Keine Institution wurde in Deutschland so oft totgesagt wie das Parlament. Populisten verachten es und träumen von einer plebiszitären Demokratie. Ist parlamentarische Politik nur noch dazu da, Entscheidungen der Bundesregierung nachträglich zu legalisieren? Der Jurist Florian Meinel analysiert messerscharf, wie das deutsche Regierungssystem wurde, was es ist, und welche Stürme es heute überstehen muss.
Der Erfolg der AfD stellt die politischen Gewissheiten der Bundesrepublik in Frage. Das Ende des alten Wettbewerbs der Volksparteien hat alle Verfassungsorgane erfasst. Disruptive Politik geht heute scheinbar ohne Parlament: Abschaffung der Wehrpflicht, Euro-Rettung, Flüchtlingskrise, Ehe für alle. Was oft dem Regierungsstil Angela Merkels zugeschrieben wird, hat viel tiefere Ursachen. Der missverstandene Parlamentarismus ist die verletzlichste Errungenschaft der alten Bundesrepublik. Wie lässt er sich heute fortentwickeln? Welche politische Chance läge in Minderheitenregierungen? Oder müssen wir das Zweikammersystem grundsätzlich umbauen, damit Deutschland regierbar bleibt? Meinels Buch ist eine Verteidigung des Parlamentarismus und zugleich eine Verlustbilanz der Großen Koalition.
Der Erfolg der AfD stellt die politischen Gewissheiten der Bundesrepublik in Frage. Das Ende des alten Wettbewerbs der Volksparteien hat alle Verfassungsorgane erfasst. Disruptive Politik geht heute scheinbar ohne Parlament: Abschaffung der Wehrpflicht, Euro-Rettung, Flüchtlingskrise, Ehe für alle. Was oft dem Regierungsstil Angela Merkels zugeschrieben wird, hat viel tiefere Ursachen. Der missverstandene Parlamentarismus ist die verletzlichste Errungenschaft der alten Bundesrepublik. Wie lässt er sich heute fortentwickeln? Welche politische Chance läge in Minderheitenregierungen? Oder müssen wir das Zweikammersystem grundsätzlich umbauen, damit Deutschland regierbar bleibt? Meinels Buch ist eine Verteidigung des Parlamentarismus und zugleich eine Verlustbilanz der Großen Koalition.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.03.2019Wer das Land regiert
Florian Meinel geht in einer fundierten Analyse dem Doppelcharakter des Parlaments
auf den Grund. Und sucht den Ort mit der höchsten Machtbefugnis im Grundgesetz
VON RUDOLF WALTHER
Parlamentarismus und Demokratie sind in eine Krise geraten, insbesondere durch den Erfolg von populistischen Bewegungen und Parteien. Wie dieser Krise gegenzusteuern ist, ist höchst umstritten. Mit der Beschwörung der „Werte“ des Grundgesetzes, was der Verfassungsrechtler Florian Meinel als „sakrale Überhöhung“ der Verfassung deutet, ist so wenig gewonnen wie mit der trügerischen Hoffnung, ausgerechnet der rüpelhaft-provokative Auftritt von AfD-Abgeordneten belebe den Parlamentarismus.
Florian Meinel hält sich nicht an oberflächliche Hausrezepte des politischen Handgemenges und setzt nicht auf Spekulationen, sondern geht ins Grundsätzliche, indem er nach der normativen Basis des parlamentarischen Regierungssystems in der Verfassung fragt. Diese ist weder stark noch klar, sondern schwach und widersprüchlich – entgegen der Schulbuchweisheit, das System beruhe auf der Trennung von Legislative und Exekutive. Nicht die Trennung ist der entscheidende Punkt, sondern die rechtliche Verknüpfung von exekutiver mit parlamentarische Macht und zugleich die Kontrolle des Parlaments durch die Exekutive.
Eine Theorie des parlamentarischen Regierungssystems existiert nicht, wenn man von Ansätzen dafür in Max Webers Vortrag „Politik als Beruf“ (1919) absieht. Diese Theorie beruht auf der ebenso fragwürdigen wie staatsfixierten und bürgerfeindlichen Unterscheidung von „Verantwortung“ und „Gesinnung“ und trägt die Spuren ihrer Entstehung am Ende des Ersten Weltkriegs zu deutlich, um sie auf die heutigen politischen und verfassungsrechtlichen Verhältnisse übertragen zu können. Wenn man nach dem Ort der höchsten Machtbefugnis im Grundgesetz sucht, findet man sie im Zwischenraum zwischen parlamentarischer Mehrheit und der Regierung. Dieser Zwischenort beziehungsweise Unort wird deutlich etwa im Widerspruch, dass das Parlament den Kanzler oder die Kanzlerin in geheimer Abstimmung wählt, während Vertrauensabstimmungen über die Kanzlerschaft in namentlicher Abstimmung stattfinden müssen. Meinel macht für diese Widersprüche in der Verfassung den historisch bedingten Dualismus, also die föderale Machtverteilung zwischen Bundesregierung, Parlament und Bundesrat/Landesregierungen verantwortlich, die „deutsche Form der Gewaltenteilung“. Konservative Wissenschaftler sehen darin eine „Pathologie“ (Wilhelm Hennis). Im Vergleich der „Gewaltfusion“ mit dem „Handlungsverbund“ (Meinel) zwischen Regierung und Parlament in Großbritannien hat die föderale Machtaufteilung jedoch auch Vorzüge, wenn man die aktuelle Handlungsunfähigkeit Londons beim Brexit betrachtet.
Die überzeugende Studie von Meinel belegt, wie sehr die Vorstellung vom englischen Regierungssystem als einem „government by discussion“ zum Mythos geworden ist, denn die direkte Konfrontation von Regierung und Opposition, wie sie im Parlament von Westminster ebenso üblich ist wie im Bundestag selten, ist zum schülerparlamentsartigen, inhaltsfreien Ritual verkommen, während das deutsche Arbeitsparlament mit seinen Ausschüssen seine Leistungsfähigkeit unspektakulär und effizient unter Beweis stellt.
Freilich beleuchtet Meinel auch die Schwächen in Deutschland schonungslos. Bei Licht besehen installiert das Grundgesetz keine vom Parlament gesteuerte Regierung, sondern legt nur Funktionsregeln der Regierung fest, wobei das Parlament nur einzelne Minister zur Verantwortung ziehen und der ganzen Regierung das Vertrauen nur indirekt durch die Wahl eines anderen Kanzlers entziehen kann. Zur Schwächung des Bundestags trägt auch bei, dass außer dem Bundesrat auch die Ministerialbürokratie quasi mitregiert, weil sie nicht nur die meisten Gesetzesvorlagen formuliert, sondern diese auch in den Ausschüssen mitberaten darf. Schließlich bestimmt nach der Verfassung nicht das Parlament, sondern der Kanzler beziehungsweise die Kanzlerin die „Richtlinien der Politik“, womit sich in der BRD ein System der „Kanzlerdemokratie“ etabliert hat. Schließlich verhindert die Autonomie der Minister, der „Ressortpatriotismus und -partikularismus“, die Einbindung der gesamten Regierung ins politische Handgemenge mit dem Parlament. Für die Vermittlung von Ressortegoismen und Parlament ist nicht dieses zuständig, sondern das in der Verfassung gar nicht vorgesehene Kanzleramt, das von 100 Mitarbeitern auf heute 600 angewachsen ist – nicht mitgezählt das ausgegliederte, immer mächtiger werdende Presse- und Informationsamt. Völlig vom Parlament abgekoppelt agiert noch ein Geheimgremium, der Bundessicherheitsrat.
Zu den schwierigsten Problemen der Demokratie gehört das der Repräsentation des Volkes, für die das Wahlrecht eine Schlüsselrolle einnimmt. Für die Ausgestaltung des deutschen Mischwahlrechts mit einer Stimme für den Wahlkreiskandidaten und einer Listenstimme für die proportionale Sitzverteilung waren Parteien und Parlament verantwortlich, vor allem aber das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung zu Ausgleich- und Überhangmandaten. Mit dem Zerfall der „Volksparteien“ steigt der Druck des Regierungssystems zu großen Koalitionen, in denen der Wettbewerb zwischen den Regierungsparteien zu Gunsten der Regierung und auf Kosten des Parlaments verringert und die Rolle der Opposition marginalisiert wird. Ob ein auf der Basis eines reinen Mehrheitswahlrecht gewähltes Parlament mit diesen Problemen besser fertig würde, bezweifelt Meinel zu Recht. Im Widerspruch dazu steht, dass er die Vorteile der „klassischen Wettbewerbssituation“ im Westminster-Parlamentarismus lobt, obwohl der sich in den aktuellen Brexit-Debatten als rhetorische Show von rechten, konservativen und linken Schattenboxern erweist, die sich noch in der Traumwelt des 18. und 19. Jahrhunderts wähnen und „Rule Britannia!“ grölen.
Meinels Buch ist eine lehrreiche Einführung in den verfassungsrechtlichen und politischen Doppelcharakter des Parlaments als Kontrolleur der Regierung und zugleich als deren Basis im demokratischen System.
Eine Schlüsselrolle hat das
Wahlrecht. Es begünstigt
schwierige Konstellationen
In guten Händen der Kanzlerin? Wahlwerbung mit der Merkel-Raute im Bundestagswahlkampf 2013.
Foto: Bernd Von Jutrczenka / dpa
Florian Meinel:
Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus. Verlag C.H. Beck, München 2019,
238 Seiten, 16,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Florian Meinel geht in einer fundierten Analyse dem Doppelcharakter des Parlaments
auf den Grund. Und sucht den Ort mit der höchsten Machtbefugnis im Grundgesetz
VON RUDOLF WALTHER
Parlamentarismus und Demokratie sind in eine Krise geraten, insbesondere durch den Erfolg von populistischen Bewegungen und Parteien. Wie dieser Krise gegenzusteuern ist, ist höchst umstritten. Mit der Beschwörung der „Werte“ des Grundgesetzes, was der Verfassungsrechtler Florian Meinel als „sakrale Überhöhung“ der Verfassung deutet, ist so wenig gewonnen wie mit der trügerischen Hoffnung, ausgerechnet der rüpelhaft-provokative Auftritt von AfD-Abgeordneten belebe den Parlamentarismus.
Florian Meinel hält sich nicht an oberflächliche Hausrezepte des politischen Handgemenges und setzt nicht auf Spekulationen, sondern geht ins Grundsätzliche, indem er nach der normativen Basis des parlamentarischen Regierungssystems in der Verfassung fragt. Diese ist weder stark noch klar, sondern schwach und widersprüchlich – entgegen der Schulbuchweisheit, das System beruhe auf der Trennung von Legislative und Exekutive. Nicht die Trennung ist der entscheidende Punkt, sondern die rechtliche Verknüpfung von exekutiver mit parlamentarische Macht und zugleich die Kontrolle des Parlaments durch die Exekutive.
Eine Theorie des parlamentarischen Regierungssystems existiert nicht, wenn man von Ansätzen dafür in Max Webers Vortrag „Politik als Beruf“ (1919) absieht. Diese Theorie beruht auf der ebenso fragwürdigen wie staatsfixierten und bürgerfeindlichen Unterscheidung von „Verantwortung“ und „Gesinnung“ und trägt die Spuren ihrer Entstehung am Ende des Ersten Weltkriegs zu deutlich, um sie auf die heutigen politischen und verfassungsrechtlichen Verhältnisse übertragen zu können. Wenn man nach dem Ort der höchsten Machtbefugnis im Grundgesetz sucht, findet man sie im Zwischenraum zwischen parlamentarischer Mehrheit und der Regierung. Dieser Zwischenort beziehungsweise Unort wird deutlich etwa im Widerspruch, dass das Parlament den Kanzler oder die Kanzlerin in geheimer Abstimmung wählt, während Vertrauensabstimmungen über die Kanzlerschaft in namentlicher Abstimmung stattfinden müssen. Meinel macht für diese Widersprüche in der Verfassung den historisch bedingten Dualismus, also die föderale Machtverteilung zwischen Bundesregierung, Parlament und Bundesrat/Landesregierungen verantwortlich, die „deutsche Form der Gewaltenteilung“. Konservative Wissenschaftler sehen darin eine „Pathologie“ (Wilhelm Hennis). Im Vergleich der „Gewaltfusion“ mit dem „Handlungsverbund“ (Meinel) zwischen Regierung und Parlament in Großbritannien hat die föderale Machtaufteilung jedoch auch Vorzüge, wenn man die aktuelle Handlungsunfähigkeit Londons beim Brexit betrachtet.
Die überzeugende Studie von Meinel belegt, wie sehr die Vorstellung vom englischen Regierungssystem als einem „government by discussion“ zum Mythos geworden ist, denn die direkte Konfrontation von Regierung und Opposition, wie sie im Parlament von Westminster ebenso üblich ist wie im Bundestag selten, ist zum schülerparlamentsartigen, inhaltsfreien Ritual verkommen, während das deutsche Arbeitsparlament mit seinen Ausschüssen seine Leistungsfähigkeit unspektakulär und effizient unter Beweis stellt.
Freilich beleuchtet Meinel auch die Schwächen in Deutschland schonungslos. Bei Licht besehen installiert das Grundgesetz keine vom Parlament gesteuerte Regierung, sondern legt nur Funktionsregeln der Regierung fest, wobei das Parlament nur einzelne Minister zur Verantwortung ziehen und der ganzen Regierung das Vertrauen nur indirekt durch die Wahl eines anderen Kanzlers entziehen kann. Zur Schwächung des Bundestags trägt auch bei, dass außer dem Bundesrat auch die Ministerialbürokratie quasi mitregiert, weil sie nicht nur die meisten Gesetzesvorlagen formuliert, sondern diese auch in den Ausschüssen mitberaten darf. Schließlich bestimmt nach der Verfassung nicht das Parlament, sondern der Kanzler beziehungsweise die Kanzlerin die „Richtlinien der Politik“, womit sich in der BRD ein System der „Kanzlerdemokratie“ etabliert hat. Schließlich verhindert die Autonomie der Minister, der „Ressortpatriotismus und -partikularismus“, die Einbindung der gesamten Regierung ins politische Handgemenge mit dem Parlament. Für die Vermittlung von Ressortegoismen und Parlament ist nicht dieses zuständig, sondern das in der Verfassung gar nicht vorgesehene Kanzleramt, das von 100 Mitarbeitern auf heute 600 angewachsen ist – nicht mitgezählt das ausgegliederte, immer mächtiger werdende Presse- und Informationsamt. Völlig vom Parlament abgekoppelt agiert noch ein Geheimgremium, der Bundessicherheitsrat.
Zu den schwierigsten Problemen der Demokratie gehört das der Repräsentation des Volkes, für die das Wahlrecht eine Schlüsselrolle einnimmt. Für die Ausgestaltung des deutschen Mischwahlrechts mit einer Stimme für den Wahlkreiskandidaten und einer Listenstimme für die proportionale Sitzverteilung waren Parteien und Parlament verantwortlich, vor allem aber das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung zu Ausgleich- und Überhangmandaten. Mit dem Zerfall der „Volksparteien“ steigt der Druck des Regierungssystems zu großen Koalitionen, in denen der Wettbewerb zwischen den Regierungsparteien zu Gunsten der Regierung und auf Kosten des Parlaments verringert und die Rolle der Opposition marginalisiert wird. Ob ein auf der Basis eines reinen Mehrheitswahlrecht gewähltes Parlament mit diesen Problemen besser fertig würde, bezweifelt Meinel zu Recht. Im Widerspruch dazu steht, dass er die Vorteile der „klassischen Wettbewerbssituation“ im Westminster-Parlamentarismus lobt, obwohl der sich in den aktuellen Brexit-Debatten als rhetorische Show von rechten, konservativen und linken Schattenboxern erweist, die sich noch in der Traumwelt des 18. und 19. Jahrhunderts wähnen und „Rule Britannia!“ grölen.
Meinels Buch ist eine lehrreiche Einführung in den verfassungsrechtlichen und politischen Doppelcharakter des Parlaments als Kontrolleur der Regierung und zugleich als deren Basis im demokratischen System.
Eine Schlüsselrolle hat das
Wahlrecht. Es begünstigt
schwierige Konstellationen
In guten Händen der Kanzlerin? Wahlwerbung mit der Merkel-Raute im Bundestagswahlkampf 2013.
Foto: Bernd Von Jutrczenka / dpa
Florian Meinel:
Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus. Verlag C.H. Beck, München 2019,
238 Seiten, 16,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rudolf Walther findet in Florian Meinels Buch eine lehrreiche Einführung in das Parlamentswesen. Inwiefern das Parlament zwischen Verfassung und Regierung vermittelt und die Basis der Demokratie darstellt, vermag ihm der Autor zu erläutern, ohne zu spekulieren, dafür mit Sinn für das Grundsätzliche der Rolle der Verfassung im parlamentarischen Regierungssystem. Überzeugend findet Walther den Autor unter anderem, wenn er den Mythos des konfrontativen Parlaments entlarvt, das Wirken der Ministerialbürokratie kritisch beäugt und den Sinn eines reinen Mehrheitswahlrechts hinterfragt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2019Der Meister des Zweifels
Ursprünge und Gründe der heutigen Krise des Parlamentarismus
Wenn sich die repräsentative Parteiendemokratie heute, wie allenthalben behauptet, in einer Krise befindet, muss sich das zunächst in ihrer zentralen Institution bemerkbar machen - dem Parlament. In den verbreiteten Klagen über dessen Bedeutungsverlust laufen zwei Stränge zusammen. Der eine, neuere Strang hebt auf die sich seit den neunziger Jahren stark verändernden Rahmenbedingungen des Regierens ab - von den Prozessen der Denationalisierung bis hin zur Pluralisierung der Medienlandschaft. Der andere Strang ist historisch älter. Er macht den Niedergang an der Stellung des Parlaments im Gewaltenteilungsgefüge fest, wo ihnen die Regierungen als eigentliche Gesetzgeber den Rang abgelaufen hätten. Dies betrifft vor allem die parlamentarischen Regierungssysteme, die institutionell auf der Verbindung ("Gewaltenfusion") von Regierung und parlamentarischer Mehrheit gründen und sich darin vom gewaltentrennenden präsidentiellen System unterscheiden. Die kompakte Abhandlung des Würzburger Staatsrechtlers Florian Meinel über den bundesdeutschen Parlamentarismus - Nebenprodukt und Destillat einer demnächst erscheinenden, wesentlich umfangreicheren Habilitationsschrift - reiht sich in den zuletzt genannten, älteren Strang ein. Seine zentrale These lautet, dass sich das parlamentarische Regierungssystem hierzulande niemals "richtig" durchgesetzt habe. Es sei nur eine Schicht des Staats- und Verfassungsaufbaus, dem mit "dem halb verfassungsrechtlichen, halb politischen Arrangement aus Landesexekutiven, Bundesrat und Länderkoordinierung", ein administrativ-föderaler Komplex als zweite, ältere und politisch ganz anders funktionierende Verfassungsschicht gegenüberstehe. Dieses System habe nur funktionieren können, weil beide Schichten unterhalb der formellen Verfassungsebene durch drei "originär bundesrepublikanische Institutionen" - die Volksparteien, das Bundeskanzleramt und das Bundesverfassungsgericht - miteinander verknüpft worden seien. Gerade diese Vermittlungsinstitutionen gerieten aber heute selbst in die Krise, weil sie entweder erodiert seien (wie die Volksparteien) oder ihre vermittelnde Funktion im Verhältnis zum Parlament und zur regierenden Mehrheit überdehnt hätten (wie Kanzleramt und Verfassungsgericht).
Ausgehend von dieser Generalthese spürt der Autor die Funktionsschwächen, Ungereimtheiten und Inkonsistenzen der parlamentarischen Regierungsform ebenso minutiös wie treffsicher auf. Warum findet die Kanzlerwahl im Bundestag als geheime Wahl statt, während über die Vertrauensfrage offen abgestimmt wird? Warum ist das sogenannte Zitierrecht, also die Herbeirufung eines Ministers, an eine Mehrheitsentscheidung gebunden? Warum ist die Verbindung von Regierungsamt und Parlamentsmandat nur erlaubt, aber nicht geboten? Warum haben nicht nur die Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrates, sondern auch ihre Beauftragten, also Landes- und Bundesbeamte, im Bundestag ein Anwesenheits- und sogar Rederecht? Die Liste ließe sich noch erweitern, etwa um den in der Literatur selten (und auch von Meinel nicht) erwähnten Umstand, dass die Abgeordneten zwar Amtsinhaber sind, als solche aber im Unterschied zu den Regierungsmitgliedern und Beamten keinen Eid leisten müssen.
Meinels Vorwurf, dass sich weder das Staatsrecht noch die Politikwissenschaft bemüht hätten, diese grundsätzlichen und kleineren Widersprüche theoretisch aufzuklären, ist, zumindest was die Politikwissenschaft betrifft, nicht haltbar. Theodor Eschenburg und Gerhard Lehmbruch haben eindrucksvolle Analysen über die "pfadabhängige" Entwicklung der politischen Institutionen in Deutschland vorgelegt und dabei zugleich deren Anpassungsfähigkeit hervorgehoben. So ist etwa dem Bundesrat, den Bismarck als monarchisches Gegenwicht zum aufstrebenden Reichstag konzipiert hatte, die Integration in das demokratische Regierungssystem gelungen. Auf der anderen Seite haben die Widersprüche auch mit den unterschiedlichen Funktionsanforderungen der demokratischen Regierungsweise zu tun, die Partizipations-, Transparenz und Effizienzgesichtspunkten gleichermaßen Rechnung tragen muss. Die Zielkonflikte lassen sich hier zum Beispiel am Problem der Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen festmachen.
Die normative Orientierung am britischen Urtyp des parlamentarischen Regierungssystem wirkt vor diesem Hintergrund eher befremdlich. Sie scheint vor allem in den Ausführungen über das Wahlsystem durch. Dort wird ein funktionaler Zusammenhang des parlamentarischen Systems mit dem Mehrheitswahlrecht behauptet, das in der Bundesrepublik ebenso wenig besteht wie in fast allen anderen parlamentarischen Systemen und das auch keine Chance auf Einführung hat - was der Autor natürlich weiß und offen einräumt. Das vermeintliche Vorbild ist auch deshalb keines, weil Großbritannien die föderalen und verfassungsstaatlichen Elemente, die in Deutschland der Einführung der parlamentarischen Regierungsform vorausgingen, heute in sein eigenes System übernimmt, weil es nur so den Zusammenhalt des Königreiches sichern kann. Gemessen daran und dem seit 2016 stattfindenden Brexit-Drama, bleibt die Krise des Parlamentarismus in der Bundesrepublik überschaubar.
So klug das gut zu lesende Buch im Einzelnen argumentiert, so wenig vermag es die Widersprüchlichkeiten des Parlamentarismus aufzulösen, die als Ursache der Systemkrise beschrieben werden. Entsprechend vage und unentschieden bleiben Meinels eigene Reformüberlegungen. Hier wird meistens nur gezeigt, warum etwas nicht geht oder welche Fallstricke es birgt - etwa beim Thema Minderheitsregierungen oder der Reform des Bundesrates. Der Autor ist ein Meister des Zweifels - und lässt den Leser gerade deshalb am Ende ziemlich ratlos zurück.
FRANK DECKER
Florian Meinel: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus.
C.H. Beck Verlag, München 2019. 238 S., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ursprünge und Gründe der heutigen Krise des Parlamentarismus
Wenn sich die repräsentative Parteiendemokratie heute, wie allenthalben behauptet, in einer Krise befindet, muss sich das zunächst in ihrer zentralen Institution bemerkbar machen - dem Parlament. In den verbreiteten Klagen über dessen Bedeutungsverlust laufen zwei Stränge zusammen. Der eine, neuere Strang hebt auf die sich seit den neunziger Jahren stark verändernden Rahmenbedingungen des Regierens ab - von den Prozessen der Denationalisierung bis hin zur Pluralisierung der Medienlandschaft. Der andere Strang ist historisch älter. Er macht den Niedergang an der Stellung des Parlaments im Gewaltenteilungsgefüge fest, wo ihnen die Regierungen als eigentliche Gesetzgeber den Rang abgelaufen hätten. Dies betrifft vor allem die parlamentarischen Regierungssysteme, die institutionell auf der Verbindung ("Gewaltenfusion") von Regierung und parlamentarischer Mehrheit gründen und sich darin vom gewaltentrennenden präsidentiellen System unterscheiden. Die kompakte Abhandlung des Würzburger Staatsrechtlers Florian Meinel über den bundesdeutschen Parlamentarismus - Nebenprodukt und Destillat einer demnächst erscheinenden, wesentlich umfangreicheren Habilitationsschrift - reiht sich in den zuletzt genannten, älteren Strang ein. Seine zentrale These lautet, dass sich das parlamentarische Regierungssystem hierzulande niemals "richtig" durchgesetzt habe. Es sei nur eine Schicht des Staats- und Verfassungsaufbaus, dem mit "dem halb verfassungsrechtlichen, halb politischen Arrangement aus Landesexekutiven, Bundesrat und Länderkoordinierung", ein administrativ-föderaler Komplex als zweite, ältere und politisch ganz anders funktionierende Verfassungsschicht gegenüberstehe. Dieses System habe nur funktionieren können, weil beide Schichten unterhalb der formellen Verfassungsebene durch drei "originär bundesrepublikanische Institutionen" - die Volksparteien, das Bundeskanzleramt und das Bundesverfassungsgericht - miteinander verknüpft worden seien. Gerade diese Vermittlungsinstitutionen gerieten aber heute selbst in die Krise, weil sie entweder erodiert seien (wie die Volksparteien) oder ihre vermittelnde Funktion im Verhältnis zum Parlament und zur regierenden Mehrheit überdehnt hätten (wie Kanzleramt und Verfassungsgericht).
Ausgehend von dieser Generalthese spürt der Autor die Funktionsschwächen, Ungereimtheiten und Inkonsistenzen der parlamentarischen Regierungsform ebenso minutiös wie treffsicher auf. Warum findet die Kanzlerwahl im Bundestag als geheime Wahl statt, während über die Vertrauensfrage offen abgestimmt wird? Warum ist das sogenannte Zitierrecht, also die Herbeirufung eines Ministers, an eine Mehrheitsentscheidung gebunden? Warum ist die Verbindung von Regierungsamt und Parlamentsmandat nur erlaubt, aber nicht geboten? Warum haben nicht nur die Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrates, sondern auch ihre Beauftragten, also Landes- und Bundesbeamte, im Bundestag ein Anwesenheits- und sogar Rederecht? Die Liste ließe sich noch erweitern, etwa um den in der Literatur selten (und auch von Meinel nicht) erwähnten Umstand, dass die Abgeordneten zwar Amtsinhaber sind, als solche aber im Unterschied zu den Regierungsmitgliedern und Beamten keinen Eid leisten müssen.
Meinels Vorwurf, dass sich weder das Staatsrecht noch die Politikwissenschaft bemüht hätten, diese grundsätzlichen und kleineren Widersprüche theoretisch aufzuklären, ist, zumindest was die Politikwissenschaft betrifft, nicht haltbar. Theodor Eschenburg und Gerhard Lehmbruch haben eindrucksvolle Analysen über die "pfadabhängige" Entwicklung der politischen Institutionen in Deutschland vorgelegt und dabei zugleich deren Anpassungsfähigkeit hervorgehoben. So ist etwa dem Bundesrat, den Bismarck als monarchisches Gegenwicht zum aufstrebenden Reichstag konzipiert hatte, die Integration in das demokratische Regierungssystem gelungen. Auf der anderen Seite haben die Widersprüche auch mit den unterschiedlichen Funktionsanforderungen der demokratischen Regierungsweise zu tun, die Partizipations-, Transparenz und Effizienzgesichtspunkten gleichermaßen Rechnung tragen muss. Die Zielkonflikte lassen sich hier zum Beispiel am Problem der Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen festmachen.
Die normative Orientierung am britischen Urtyp des parlamentarischen Regierungssystem wirkt vor diesem Hintergrund eher befremdlich. Sie scheint vor allem in den Ausführungen über das Wahlsystem durch. Dort wird ein funktionaler Zusammenhang des parlamentarischen Systems mit dem Mehrheitswahlrecht behauptet, das in der Bundesrepublik ebenso wenig besteht wie in fast allen anderen parlamentarischen Systemen und das auch keine Chance auf Einführung hat - was der Autor natürlich weiß und offen einräumt. Das vermeintliche Vorbild ist auch deshalb keines, weil Großbritannien die föderalen und verfassungsstaatlichen Elemente, die in Deutschland der Einführung der parlamentarischen Regierungsform vorausgingen, heute in sein eigenes System übernimmt, weil es nur so den Zusammenhalt des Königreiches sichern kann. Gemessen daran und dem seit 2016 stattfindenden Brexit-Drama, bleibt die Krise des Parlamentarismus in der Bundesrepublik überschaubar.
So klug das gut zu lesende Buch im Einzelnen argumentiert, so wenig vermag es die Widersprüchlichkeiten des Parlamentarismus aufzulösen, die als Ursache der Systemkrise beschrieben werden. Entsprechend vage und unentschieden bleiben Meinels eigene Reformüberlegungen. Hier wird meistens nur gezeigt, warum etwas nicht geht oder welche Fallstricke es birgt - etwa beim Thema Minderheitsregierungen oder der Reform des Bundesrates. Der Autor ist ein Meister des Zweifels - und lässt den Leser gerade deshalb am Ende ziemlich ratlos zurück.
FRANK DECKER
Florian Meinel: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus.
C.H. Beck Verlag, München 2019. 238 S., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Aufstieg der Rechtspopulisten ist auch Ausdruck des Vertrauensverlustes in den Parlamenterismus - damit in eine zentrale Idee der liberalen Demokratie: die Repräsentation. Meinel erklärt, was wir an ihr haben."
Jens-Christian Raabe, Süddeutsche Zeitung
"Eine pointierte, aber unaufgeregte und an verborgenen Einsichten reiche Analyse."
Recht und Politik, Stefan Lenz
"Florian Meinel untersucht die Mikrostruktur unserer Verfassungsorganisationen und regt zum Nachdenken an."
zdf kultur, Thorsten Jantschek
"Meinel beweist mit seiner lebendig geschriebenen Analyse des parlamentarischen Regierungssystems den Mut und die Gabe, aus dem Schutzschild des juristischen Fachjargons herauszutreten."
Neue Justiz, Katja Gelinsky
"Florian Meinel hat mit ,Vertrauensfrage' ein kluges Buch geschrieben, das vor Augen führt, wie erhellend und spannend ein Blick auf die Mechanismen unseres parlamentarischen Systems sein kann."
Tagesspiegel, Florian Keisinger
"Florian Meinel beantwortet die aktuelle Frage nach der Zukunft der parlamentarischen Demokratie in Deutschland."
Neue Württembergerische Zeitung, Gunther Hartwig
"Thesenstarker Band (...) origineller Aufschlag, in dem nicht davor zurückgeschreckt wird, 'einmal grundsätzlicher und größer zu denken'"
Im Gegenlicht, Karl Adam
"Dieses Buch ist eines von denjenigen Werken, in denen man am liebsten jeden einzelnen Satz unterstreichen möchte - so dicht und kenntnisreich argumentiert und formuliert Meinel."
Politik.Wissenschaft, Michael Kolkmann
"In einer verständlichen Sprache geht er den komplizierten Mechanismen des politischen Systems auf den Grund (...) (eine) überzeugende Analyse."
Das Parlament, Aschot Manutscharjan
"Florian Meinel räumt mit Bundestagsklischees auf (...)) erfrischend."
SWR2 Kultur, Klaus Heinrich
"Aus erfreulich großer Distanz zur Aufgeregtheit unserer Zeit beschreibt Meinel nüchtern und einleuchtend, worin die Gefahren und Selbstgefährdungen der parlamentarischen Demokratie liegen. Hochinteressant."
Dresdner Morgenpost, Guido Glaner
"Florian Meinel geht in einer fundierten Analyse dem Doppelcharakter des Parlaments auf den Grund (...) eine lehrreiche Einführung."
Süddeutsche Zeitung, Rudolf Walther
"Florian Meinel schlüsselt anhand der parlamentarischen Institutionen des Grundgesetzes die politische Krise der Gegenwart auf - ein großer Wurf!"
Christoph Möllers
Jens-Christian Raabe, Süddeutsche Zeitung
"Eine pointierte, aber unaufgeregte und an verborgenen Einsichten reiche Analyse."
Recht und Politik, Stefan Lenz
"Florian Meinel untersucht die Mikrostruktur unserer Verfassungsorganisationen und regt zum Nachdenken an."
zdf kultur, Thorsten Jantschek
"Meinel beweist mit seiner lebendig geschriebenen Analyse des parlamentarischen Regierungssystems den Mut und die Gabe, aus dem Schutzschild des juristischen Fachjargons herauszutreten."
Neue Justiz, Katja Gelinsky
"Florian Meinel hat mit ,Vertrauensfrage' ein kluges Buch geschrieben, das vor Augen führt, wie erhellend und spannend ein Blick auf die Mechanismen unseres parlamentarischen Systems sein kann."
Tagesspiegel, Florian Keisinger
"Florian Meinel beantwortet die aktuelle Frage nach der Zukunft der parlamentarischen Demokratie in Deutschland."
Neue Württembergerische Zeitung, Gunther Hartwig
"Thesenstarker Band (...) origineller Aufschlag, in dem nicht davor zurückgeschreckt wird, 'einmal grundsätzlicher und größer zu denken'"
Im Gegenlicht, Karl Adam
"Dieses Buch ist eines von denjenigen Werken, in denen man am liebsten jeden einzelnen Satz unterstreichen möchte - so dicht und kenntnisreich argumentiert und formuliert Meinel."
Politik.Wissenschaft, Michael Kolkmann
"In einer verständlichen Sprache geht er den komplizierten Mechanismen des politischen Systems auf den Grund (...) (eine) überzeugende Analyse."
Das Parlament, Aschot Manutscharjan
"Florian Meinel räumt mit Bundestagsklischees auf (...)) erfrischend."
SWR2 Kultur, Klaus Heinrich
"Aus erfreulich großer Distanz zur Aufgeregtheit unserer Zeit beschreibt Meinel nüchtern und einleuchtend, worin die Gefahren und Selbstgefährdungen der parlamentarischen Demokratie liegen. Hochinteressant."
Dresdner Morgenpost, Guido Glaner
"Florian Meinel geht in einer fundierten Analyse dem Doppelcharakter des Parlaments auf den Grund (...) eine lehrreiche Einführung."
Süddeutsche Zeitung, Rudolf Walther
"Florian Meinel schlüsselt anhand der parlamentarischen Institutionen des Grundgesetzes die politische Krise der Gegenwart auf - ein großer Wurf!"
Christoph Möllers