50 Jahre nach seinem Tod erscheint die »unpublished political philosophy« von Hannah Arendts Ehemann Heinrich Blücher.Hannah Arendt hat die »Origins of Totalitarianism« ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher gewidmet. In der amerikanischen Erstauflage ist diese Widmung noch um den Zusatz »This book could hardly have been written without the unpublished political philosophy of the person to whom it is dedicated« ergänzt. Bis heute ist völlig ungeklärt, inwieweit der frühere Kommunist und linke Aktivist Heinrich Blücher wirklich Arendts Denken beeinflusst hat. Zwei kürzlich entdeckte Texte geben Aufschluss. Diese »Versuche über den Nationalsozialismus« hat Blücher in den 1940er Jahren verfasst und sie sind das Bemühen, Nationalsozialismus und Totalitarismus zu verstehen. Mit der Herausgabe wird ein Licht in die bis heute verborgene Arbeitsbeziehung zwischen der akademisch geschulten Schriftstellerin und dem proletarischen Autodidakten geworfen. Ein umfassendes Nachwort geht auf Blüchers kommunistische Vergangenheit ein und rekonstruiert Aspekte von Arendts Nachdenken über den Totalitarismus als Ergebnisse eines Dialogs mit Blücher. Die »Versuche« Blüchers zeigen, dass Arendts politische Theorie auch eine Auseinandersetzung mit den praktisch-politischen Erfahrungen ihres Mannes darstellen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Kathrin Meier-Rust hält die Publikation zweier unbekannter politisch-philosophischer Texte Heinrich Blüchers für eine Sensation. Inhaltlich scheinen die beiden Blücher zugeordneten Typoskripte weniger interessant. Im Kontext mit dem Schaffen von Blüchers Frau Hannah Arendt jedoch bekommen sie laut Rezensentin Bedeutung. Ringo Rösners Nachwort scheint ihr da hilfreich, da der Herausgeber Arendts "The Origins of Totalitarianism" von 1951 mit Blüchers Texten analytisch vergleichend unter die Lupe nimmt. Deutlich wird dabei für Meier-Rust, wie beide dieselben Begriffe und Gedanken wälzen, Arendt sie jedoch präzisiert. Der erstmals mögliche Vergleich der Texte offenbart für Meier-Rust einen spannenden Dialog.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2020Im Totalitarismus hat die Wahrheit verloren
Intellektuelle Gemeinsamkeit: Zwei Texte von Heinrich Blücher, des Ehemanns von Hannah Arendt
Heinrich Blücher ist ein Mythos der Philosophiegeschichte. Das Wort Mythos meinte ursprünglich "Erzählung, Bericht", und Blücher, der Ehemann Hannah Arendts, ist ein Mann, von dem man vor allem Berichte, rühmende Berichte hat. Er lehrte an verschiedenen Universitäten, aber veröffentlicht hat er fast nichts: einen Aufsatz "Nationalsozialismus und Neonationalismus" von 1949, dazu kommt die (kaum rekonstruierbare) Mitarbeit an einem Sammelband "The Axis Grand Strategy". Mit dem Schreiben tat er sich schwer. Seiner Frau schrieb er einmal: "Ja, die gute Fee hat gesprochen, ,der Junge soll Urteilskraft haben', und die böse Fee hat unterbrochen und den Satz beschlossen, ,und sonst nichts'" - die Äußerung hat man auf seine Schreibschwierigkeiten bezogen. Aber wer ihn kannte, war von seiner Intelligenz eingenommen, er muss im Gespräch tiefen Eindruck gemacht haben.
Und wie es zu einem Mythos im geläufigen Sinne gehört, liegt um Blücher der Rumor der Größe. Hannah Arendt hat ihm die "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" gewidmet und in der Danksagung der Originalausgabe von 1951 bekannt, das Buch hätte kaum geschrieben werden können ohne "die unveröffentlichte politische Philosophie" des Widmungsträgers. Aber was war das für eine Philosophie? Und was für ein Mann? Die beiden lernten sich 1936 in Paris kennen, es ist der Beginn einer großen Liebesgeschichte. Er, 1899 geboren, war in Armut aufgewachsen, der Vater, Arbeiter, vor der Geburt seines Sohnes ums Leben gekommen. In den zwanziger Jahren schloss Blücher sich der KPD an, wo er allerdings wohl bald an den Rand geriet. Sichere Kenntnis haben wir nicht, für vieles stehen nur die eigenen Äußerungen in Lebensläufen und dergleichen zu Verfügung. 1933 emigrierte er zunächst nach Prag, dann nach Paris, 1940 gelangte das Ehepaar Arendt-Blücher nach New York.
Von der intellektuellen Bedeutung Blüchers zeugt nicht nur Hannah Arendts Danksagung. Karl Jaspers bezeichnete ihn als Sokrates und Arendt als dessen Platon; Monika Plessner bezeugt, dass die Wendung vom "Sokrates" Blücher in der Umgebung des Paares ganz geläufig war - und das sei "mehr als ein gutmütiger Scherz" gewesen. Nun ist ein Band mit zwei Texten Blüchers erschienen, der neues Licht auf diese mythisch-nebelhafte Figur wirft.
Der erste Aufsatz, "Perpetuum mobile. Staat und Armee des Faschismus", ist vermutlich 1943 verfasst, aber nie publiziert worden. Blücher weist hier noch den Totalitarismus-Begriff zurück und spricht vom Faschismus, das wird ein Überbleibsel seiner kommunistischen Zeit sein. Auffällig ist die Wissenschaftsskepsis. In der Wissenschaft sieht Blücher die Verführung zu einem Leben in der "Indifferenz gegen Gut und Böse". Im zweiten Text, dem schon erwähnten "Nationalsozialismus und Neonationalismus" von 1949, setzt er sich von der "Kulturkritik" ab, womit er Geschichte und Geistesgeschichte meint. Diese Disziplinen neigten zur Formulierung von "Geschichtsverläufen und deren Gesetzmäßigkeiten", so aber entstehe politische Resignation. Das ist die Haltung eines Mannes, der, anders als seine Frau, der akademischen Welt fernstand, dafür den politischen Kampf kennengelernt hatte.
Doch interessanter als die Differenzen sind die Gemeinsamkeiten. Blücher wie Arendt betrachten die Totalitarismen als Erscheinungen der Moderne. Schon der Aufsatz von 1943 sieht den Verfall des Nationalstaats als Aufstiegsbedingung des Nationalsozialismus. Wie später Arendt den Nationalsozialismus nicht als Steigerung des Nationalstaats, sondern als dessen Umkehrung deutet, so vermerkt Blücher, der Nationalsozialismus sei ",rassisch'-supranational" gewesen. Und auch ein anderes Moment, für Arendt besonders wichtig, die Suspendierung der Wahrheitsfrage im Totalitarismus, hat Blücher 1943 im Blick: "Die positive Negativität, die Fähigkeit der Lüge, sich genau der Punkte zu bemächtigen, deren die Wahrheit noch nicht Herr geworden ist", sei Kennzeichen der Instinktsicherheit des Faschismus.
Das soll nicht heißen, dass diese Motive in Arendts Totalitarismus-Buch das geistige Eigentum ihres Mannes gewesen wären. Aber einen Eindruck von der intellektuellen Gemeinsamkeit des Paares bekommt man doch. Dass Hannah Arendt die weit bessere Autorin ist, bleibt richtig, sie entwickelt ihre Analysen aus der Wirklichkeitswahrnehmung, wo ihr Mann ganz thetisch und trocken bleibt. Aber das gilt für die schriftlichen Äußerungen. Ein Sokrates "im mündlichen Denken" mag er doch gewesen sein. Das Nachwort begegnet diesem Vergleich mit Skepsis. Aber wer ihn damals gebrauchte, tat es spielerisch und wusste, dass das Verhältnis des historischen Sokrates und der Figur in Platons Dialogen rätselhaft ist.
STEPHAN SPEICHER
Heinrich Blücher:
"Versuche über den
Nationalsozialismus".
Hrsg. von R. Rösener, Nachwort von R. Rösener und E.-M. Wendt. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 173 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Intellektuelle Gemeinsamkeit: Zwei Texte von Heinrich Blücher, des Ehemanns von Hannah Arendt
Heinrich Blücher ist ein Mythos der Philosophiegeschichte. Das Wort Mythos meinte ursprünglich "Erzählung, Bericht", und Blücher, der Ehemann Hannah Arendts, ist ein Mann, von dem man vor allem Berichte, rühmende Berichte hat. Er lehrte an verschiedenen Universitäten, aber veröffentlicht hat er fast nichts: einen Aufsatz "Nationalsozialismus und Neonationalismus" von 1949, dazu kommt die (kaum rekonstruierbare) Mitarbeit an einem Sammelband "The Axis Grand Strategy". Mit dem Schreiben tat er sich schwer. Seiner Frau schrieb er einmal: "Ja, die gute Fee hat gesprochen, ,der Junge soll Urteilskraft haben', und die böse Fee hat unterbrochen und den Satz beschlossen, ,und sonst nichts'" - die Äußerung hat man auf seine Schreibschwierigkeiten bezogen. Aber wer ihn kannte, war von seiner Intelligenz eingenommen, er muss im Gespräch tiefen Eindruck gemacht haben.
Und wie es zu einem Mythos im geläufigen Sinne gehört, liegt um Blücher der Rumor der Größe. Hannah Arendt hat ihm die "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" gewidmet und in der Danksagung der Originalausgabe von 1951 bekannt, das Buch hätte kaum geschrieben werden können ohne "die unveröffentlichte politische Philosophie" des Widmungsträgers. Aber was war das für eine Philosophie? Und was für ein Mann? Die beiden lernten sich 1936 in Paris kennen, es ist der Beginn einer großen Liebesgeschichte. Er, 1899 geboren, war in Armut aufgewachsen, der Vater, Arbeiter, vor der Geburt seines Sohnes ums Leben gekommen. In den zwanziger Jahren schloss Blücher sich der KPD an, wo er allerdings wohl bald an den Rand geriet. Sichere Kenntnis haben wir nicht, für vieles stehen nur die eigenen Äußerungen in Lebensläufen und dergleichen zu Verfügung. 1933 emigrierte er zunächst nach Prag, dann nach Paris, 1940 gelangte das Ehepaar Arendt-Blücher nach New York.
Von der intellektuellen Bedeutung Blüchers zeugt nicht nur Hannah Arendts Danksagung. Karl Jaspers bezeichnete ihn als Sokrates und Arendt als dessen Platon; Monika Plessner bezeugt, dass die Wendung vom "Sokrates" Blücher in der Umgebung des Paares ganz geläufig war - und das sei "mehr als ein gutmütiger Scherz" gewesen. Nun ist ein Band mit zwei Texten Blüchers erschienen, der neues Licht auf diese mythisch-nebelhafte Figur wirft.
Der erste Aufsatz, "Perpetuum mobile. Staat und Armee des Faschismus", ist vermutlich 1943 verfasst, aber nie publiziert worden. Blücher weist hier noch den Totalitarismus-Begriff zurück und spricht vom Faschismus, das wird ein Überbleibsel seiner kommunistischen Zeit sein. Auffällig ist die Wissenschaftsskepsis. In der Wissenschaft sieht Blücher die Verführung zu einem Leben in der "Indifferenz gegen Gut und Böse". Im zweiten Text, dem schon erwähnten "Nationalsozialismus und Neonationalismus" von 1949, setzt er sich von der "Kulturkritik" ab, womit er Geschichte und Geistesgeschichte meint. Diese Disziplinen neigten zur Formulierung von "Geschichtsverläufen und deren Gesetzmäßigkeiten", so aber entstehe politische Resignation. Das ist die Haltung eines Mannes, der, anders als seine Frau, der akademischen Welt fernstand, dafür den politischen Kampf kennengelernt hatte.
Doch interessanter als die Differenzen sind die Gemeinsamkeiten. Blücher wie Arendt betrachten die Totalitarismen als Erscheinungen der Moderne. Schon der Aufsatz von 1943 sieht den Verfall des Nationalstaats als Aufstiegsbedingung des Nationalsozialismus. Wie später Arendt den Nationalsozialismus nicht als Steigerung des Nationalstaats, sondern als dessen Umkehrung deutet, so vermerkt Blücher, der Nationalsozialismus sei ",rassisch'-supranational" gewesen. Und auch ein anderes Moment, für Arendt besonders wichtig, die Suspendierung der Wahrheitsfrage im Totalitarismus, hat Blücher 1943 im Blick: "Die positive Negativität, die Fähigkeit der Lüge, sich genau der Punkte zu bemächtigen, deren die Wahrheit noch nicht Herr geworden ist", sei Kennzeichen der Instinktsicherheit des Faschismus.
Das soll nicht heißen, dass diese Motive in Arendts Totalitarismus-Buch das geistige Eigentum ihres Mannes gewesen wären. Aber einen Eindruck von der intellektuellen Gemeinsamkeit des Paares bekommt man doch. Dass Hannah Arendt die weit bessere Autorin ist, bleibt richtig, sie entwickelt ihre Analysen aus der Wirklichkeitswahrnehmung, wo ihr Mann ganz thetisch und trocken bleibt. Aber das gilt für die schriftlichen Äußerungen. Ein Sokrates "im mündlichen Denken" mag er doch gewesen sein. Das Nachwort begegnet diesem Vergleich mit Skepsis. Aber wer ihn damals gebrauchte, tat es spielerisch und wusste, dass das Verhältnis des historischen Sokrates und der Figur in Platons Dialogen rätselhaft ist.
STEPHAN SPEICHER
Heinrich Blücher:
"Versuche über den
Nationalsozialismus".
Hrsg. von R. Rösener, Nachwort von R. Rösener und E.-M. Wendt. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 173 S., geb., 24,- [Euro].
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