Quo vadis, Deutschland? Peer Steinbrück unterzieht unsere bundesdeutsche Gegenwart einer schonungslosen Analyse und wirft einen genauen Blick auf die Herausforderungen, deren Bewältigung über Deutschlands Zukunft entscheidet.
Deutschland steht im Vergleich mit vielen anderen europäischen Staaten gut da. Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum sind zufriedenstellend, Arbeitslosenquote und Verschuldung halten sich im Rahmen. Kein Anlass zur Sorge also? Keineswegs, sagt Peer Steinbrück. Wohlstand und Stabilität sind gefährdet, wenn wir aus Ruhebedürfnis weiterhin alle heiklen Themen verdrängen. Wir sind selbstzufrieden geworden und merken nicht, dass unsere Lebens- und Arbeitsverhältnisse sich radikal verändert haben. Deutschland braucht dringend einen neuen Generationenvertrag und neue Spielregeln für das Internet-Zeitalter. Der Wandel darf nicht anonymen Marktkräften und einem enthemmten Finanzsektor überlassen bleiben. Steinbrück entwirft eine gesellschaftspolitische Agenda jenseits parteipolitischer Barrieren. Und er fragt, ob die Große Koalition ihrem Anspruch gerecht wird.
Prägnant und kompetent, leidenschaftlich und mit Augenmaß.
Deutschland steht im Vergleich mit vielen anderen europäischen Staaten gut da. Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum sind zufriedenstellend, Arbeitslosenquote und Verschuldung halten sich im Rahmen. Kein Anlass zur Sorge also? Keineswegs, sagt Peer Steinbrück. Wohlstand und Stabilität sind gefährdet, wenn wir aus Ruhebedürfnis weiterhin alle heiklen Themen verdrängen. Wir sind selbstzufrieden geworden und merken nicht, dass unsere Lebens- und Arbeitsverhältnisse sich radikal verändert haben. Deutschland braucht dringend einen neuen Generationenvertrag und neue Spielregeln für das Internet-Zeitalter. Der Wandel darf nicht anonymen Marktkräften und einem enthemmten Finanzsektor überlassen bleiben. Steinbrück entwirft eine gesellschaftspolitische Agenda jenseits parteipolitischer Barrieren. Und er fragt, ob die Große Koalition ihrem Anspruch gerecht wird.
Prägnant und kompetent, leidenschaftlich und mit Augenmaß.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Lesenswert findet Franziska Augstein Peer Steinbrücks ausdrücklich selbst geschriebenes Buch. Auch wenn der Autor ihr in seinem verzweifelten Versuch, seine Position zum SPD-Wahlprogramm zu erklären, alles andere als professionell und konsistent erscheint, scheint sie für Steinbrücks Eiertanz doch etwas übrig zu haben, vielleicht Sympathie für einen, der sich "unwohl fühlt, sich selbst untreu gewesen zu sein". Davon abgesehen hat der Autor Augstein allerhand über große Politik zu berichten, was die Rezensentin mit Interesse hört. Etwa über die Globalisierung, die Finanzkrise oder über geopolitische Fragen, Russland zum Beispiel. Da bekommt Augstein nicht nur Bedenkenswertes zu lesen, sondern auch in einer Form, die selbst Trockenes amüsant und mit Verve zu fassen weiß, wie sie versichert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015Die Finanzkrise -
„sie schläft nur“
Peer Steinbrück ist es nicht wohl,
wenn er in die Zukunft blickt
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Zu den diplomatischen Anforderungen gehört die Kunst, mit gewandten Worten völlig unklar zu reden. Auf seine „kreative Ungenauigkeit“ hält der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński sich einiges zugute. In der Bundesrepublik sind die rhetorischen Nulllösungen des langjährigen Außenministers Hans-Dietrich Genscher bis heute unübertroffen. Angela Merkel versteht sich nicht auf diese Kunst: Wenn die Kanzlerin, was sehr oft der Fall ist, nichts sagen will, überschwemmt sie ihre Zuhörer mit Worthülsen, die offenkundig sind, was sie sein sollen: nichtssagend. Noch schlechter ist Peer Steinbrück: Der macht nämlich nicht einmal leere Worte – er ist kein Diplomat und will es nicht sein.
Bei den Bundestagswahlen 2013 wurde ihm das zum Verhängnis. Steinbrück gehört ins rechte Lager der SPD, womit gesagt ist, dass er die Anliegen der Wirtschaft achtet. Das seinerzeitige Wahlprogramm der SPD war indes eher auf links gestrickt, womit gesagt ist, dass die gesellschaftlich Benachteiligten im Vordergrund standen. In den Jahren zuvor, als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und als Bundesfinanzminister, hatte Steinbrück so deutlich gesagt, was er denkt, dass viele Wähler dem Kanzlerkandidaten seine Wahlkampfrhetorik 2013 nicht abnahmen: Da vertrat er Dinge, für die er sich gewöhnlich bestenfalls nicht interessiert.
Es ehrt Peer Steinbrück, dass er eine politische Haltung hat, dass er heute zu dem stehen kann, was er gestern, vorgestern und vor Jahren gesagt hat. Das kommt nicht von ungefähr: Steinbrücks Selbstbewusstsein speist sich aus seinem Bemühen, stets verlässlich-konsistent zu sein. Davon zeugt sein neues Buch „Vertagte Zukunft“. Da werkelt er sich daran ab, den Lesern (und seiner Partei) zu erklären, dass er das Wahlprogramm der SPD 2013 mitgetragen habe, dass er sich nicht etwas habe einsagen lassen, nur weil die Partei es wollte, ja dass seine Politikvorstellungen mit denen des Wahlprogramms ganz im Einklang gewesen seien.
Steinbrück ist, was man eine ehrliche Haut nennt. Aus der kann und will er nicht heraus. Sein Buch hat er – für Politiker ist das ungewöhnlich – selbst geschrieben. Als ehrlicher Mensch lässt er keinen Zweifel daran, dass er für das Wahlprogramm der falsche Mann war: „Meine Kandidatur“, schreibt er, „war ein Fehler. (...) Ich hätte die Grenzen erkennen müssen: nicht nur meine eigenen, sondern auch die, die mir durch meine Partei gesetzt wurden.“
Er erwähnt die „Beinfreiheit“, die er sich als „rechter“ Sozialdemokrat von der SPD ausbedang. Nach wie vor steht er dazu – und sieht nicht, dass er sich in dieser Rede benommen hat wie ein Tänzer, der seiner Partnerin ständig auf die Füße getreten ist und ihr dann vor dem nächsten Tanz mitteilt, sie müsse ihm schon ein wenig Beinfreiheit gewähren. Wäre er souverän gewesen, hätte er das nicht gesagt. Wäre er ein ausgefuchster Polit-Profi wie Konrad Adenauer oder sein Parteifreund Gerhard Schröder, die sich als Kanzler um ihr „Geschwätz von gestern“ nicht scherten, würde er jetzt nicht behaupten, er habe zum Wahlprogramm der SPD 2013 gestanden.
Was das angeht, ist Steinbrück ausnahmsweise nicht konsistent. Seiner eiernden Argumentation ist abzulesen, dass er sich unwohl dabei fühlt, sich selbst untreu gewesen zu sein.
Im Übrigen handelt sein Buch „Vertagte Zukunft“ von der großen Politik: deutschlandweit, weltweit. Vier dicke Knochen sind es, die Steinbrück in die Fänge nimmt: die Auswirkungen der Globalisierung; die Notwendigkeit, die ausufernden Finanzmärkte zu kanalisieren; die digitale Revolution; und geopolitische Fragen, im Besonderen das Verhältnis der EU zu Russland. „Die Übertragung nationalstaatlicher Befugnisse auf Institutionen, die – fernab von den Erfahrungen des Alltags – die Lebens- und Arbeitsbedingungen für 500 Millionen Bürger bestimmen“ komme bei vielen schlecht an, schreibt Steinbrück: Die Leute fühlten sich allein gelassen, während den „höheren Etagen der Gesellschaft“ schwer vermittelbar sei, „dass die soziale Desintegration antidemokratischen und fremdenfeindlichen Einstellungen“ Auftrieb gebe. Längst schon sei die Gegenwart „brüchig“ geworden. Steinbrück konstatiert „eine Kultur des Misstrauens“ gegenüber Fachleuten aller Branchen und beklagt „die Zukunftsverweigerung vieler Bürger“. Letzteres macht er freilich nicht plausibel: Der bloße Umstand, dass viele Leute die Atomenergie und die Rüstungsindustrie mit Argwohn betrachten, bedeutet ja nicht, dass sie alle technischen Errungenschaften ablehnten. Und da die Zukunft unweigerlich kommt, kann man sie recht eigentlich nicht „verweigern“, man kann die Entwicklungen indes mit Skepsis betrachten – und dafür gibt es Anlass.
Steinbrück selbst ist nicht wohl beim Blick auf das Kommende: „Die Finanzkrise ist nicht vorbei. Sie schläft nur.“ Das billige Geld, das die Europäische Zentralbank in die Wirtschaft pumpt, werde zu wenig in Anlagen investiert und drohe neue Blasen zu schaffen. Weder sei es den Europäern gelungen, die Banken zur vernünftigen Trennung zwischen Einlagen- und Kreditgeschäften auf der einen Seite und riskanten Handelsgeschäften auf der anderen Seite zu bewegen; noch hätten die Länder sich auf eine nötige Finanzmarkttransaktionssteuer verständigen können.
Steinbrück macht die Doktrinen des Neoliberalismus und ihre Vertreter in der Wirtschaft für die Entgleisung der Finanzmärkte verantwortlich – und übergeht, dass Gerhard Schröder als Kanzler, den Briten nacheifernd, die fatale Deregulierung der Finanzmärkte nach Kräften befördert hat. Völlig hinterm Mond, meint Steinbrück, sei die EU im Hinblick auf die wachsende Macht der Digital-Konzerne in den USA: Mit ihren Datensammlungen könnten diese zunehmend darüber bestimmen, welche Güter absetzbar sind. Statt sich dieses Problems anzunehmen, laboriere die EU seit 2012 an einer Datenschutzgrundverordnung – bisher ohne Ergebnis. Die gute Idee, ein europäisches Pendant zu Google zu schaffen: Sie stehe in den Sternen.
Steinbrück schreibt mit Verve und mitunter amüsant. Wo es um die Medien geht, läuft er, der als junger Mann mit dem Beruf des Journalisten geliebäugelt hatte, zur Hochform auf. Drastisch-komisch ist das Szenario, in dem er entwirft, wie feindliche Medien ihn vor den Wahlen 2013 mit einer Räuberpistole hätten fertigmachen können. (In der Wirklichkeit sei ihm von der Springer-Presse lediglich unterstellt worden, er sei irgendwie ein Komplize der Stasi und des KGB gewesen.) Selbst seine – sinnvoll anmutenden - Vorschläge zu trockenen Themen wie Steuergerechtigkeit und dem Abbau überflüssiger Subventionen, formuliert Steinbrück mit Panache.
Für Wladimir Putin und seine Regierung hat Steinbrück nichts übrig. Putins Regentschaft betrachtet er als autoritär-nationalistisch unterfütterten Rückfall in „das imperiale Gebaren einer Großmacht des 19. und 20. Jahrhunderts“. Angesichts Russlands Rolle im Ukraine-Konflikt hält Steinbrück Sanktionen für wichtig.
Was er im Übrigen über den Konflikt schreibt, verdient es, zitiert zu werden: „Russland erscheint mir als eine verletzte Großmacht. Der Westen hat von der Implosion der Sowjetunion und dem anschließenden Chaos unter Boris Jelzin profitiert, ist aber mit großer Lässigkeit über Präsident Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 hinweggegangen. Einige Fehlentwicklungen der letzten Jahre, die der Westen zu verantworten hat, dürfen bei einer ursächlichen Betrachtung der jetzigen Konfrontation nicht ausgeblendet werden: die 2002 aufgenommenen Gespräche der USA mit Polen und Tschechien über die Errichtung eines Raketenabwehrschirms, die 2007 zur Aufnahme offizieller Verhandlungen führten (ehe Präsident Obama ihnen 2009 ein Ende setzte); die Debatte über eine Osterweiterung der Nato, die auf dem Bukarester Gipfel 2008 merkwürdige Blüten trieb; oder Gespräche über ein EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ohne Einbeziehung Moskaus.“
Als rechter Sozialdemokrat, der wirtschaftlich denkt, ist Steinbrück der Auffassung, dass „die Kosten zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes“ für Moskau zu teuer sind. „Umgekehrt wird auch Europa die Ukraine nicht mit unerschöpflichen Finanzmitteln gegen den Einfluss Russlands stabilisieren können.“ Wenn es rational zuginge, schreibt Steinbrück, müssten „beide Seiten an einer gemeinsamen Auffanglösung für dieses abstürzende Land interessiert sein“. So sehen es der Außenminister Frank-Walter Steinmeier und wohl auch die Kanzlerin.
Steinbrücks Buch ist nicht allein deshalb lesenswert, weil er hohe Posten innehatte. Andersherum wird ein eher Schuh daraus: Weil er hohe Posten innehatte, kann er darlegen, worauf es in seinen Augen jetzt in der Politik ankommt.
Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft. Die selbstzufriedene Republik. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 260 Seiten, 22 Euro.
„Meine Kandidatur“,
schreibt Peer Steinbrück,
„war ein Fehler.“
Die „höheren Etagen“ der
Gesellschaft wissen nicht, was
jetzt schon im Argen liegt
Im Umgang mit der Ukraine,
so Steinbrück, habe der Westen
einige Fehler gemacht
Peer Steinbrück meint, die Deutschen seien Zukunftsverweigerer. Den Euro hätten sie hingenommen, weitere Neuerungen und Innovationen seien aber nicht erwünscht.
Zeichnung: Haderer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„sie schläft nur“
Peer Steinbrück ist es nicht wohl,
wenn er in die Zukunft blickt
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Zu den diplomatischen Anforderungen gehört die Kunst, mit gewandten Worten völlig unklar zu reden. Auf seine „kreative Ungenauigkeit“ hält der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński sich einiges zugute. In der Bundesrepublik sind die rhetorischen Nulllösungen des langjährigen Außenministers Hans-Dietrich Genscher bis heute unübertroffen. Angela Merkel versteht sich nicht auf diese Kunst: Wenn die Kanzlerin, was sehr oft der Fall ist, nichts sagen will, überschwemmt sie ihre Zuhörer mit Worthülsen, die offenkundig sind, was sie sein sollen: nichtssagend. Noch schlechter ist Peer Steinbrück: Der macht nämlich nicht einmal leere Worte – er ist kein Diplomat und will es nicht sein.
Bei den Bundestagswahlen 2013 wurde ihm das zum Verhängnis. Steinbrück gehört ins rechte Lager der SPD, womit gesagt ist, dass er die Anliegen der Wirtschaft achtet. Das seinerzeitige Wahlprogramm der SPD war indes eher auf links gestrickt, womit gesagt ist, dass die gesellschaftlich Benachteiligten im Vordergrund standen. In den Jahren zuvor, als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und als Bundesfinanzminister, hatte Steinbrück so deutlich gesagt, was er denkt, dass viele Wähler dem Kanzlerkandidaten seine Wahlkampfrhetorik 2013 nicht abnahmen: Da vertrat er Dinge, für die er sich gewöhnlich bestenfalls nicht interessiert.
Es ehrt Peer Steinbrück, dass er eine politische Haltung hat, dass er heute zu dem stehen kann, was er gestern, vorgestern und vor Jahren gesagt hat. Das kommt nicht von ungefähr: Steinbrücks Selbstbewusstsein speist sich aus seinem Bemühen, stets verlässlich-konsistent zu sein. Davon zeugt sein neues Buch „Vertagte Zukunft“. Da werkelt er sich daran ab, den Lesern (und seiner Partei) zu erklären, dass er das Wahlprogramm der SPD 2013 mitgetragen habe, dass er sich nicht etwas habe einsagen lassen, nur weil die Partei es wollte, ja dass seine Politikvorstellungen mit denen des Wahlprogramms ganz im Einklang gewesen seien.
Steinbrück ist, was man eine ehrliche Haut nennt. Aus der kann und will er nicht heraus. Sein Buch hat er – für Politiker ist das ungewöhnlich – selbst geschrieben. Als ehrlicher Mensch lässt er keinen Zweifel daran, dass er für das Wahlprogramm der falsche Mann war: „Meine Kandidatur“, schreibt er, „war ein Fehler. (...) Ich hätte die Grenzen erkennen müssen: nicht nur meine eigenen, sondern auch die, die mir durch meine Partei gesetzt wurden.“
Er erwähnt die „Beinfreiheit“, die er sich als „rechter“ Sozialdemokrat von der SPD ausbedang. Nach wie vor steht er dazu – und sieht nicht, dass er sich in dieser Rede benommen hat wie ein Tänzer, der seiner Partnerin ständig auf die Füße getreten ist und ihr dann vor dem nächsten Tanz mitteilt, sie müsse ihm schon ein wenig Beinfreiheit gewähren. Wäre er souverän gewesen, hätte er das nicht gesagt. Wäre er ein ausgefuchster Polit-Profi wie Konrad Adenauer oder sein Parteifreund Gerhard Schröder, die sich als Kanzler um ihr „Geschwätz von gestern“ nicht scherten, würde er jetzt nicht behaupten, er habe zum Wahlprogramm der SPD 2013 gestanden.
Was das angeht, ist Steinbrück ausnahmsweise nicht konsistent. Seiner eiernden Argumentation ist abzulesen, dass er sich unwohl dabei fühlt, sich selbst untreu gewesen zu sein.
Im Übrigen handelt sein Buch „Vertagte Zukunft“ von der großen Politik: deutschlandweit, weltweit. Vier dicke Knochen sind es, die Steinbrück in die Fänge nimmt: die Auswirkungen der Globalisierung; die Notwendigkeit, die ausufernden Finanzmärkte zu kanalisieren; die digitale Revolution; und geopolitische Fragen, im Besonderen das Verhältnis der EU zu Russland. „Die Übertragung nationalstaatlicher Befugnisse auf Institutionen, die – fernab von den Erfahrungen des Alltags – die Lebens- und Arbeitsbedingungen für 500 Millionen Bürger bestimmen“ komme bei vielen schlecht an, schreibt Steinbrück: Die Leute fühlten sich allein gelassen, während den „höheren Etagen der Gesellschaft“ schwer vermittelbar sei, „dass die soziale Desintegration antidemokratischen und fremdenfeindlichen Einstellungen“ Auftrieb gebe. Längst schon sei die Gegenwart „brüchig“ geworden. Steinbrück konstatiert „eine Kultur des Misstrauens“ gegenüber Fachleuten aller Branchen und beklagt „die Zukunftsverweigerung vieler Bürger“. Letzteres macht er freilich nicht plausibel: Der bloße Umstand, dass viele Leute die Atomenergie und die Rüstungsindustrie mit Argwohn betrachten, bedeutet ja nicht, dass sie alle technischen Errungenschaften ablehnten. Und da die Zukunft unweigerlich kommt, kann man sie recht eigentlich nicht „verweigern“, man kann die Entwicklungen indes mit Skepsis betrachten – und dafür gibt es Anlass.
Steinbrück selbst ist nicht wohl beim Blick auf das Kommende: „Die Finanzkrise ist nicht vorbei. Sie schläft nur.“ Das billige Geld, das die Europäische Zentralbank in die Wirtschaft pumpt, werde zu wenig in Anlagen investiert und drohe neue Blasen zu schaffen. Weder sei es den Europäern gelungen, die Banken zur vernünftigen Trennung zwischen Einlagen- und Kreditgeschäften auf der einen Seite und riskanten Handelsgeschäften auf der anderen Seite zu bewegen; noch hätten die Länder sich auf eine nötige Finanzmarkttransaktionssteuer verständigen können.
Steinbrück macht die Doktrinen des Neoliberalismus und ihre Vertreter in der Wirtschaft für die Entgleisung der Finanzmärkte verantwortlich – und übergeht, dass Gerhard Schröder als Kanzler, den Briten nacheifernd, die fatale Deregulierung der Finanzmärkte nach Kräften befördert hat. Völlig hinterm Mond, meint Steinbrück, sei die EU im Hinblick auf die wachsende Macht der Digital-Konzerne in den USA: Mit ihren Datensammlungen könnten diese zunehmend darüber bestimmen, welche Güter absetzbar sind. Statt sich dieses Problems anzunehmen, laboriere die EU seit 2012 an einer Datenschutzgrundverordnung – bisher ohne Ergebnis. Die gute Idee, ein europäisches Pendant zu Google zu schaffen: Sie stehe in den Sternen.
Steinbrück schreibt mit Verve und mitunter amüsant. Wo es um die Medien geht, läuft er, der als junger Mann mit dem Beruf des Journalisten geliebäugelt hatte, zur Hochform auf. Drastisch-komisch ist das Szenario, in dem er entwirft, wie feindliche Medien ihn vor den Wahlen 2013 mit einer Räuberpistole hätten fertigmachen können. (In der Wirklichkeit sei ihm von der Springer-Presse lediglich unterstellt worden, er sei irgendwie ein Komplize der Stasi und des KGB gewesen.) Selbst seine – sinnvoll anmutenden - Vorschläge zu trockenen Themen wie Steuergerechtigkeit und dem Abbau überflüssiger Subventionen, formuliert Steinbrück mit Panache.
Für Wladimir Putin und seine Regierung hat Steinbrück nichts übrig. Putins Regentschaft betrachtet er als autoritär-nationalistisch unterfütterten Rückfall in „das imperiale Gebaren einer Großmacht des 19. und 20. Jahrhunderts“. Angesichts Russlands Rolle im Ukraine-Konflikt hält Steinbrück Sanktionen für wichtig.
Was er im Übrigen über den Konflikt schreibt, verdient es, zitiert zu werden: „Russland erscheint mir als eine verletzte Großmacht. Der Westen hat von der Implosion der Sowjetunion und dem anschließenden Chaos unter Boris Jelzin profitiert, ist aber mit großer Lässigkeit über Präsident Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 hinweggegangen. Einige Fehlentwicklungen der letzten Jahre, die der Westen zu verantworten hat, dürfen bei einer ursächlichen Betrachtung der jetzigen Konfrontation nicht ausgeblendet werden: die 2002 aufgenommenen Gespräche der USA mit Polen und Tschechien über die Errichtung eines Raketenabwehrschirms, die 2007 zur Aufnahme offizieller Verhandlungen führten (ehe Präsident Obama ihnen 2009 ein Ende setzte); die Debatte über eine Osterweiterung der Nato, die auf dem Bukarester Gipfel 2008 merkwürdige Blüten trieb; oder Gespräche über ein EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ohne Einbeziehung Moskaus.“
Als rechter Sozialdemokrat, der wirtschaftlich denkt, ist Steinbrück der Auffassung, dass „die Kosten zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes“ für Moskau zu teuer sind. „Umgekehrt wird auch Europa die Ukraine nicht mit unerschöpflichen Finanzmitteln gegen den Einfluss Russlands stabilisieren können.“ Wenn es rational zuginge, schreibt Steinbrück, müssten „beide Seiten an einer gemeinsamen Auffanglösung für dieses abstürzende Land interessiert sein“. So sehen es der Außenminister Frank-Walter Steinmeier und wohl auch die Kanzlerin.
Steinbrücks Buch ist nicht allein deshalb lesenswert, weil er hohe Posten innehatte. Andersherum wird ein eher Schuh daraus: Weil er hohe Posten innehatte, kann er darlegen, worauf es in seinen Augen jetzt in der Politik ankommt.
Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft. Die selbstzufriedene Republik. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 260 Seiten, 22 Euro.
„Meine Kandidatur“,
schreibt Peer Steinbrück,
„war ein Fehler.“
Die „höheren Etagen“ der
Gesellschaft wissen nicht, was
jetzt schon im Argen liegt
Im Umgang mit der Ukraine,
so Steinbrück, habe der Westen
einige Fehler gemacht
Peer Steinbrück meint, die Deutschen seien Zukunftsverweigerer. Den Euro hätten sie hingenommen, weitere Neuerungen und Innovationen seien aber nicht erwünscht.
Zeichnung: Haderer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2015Steinbrücks Steinbruch
Vor den Unbilden der Zukunft schützen: SPD-Agenda für die Bundestagswahl 2017
Die SPD schwächelt schon lange. Sie gehört im Bund zur Kategorie von Verliererparteien. Seit über zehn Jahren schafft sie es nicht mehr, über 25 Prozent der Wählerstimmen zu kommen. An diesem Befund ändert auch nichts die Tatsache, dass sie in Berlin mitregiert und in XXL-Formaten in vielen Bundesländern dominiert. Unterschiedliche Kanzlerkandidaten, veränderte Programmatik, neue Wahlkampf-Instrumente - nichts half, um die SPD nach Schröder wieder zur Kanzlerpartei zu machen. Gleichgültig, ob die SPD in der großen Koalition mitregierte oder in der Opposition verharrte, über 30 Prozent blieben unerreicht.
Auch der Modus des SPD-Mitregierens ändert nichts an der Wahrnehmung der Bürger. In der ersten großen Koalition unter Merkel von 2005 bis 2009 versuchte sich die SPD als Opposition in der Regierung. Zurzeit unterstützt sie staatsmännisch-ruhig den Kurs der Union bis 2017. Dennoch haben die Wähler offenbar die rasant umgesetzten Wahlversprechen der SPD, von Mindestlohn bis Rente mit 63, längst eingepreist. Sie fühlten sich bestätigt in ihrer Wahl einer sozialstaatlichen Leistungssteigerung. Wählen würden sie hingegen lieber die immerwährende Krisenlotsin Angela Merkel. Vor diesem Hintergrund war die Kandidatur von Peer Steinbrück zur Bundestagswahl 2013 von Beginn an zum Scheitern verurteilt, zumal auch eine rot-grüne Mehrheit nie realistisch in Sicht war. Kanzlerkandidaten sind die höchsten Ehrenämter, die Parteien befristet vergeben können. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehören die Kanzlerkandidaten, die in keiner Satzung oder Geschäftsordnung auftauchen, zu den erfolglosen tragischen Helden.
Diese Geschichte des Scheiterns kann man jetzt in einer neuen Variation auch bei Peer Steinbrück nachlesen. Eines seiner zehn Kapitel widmet er explizit der Diagnose des 51 Wochen umfassenden Kandidatenlaufs. Das ist für die Wahlkampfforschung wie bei einer teilnehmenden Beobachtung extrem hilfreich. Denn nicht nur die geplanten Phasen des Wahlkampfes werden aus der Innensicht beschrieben, sondern auch das Misslingen, die Überforderungen, die Kränkungen. Sehr anschaulich wird dokumentiert, wie die Journalisten über viele Wochen nur noch nach Fehlern suchten, wie das Kandidaten-Bashing eine historische Größe erreichte. Für Steinbrück, der - wie kein anderer - alle wichtigen Qualifikationen zum Bundeskanzler mitbrachte, waren diese medialen Exzesse bis dahin unvorstellbar. Selbst so ein Vollprofi war überrascht, dass Inhalte kaum Beachtung finden, wenn sich der Rudeljournalismus in Gang setzt und das Verlierer-Narrativ intoniert.
Gleichwohl sieht Steinbrück eigene Fehler, die er konkret benennt. Dass er überhaupt kandidiert hat, sieht er im Rückblick klar als Fehler an, als eine Fehleinschätzung seiner eigenen Möglichkeiten. Denn wie hätten er und seine SPD zu einer Wechselstimmung im Land beitragen können? Wie inszeniert man den Wechsel, wenn die absolute Mehrheit der Bürger sowohl mit der Kanzlerin als auch mit der politischen und ökonomischen Lage zufrieden ist? "Merkel plus x" - so stellte sich für die meisten Wähler die Wahloption damals dar.
Die extrem hohen und stabilen lagerübergreifenden Werte der Zustimmung zur Programm-Person der Kanzlerin machten die Bundestagswahl zu einer ausgeprägten Personenwahl: Angela Merkel fungierte als Orientierungs-Autorität in Zeiten relativer Zufriedenheit. Die Unzufriedenheit der Wähler bezog sich auf die schwarz-gelbe Regierung der Jahre 2009 bis 2013, aber nie auf Merkel. Mit einem Vermeidungswahlkampf auf Samtpfoten erzwang die Kanzlerin eine Demobilisierung der SPD. Merkel agierte als Kanzlerpräsidentin mit hohen persönlichen Sympathiewerten.
All das war Steinbrück vertraut, und dennoch glaubte er, dass er als Kandidat das Blatt wenden könnte. Die SPD setzte sich markant im Wahlkampf für Verlierer, Marginalisierte, Minderheiten in der Gesellschaft ein und hoffte auf Solidarisierungseffekte. Analytisch klar arbeitet Steinbrück heraus, dass damit die sozialen Aufsteiger und die politische Mitte keine Angebote seitens der SPD erhielten. Im Umkehrschluss rüstet sich Steinbrück für die Zeit nach Merkel - nicht persönlich, sondern programmatisch.
Die meisten Kapitel seines Buches enthalten Auflistungen, Befunde, Notwendigkeiten, Reformansätze, Gesetzesvorschläge, wie der Wohlfahrtsstaat Deutschland fit bleiben kann. Das ist zutiefst sozialdemokratisch, keineswegs primär technokratisch-marktgetrieben und effizienzgetrieben. Viele Kapitel könnten ein Steinbruch für die kommende Wahlkampfprogrammatik sein. Denn Steinbrück zielt auf die arbeitende Mitte. Hier setzt er auf eine Balance zwischen Sozial- und Wirtschaftskompetenz. Moderne Zeitsouveränität und Leistungsgerechtigkeit sind viel wichtiger als klassische Verteilungsakzente. Soziale Sicherheit bedeutet danach auch Planungssicherheit für das eigene Arbeits- und Familienleben.
Die Modernisierungsverunsicherten, die Angstmitte der Republik gewinnt man nicht mit neuen Steuerplänen, aber mit dem Versprechen, sie vor den Unbilden der Zukunft zu schützen. Sicherheitskonservativ kommt daher Steinbrücks Plädoyer daher. Doch um den Status quo zu erhalten, sind zahlreiche Anstrengungen notwendig - national wie international. Wenig überraschend lesen sich die finanzpolitischen Einschätzungen brillant und klar.
Steinbrück möchte themenbezogen Unruhe stiften. So gut dieses Anliegen inhaltlich begründet ist, so deutlich eignet sich dieses Buch dazu allerdings nicht. Denn Steinbrücks Sprache ist stets analytisch-trocken, aber wenig emotional-mitreißend. Zu viele Kapitel - von der Außen- und Sicherheitspolitik bis zur Bildungsfrage - sind wie Arbeitskataloge aufgebaut. Für die SPD könnten weniger die aufklärerischen Passagen wichtig werden als die Perspektive eines veränderten Erzählstrangs zur Mobilisierung von Wählern. Gleichwohl ist selbst mit mitreißend-motivierender SPD-Programmatik im Moment keinem SPD-Politiker zur Kandidatur gegen die amtierende Kanzlerin zu raten. Warmlaufen schadet aber auch nicht.
KARL-RUDOLF KORTE
Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft. Die selbstzufriedene Republik. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 304 S., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor den Unbilden der Zukunft schützen: SPD-Agenda für die Bundestagswahl 2017
Die SPD schwächelt schon lange. Sie gehört im Bund zur Kategorie von Verliererparteien. Seit über zehn Jahren schafft sie es nicht mehr, über 25 Prozent der Wählerstimmen zu kommen. An diesem Befund ändert auch nichts die Tatsache, dass sie in Berlin mitregiert und in XXL-Formaten in vielen Bundesländern dominiert. Unterschiedliche Kanzlerkandidaten, veränderte Programmatik, neue Wahlkampf-Instrumente - nichts half, um die SPD nach Schröder wieder zur Kanzlerpartei zu machen. Gleichgültig, ob die SPD in der großen Koalition mitregierte oder in der Opposition verharrte, über 30 Prozent blieben unerreicht.
Auch der Modus des SPD-Mitregierens ändert nichts an der Wahrnehmung der Bürger. In der ersten großen Koalition unter Merkel von 2005 bis 2009 versuchte sich die SPD als Opposition in der Regierung. Zurzeit unterstützt sie staatsmännisch-ruhig den Kurs der Union bis 2017. Dennoch haben die Wähler offenbar die rasant umgesetzten Wahlversprechen der SPD, von Mindestlohn bis Rente mit 63, längst eingepreist. Sie fühlten sich bestätigt in ihrer Wahl einer sozialstaatlichen Leistungssteigerung. Wählen würden sie hingegen lieber die immerwährende Krisenlotsin Angela Merkel. Vor diesem Hintergrund war die Kandidatur von Peer Steinbrück zur Bundestagswahl 2013 von Beginn an zum Scheitern verurteilt, zumal auch eine rot-grüne Mehrheit nie realistisch in Sicht war. Kanzlerkandidaten sind die höchsten Ehrenämter, die Parteien befristet vergeben können. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehören die Kanzlerkandidaten, die in keiner Satzung oder Geschäftsordnung auftauchen, zu den erfolglosen tragischen Helden.
Diese Geschichte des Scheiterns kann man jetzt in einer neuen Variation auch bei Peer Steinbrück nachlesen. Eines seiner zehn Kapitel widmet er explizit der Diagnose des 51 Wochen umfassenden Kandidatenlaufs. Das ist für die Wahlkampfforschung wie bei einer teilnehmenden Beobachtung extrem hilfreich. Denn nicht nur die geplanten Phasen des Wahlkampfes werden aus der Innensicht beschrieben, sondern auch das Misslingen, die Überforderungen, die Kränkungen. Sehr anschaulich wird dokumentiert, wie die Journalisten über viele Wochen nur noch nach Fehlern suchten, wie das Kandidaten-Bashing eine historische Größe erreichte. Für Steinbrück, der - wie kein anderer - alle wichtigen Qualifikationen zum Bundeskanzler mitbrachte, waren diese medialen Exzesse bis dahin unvorstellbar. Selbst so ein Vollprofi war überrascht, dass Inhalte kaum Beachtung finden, wenn sich der Rudeljournalismus in Gang setzt und das Verlierer-Narrativ intoniert.
Gleichwohl sieht Steinbrück eigene Fehler, die er konkret benennt. Dass er überhaupt kandidiert hat, sieht er im Rückblick klar als Fehler an, als eine Fehleinschätzung seiner eigenen Möglichkeiten. Denn wie hätten er und seine SPD zu einer Wechselstimmung im Land beitragen können? Wie inszeniert man den Wechsel, wenn die absolute Mehrheit der Bürger sowohl mit der Kanzlerin als auch mit der politischen und ökonomischen Lage zufrieden ist? "Merkel plus x" - so stellte sich für die meisten Wähler die Wahloption damals dar.
Die extrem hohen und stabilen lagerübergreifenden Werte der Zustimmung zur Programm-Person der Kanzlerin machten die Bundestagswahl zu einer ausgeprägten Personenwahl: Angela Merkel fungierte als Orientierungs-Autorität in Zeiten relativer Zufriedenheit. Die Unzufriedenheit der Wähler bezog sich auf die schwarz-gelbe Regierung der Jahre 2009 bis 2013, aber nie auf Merkel. Mit einem Vermeidungswahlkampf auf Samtpfoten erzwang die Kanzlerin eine Demobilisierung der SPD. Merkel agierte als Kanzlerpräsidentin mit hohen persönlichen Sympathiewerten.
All das war Steinbrück vertraut, und dennoch glaubte er, dass er als Kandidat das Blatt wenden könnte. Die SPD setzte sich markant im Wahlkampf für Verlierer, Marginalisierte, Minderheiten in der Gesellschaft ein und hoffte auf Solidarisierungseffekte. Analytisch klar arbeitet Steinbrück heraus, dass damit die sozialen Aufsteiger und die politische Mitte keine Angebote seitens der SPD erhielten. Im Umkehrschluss rüstet sich Steinbrück für die Zeit nach Merkel - nicht persönlich, sondern programmatisch.
Die meisten Kapitel seines Buches enthalten Auflistungen, Befunde, Notwendigkeiten, Reformansätze, Gesetzesvorschläge, wie der Wohlfahrtsstaat Deutschland fit bleiben kann. Das ist zutiefst sozialdemokratisch, keineswegs primär technokratisch-marktgetrieben und effizienzgetrieben. Viele Kapitel könnten ein Steinbruch für die kommende Wahlkampfprogrammatik sein. Denn Steinbrück zielt auf die arbeitende Mitte. Hier setzt er auf eine Balance zwischen Sozial- und Wirtschaftskompetenz. Moderne Zeitsouveränität und Leistungsgerechtigkeit sind viel wichtiger als klassische Verteilungsakzente. Soziale Sicherheit bedeutet danach auch Planungssicherheit für das eigene Arbeits- und Familienleben.
Die Modernisierungsverunsicherten, die Angstmitte der Republik gewinnt man nicht mit neuen Steuerplänen, aber mit dem Versprechen, sie vor den Unbilden der Zukunft zu schützen. Sicherheitskonservativ kommt daher Steinbrücks Plädoyer daher. Doch um den Status quo zu erhalten, sind zahlreiche Anstrengungen notwendig - national wie international. Wenig überraschend lesen sich die finanzpolitischen Einschätzungen brillant und klar.
Steinbrück möchte themenbezogen Unruhe stiften. So gut dieses Anliegen inhaltlich begründet ist, so deutlich eignet sich dieses Buch dazu allerdings nicht. Denn Steinbrücks Sprache ist stets analytisch-trocken, aber wenig emotional-mitreißend. Zu viele Kapitel - von der Außen- und Sicherheitspolitik bis zur Bildungsfrage - sind wie Arbeitskataloge aufgebaut. Für die SPD könnten weniger die aufklärerischen Passagen wichtig werden als die Perspektive eines veränderten Erzählstrangs zur Mobilisierung von Wählern. Gleichwohl ist selbst mit mitreißend-motivierender SPD-Programmatik im Moment keinem SPD-Politiker zur Kandidatur gegen die amtierende Kanzlerin zu raten. Warmlaufen schadet aber auch nicht.
KARL-RUDOLF KORTE
Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft. Die selbstzufriedene Republik. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 304 S., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Er benennt gewohnt klar die Herausforderungen, die über Deutschlands Zukunft entscheiden.« Hellweger Anzeiger, 27.03.2015