangliche Realisierung als das eigentliche Werk.
Ihr Kriterium ist die Gelungenheit. Erst der ausführende Musiker macht die Probe aufs Exempel, ob der Anspruch der Partitur, einen ästhetisch schlüssigen Zusammenhang zu bezeichnen, berechtigt ist. Interpretationen aber existieren nur im Plural, weshalb es den Kritiker gibt. Auch ihn im Plural. Es dürfte noch nie so klar herausgestellt worden sein, dass erst das Zusammenspiel von Komponist, Musiker, Hörer, Wissenschaftler, Kritiker das Leben der Musik ausmacht. Hinzu kommen die anderen Künste. Eine Operninszenierung ist eine Interpretation der Musik. Auch die Verwendung eines Musikstücks als Filmmelodie ist eine Interpretation der Musik. Das eingangs genannte Klavierkonzert wurde berühmt als Musik zu "Elvira Madigan". Wellmer bekundet ein schlechtes Gewissen, dass er die Filmbilder nicht loswird, um dann doch zu sagen, dass sie ihm so unangemessen gar nicht scheinen.
Zu den vielen Möglichkeiten, Musik zu verstehen, gehört für Wellmer die Möglichkeit, sie als Ausdruck zu verstehen. Wellmer leugnet also nicht, dass Musik mit Gefühlen zu tun hat. Er fragt sich im Gegenteil sogar, ob es ein rein technisches Vokabular der Musikanalyse überhaupt geben kann, ob nicht in Begriffen wie Spannung, Entwicklung, Motiv, Trugschluss, weicher Klang immer darstellende und expressive Momente einfließen. Aber er hat ein begrenztes Verständnis von Ausdruck und weist ihm einen begrenzten Platz zu. Musik ist ihm Sprache der Empfindungen, insofern sie an eine schon in den lautlichen, rhythmischen und gestischen Charakteren des normalen Sprechens vorhandene Möglichkeit anschließt.
Einem solchen Ausdruck der Sprachmelodie könnte man einen Ausdruck von Landschaften entgegenstellen, wie er etwa für Debussy, überhaupt die französische Tradition vorbildlich ist, während die Sprachmelodie eher aus der italienischen Oper kommt. Näher besehen, gibt es überhaupt nichts auf der Welt, was für uns nicht auch einen Ausdruck hat, und von daher werden wir wohl die Musik auf ganz verschiedene Weise als expressiv nehmen können.
Auf jeden Fall bleibt Ausdruck für Wellmer etwas Lokales. "Je mehr eine Analyse sich auf die technischen Details eines Werks einlässt, auf das also, was strukturell und klanglich objektiv da ist, desto mehr wird auch an den hermeneutischen Deutungen das nicht objektiv Zwingende, etwas einer Sinnprojektion Ähnliches, gleichsam etwas bloß Subjektives an solchen Deutungen in Erscheinung treten." Das klingt ein wenig wie: Je mehr man ein Auto auseinandernimmt, umso weniger fährt es. Es stimmt schon: Zum Hören gehört Bildung. Wer keine Formen erkennen kann, nichts von Harmonie oder Kontrapunkt weiß, hört nur schöne Stellen, und viele schöne Stellen hört er gar nicht. Oder vielmehr, er hat den vagen Gesamteindruck einer Stimmung, für die er dann - auch das stimmt - den Halt von Bildern oder Texten braucht.
Aber alle Analyse soll doch in die Wahrnehmung zurückfließen. Adam Smith hat in einem bedeutenden musikästhetischen Nachlassfragment argumentiert, dass man Malerei in Komposition, Kolorit und Ausdruck unterteilen könne. Von Melodie, Harmonie und Ausdruck zu reden sei dagegen keine logische Unterteilung, weil es doch gerade Melodie und Harmonie sind, die den Ausdruck bewirken. Mozarts Fähigkeit etwa, vom Phrasenbau bis zur Großform die Musik als ein Gefüge von ausbalancierten Gegensätzen aufzubauen, ist es, die den Eindruck einer zwanglosen Ordnung schafft. Wellmer dagegen muss sich einen Hörer vorstellen, der an einer Stelle Traurigkeit und an einer anderen einen Kontrapunkt wahrnimmt.
Das Einspruchsrecht der Partitur
"In der Kunst kommen immer auch Bedeutungen ins Spiel." Das sei das partielle Recht in der "Versuchung der Wahrheitsästhetik". Aber über Wahrheit könne man andernorts viel besser reden. Für die Kunst ist sie nur wichtig als eine Bedingung unter anderen, um das Interpretieren in Bewegung zu setzen. Denn eigentliches Ziel ist die Lust am freien Spiel der Erkenntniskräfte. Und diese Lust ist in der Musik am stärksten, weil die Musik uns "in sonst verschlossenen Tiefen des Unbewussten und unseres affektiv und erotisch in die Welt verwickelten Körpers berühren kann". Bei Kant ging es um die Erfahrung des Naturschönen, und die hatte einen metaphysischen Zweck, nämlich uns das Gefühl zu geben, in die Welt zu passen. In der heutigen ästhetischen Debatte ist das Kunstwerk ein letztlich beliebiger Gegenstand der ästhetischen Erfahrung und deren Ziel einzig die Lust eines gesteigerten Selbstgefühls.
Um des Spiels der Erkenntniskräfte willen muss denn auch das Interpretieren unabschließbar sein. Doch mit der "interpretativen Uneinholbarkeit und Unerschöpflichkeit von Kunstwerken" kann man es übertreiben. Wir hören ein Stück immer wieder, aber das liegt daran, dass sich Sinnlichkeit nicht durch Worte ersetzen lässt. Es gibt immer wieder neue Einspielungen, aber nur wenige davon zählen. Es gibt immer neue Bücher zur Musik, aber viele davon bringen oder übergehen alte Argumente.
Wer überhaupt in den Streit um Werke oder deren Aufführungen einsteigt, wird mehrere, aber keineswegs unüberschaubare viele Positionen feststellen. Und in diesem Streit kursieren gute Gründe. Von einem "objektivistischen Phantasma" spricht Wellmer bei der Idee von Werktreue. Und natürlich gibt es großartige Interpretationen, die sich zum Beispiel nicht an Beethovens Metronom-Angaben halten, und die Interpretationen, die sich an sie halten, mögen unzureichend sein. Bleibt aber doch das Einspruchsrecht der Partitur und damit die Forderung, sie besser zu verstehen. Erst einer Philosophie, für die die Ausrichtung auf Wahrheit eine beobachtbare Haltung unter anderen geworden ist, wird die Kunst zum bloßen Spiel. Der Rest ist die einsame Leere "ekstatischer Momente einer gesteigerten Präsenzerfahrung".
GUSTAV FALKE
Albrecht Wellmer: "Versuch über Musik und Sprache". Edition Akzente. Hanser Verlag, München 2009. 324 S., br., 21,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In einer gedankenreichen Besprechung setzt sich Rezensent Gustav Falke mit Albrecht Wellmers "Versuch über Musik und Sprache" auseinander. Er liest das Werk als Versuch "musikalische Erfahrungen auf den Begriff" zu bringen. Dabei betont er Wellmers Anspruch, die Philosophie sei notwendig, um unser Verständnis und unseren Umgang mit Kunstwerken, mit Musik zu verstehen. Die Diskussion der Analogie zwischen Sprache und Musik mit dem Ergebnis, dass es Ähnlichkeiten und Unterschiede gibt, wirkt auf ihn etwas umständlich, aber sie führt für ihn zur eigentlichen These, das Sein von Kunstwerken liege in ihrem Interpretiert-Werden. So hebt er auch den von Wellmer klar herausgestellten Punkt hervor, "dass erst das Zusammenspiel von Komponist, Musiker, Hörer, Wissenschaftler, Kritiker das Leben der Musik ausmacht".
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