Er war einer der einflußreichsten Humanisten Europas, ein Pazifist, ein unermüdlicher Publizist und Propagandist für eine umfassende Bildungs-, Gesellschafts- und Glaubensreform seiner Zeit war Erasmus von Rotterdam weit voraus. Er geriet nicht selten zwischen die Fronten von Reform und Orthodoxie, behauptete dabei aber stets seine geistige Freiheit und Unabhängigkeit.
Der vorliegende Band vereinigt zwanzig vertrauliche Gespräche, Dialoge, in denen Moral und Lebensführung sowie drängende politische und gesellschaftliche Fragen thematisiert werden. Und obwohl nun nahezu 500 Jahre alt, sind die Fragen von brennender Aktualität: Kann ein Krieg gerecht, das heißt zu rechtfertigen, sein? Kann man im Namen Gottes kämpfen? Wie kommt es, daß sich einzelne so oft und auf Kosten kollektiver Solidarität durchsetzen? Und worauf gründet sich eigentlich die Diffamierung und Unterdrückung des weiblichen Geschlechts? Beharrlich und mit viel Charme verkündet Erasmus seine humanistische Botschaft: den Triumph des unabhängigen und selbständigen vor dem dogmatischen, autoritätsgläubigen, konfessionell und politisch gefesselten Denken.
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Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Der vorliegende Band vereinigt zwanzig vertrauliche Gespräche, Dialoge, in denen Moral und Lebensführung sowie drängende politische und gesellschaftliche Fragen thematisiert werden. Und obwohl nun nahezu 500 Jahre alt, sind die Fragen von brennender Aktualität: Kann ein Krieg gerecht, das heißt zu rechtfertigen, sein? Kann man im Namen Gottes kämpfen? Wie kommt es, daß sich einzelne so oft und auf Kosten kollektiver Solidarität durchsetzen? Und worauf gründet sich eigentlich die Diffamierung und Unterdrückung des weiblichen Geschlechts? Beharrlich und mit viel Charme verkündet Erasmus seine humanistische Botschaft: den Triumph des unabhängigen und selbständigen vor dem dogmatischen, autoritätsgläubigen, konfessionell und politisch gefesselten Denken.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2000Nichts als Klagen über Heupreise
Ein Schwein allein hat keine Bildung: Erasmus' Gespräche
Niemand ist sicher davor, aus der falschen Ecke Applaus zu ernten: Das ist ein abgeklärtes "Caveat" von vielen, die Erasmus von Rotterdam im Dialog dem jungen Philodoxus zuteil werden läßt. Eben dieses Schicksal hat den Humanisten längst selber ereilt. Nach einem Jahrhundert der Geringschätzung, da die nationalistisch konditionierten Wissenschaftsbetriebe aller Länder den erasmianischen Skeptizismus mißbilligend gegen das unbedingte Engagement eines Luther, Zwingli oder Ignatius von Loyola hielten, ist es inzwischen gerade seine kultivierte Unparteilichkeit, die den Rotterdamer seinem Publikum empfiehlt. Mit ihm schmückt sich seine niederländische Heimat, wo Harry Mulisch ihn einmal "den Archetypus des Holländers" nannte, natürlich ironisch, was wiederum zum erasmianischen Habitus gehört. Geradliniger geht man in Erasmus' Wahlheimat Basel vor, deren Tourismuswerbung das Holbeinsche Porträt unter dem Slogan "Kultur durch Tradition" als Ausweis und Beschwörung zugleich nutzt.
Aber der Name des großen Toten ist auch denen wohlfeil, die das geeinte Europa - Lieblingstraum des Erasmus - zur Freihandelszone herabwürdigen. Seine Bedachtsamkeit, sich von keiner Partei vereinnahmen zu lassen, macht ihn zur leichten Beute für bequeme Beliebigkeit. "Vorkämpfer für Frieden und Toleranz", lautete der Titel der Jubiläumsausstellung 1986. Es ist allzu einfach geworden, Erasmus zu loben.
Ihn zu lesen bleibt darum nicht weniger spannend. Der "Polygraphus", der Vielschreiber, wie sich Erasmus mit stolzer Selbstironie nennt, hat einige der ersten Bestseller der Buchgeschichte geschrieben. Seine "Colloquia familiaria" erreichten in den ersten fünfzehn Jahren über sechzig Auflagen und zahlreiche Übersetzungen. Zwanzig dieser "Vertraulichen Gespräche", ein rundes Drittel also, sind jetzt in gewohnt ansprechender Ausstattung als Diogenes-Taschenbuch erschienen. Kurt Steinmanns deutscher Erasmus liest sich flüssig, glatt, eben kolloquial; gegenüber der gängigen Ausgabe von Werner Welzig aus den sechziger Jahren verzichtet er auf syntaktische Nachahmung zugunsten stilistischer Frische.
So wird im Gespräch zweier Frauen aus dem plauderigen "fortasse nova vestis commendat formam", das Welzig etwas prätentiös verdeutscht mit "Vielleicht schmeichelt das neue Kleid der Gestalt", bei Steinmann nun: "Vielleicht bringt das neue Kleid meine Figur besonders zur Geltung." Und der "blandus purpurae color" des Kleides ist nicht "eine freundliche Purpurfarbe" (Welzig), sondern "ein wirklich verführerisches Purpurrot"! Gelegentlich schießt das Stilwollen allerdings übers Ziel hinaus; es ist fraglich, ob man das Verb "emorior" (tot umfallen), das immerhin durch Cicero, Catull und die Kirchenväter nobilitiert war, unbedingt als "abkratzen" übersetzen muß.
Aber das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Man vergißt irgendwann, daß es sich um eine Übertragung handelt, und wird so daran erinnert, wie lateinisch das Schriftdeutsche ist. Dies ist nicht zuletzt Erasmus' Werk, war doch der Humanist zeitlebens bestrebt, das Lateinische sowohl vor den fachsprachlichen Deformierungen der Schultheologen als auch vor dem unkritischen Antiquarismus der Philologen in Sicherheit zu bringen. Ein aktuelles Latein zu schreiben war sein Anliegen, eine gesamteuropäische Dachsprache. In diesem Sinne waren die Colloquia zunächst ein Werk der Sprachdidaktik, Konversationsübungen für elegantes mündliches Latein. Daß wir sie in Übersetzung lesen, gehört zu seinem vielleicht nachhaltigsten Mißerfolg.
Die Gespräche bleiben dennoch ein Genuß, ob es nun um die Vorzüge und Nachteile des späten Aufstehens geht, um die magere Kost im Hause des reichen Gastfreunds in Venedig oder um Charon als Kriegsprofiteur, der - "Wer auf Gewinn aus ist, muß investieren" - über den Kauf einer größeren Fähre über die Styx nachdenkt. Dabei schafft die Übersetzung gelegentlich eine Vertrautheit, die trügt. So werden etwa Reiseerfahrungen ausgetauscht und die "deutschen" Unterkünfte - mürrischer Empfang, teures Heu für die Pferde, stundenlanges Warten aufs Abendessen - gegen den Charme "französischer" Wirtinnen gehalten. Man glaubt Erasmus, der häufig die Rheinschiene Basel-Brabant pendeln mußte, seine Erlebnisse aufs Wort; um so wichtiger wäre es gewesen, die Leser darauf hinzuweisen, daß der Rotterdamer sich selber als "Germanus" bezeichnete und seine Terminologie eher an Caesar und Tacitus orientierte als an der frühneuzeitlichen Fragmentierung des Kontinents.
Doch Steinmann verkündet bereits im Vorwort: "Was die Colloquia heute noch so lesenswert macht, ist, daß sie meist nur wenig rein Zeitgebundenes an sich haben." Dieses Prinzip liegt wohl auch der Auswahl der Gespräche zugrunde. Die "Soldatenbeichte" macht in bedrückender Weise deutlich, warum Erasmus, wie er andernorts schrieb, auch den schlechtesten Frieden jederzeit einem Krieg vorzog. Im "Bettlergespräch" geht es um die Überforderung des Fürsorgewesens durch die Massenverarmung. All das wird mit einer in den folgenden Jahrhunderten selten erreichten Leichtigkeit, einem an Wortspielen reichen Humor dargebracht, der das Engagement keineswegs banalisiert. Der Dialog zwischen dem Abt und der bücherlesenden Frau etwa bringt noch heutige Leser in Rage ob der Selbstgerechtigkeit des Kirchenmannes ("Mir bin ich gebildet genug"), die über die Schlagfertigkeit seiner Kontrahentin ("Auch die Schweine sind sich gebildet genug") immer triumphieren wird, weil der Abt nun einmal in einer Position ist zu erklären: "Ich hasse es, wenn einer meiner Untergebenen mehr weiß als ich."
Daneben stehen in der Auswahl aber auch weniger eindeutig aktualisierbare Gespräche, etwa die mitreißende Geschichte eines Schiffbruchs an der Nordseeküste oder die an frömmelnden Genrebildern einer Reise zu drei berühmten Stätten des Heiligenkultes, den der Theologe rundweg verachtet - da wirkt es ungewollt ironisch, daß Walter Jens, wie der Buchumschlag vermerkt, Erasmus einen "Nothelfer für unsere Zeit" nennt. Schließlich zitiert Steinmann zustimmend den Erasmus-Biographen Léon-Ernest Halkin: "Er ist gescheitert, weil er mit seinen richtigen Ideen zu früh kam. Seine Zeitgenossen hat er bei aller Leidenschaft, mit der er seine Politik der Öffnung verfocht, nicht richtig erreicht; aber er erreicht uns heute."
Wirklich? Erasmus' Skeptizismus, sein Bemühen um Unparteilichkeit, die das Gegenteil von Gleichgültigkeit war, ist die Haltung eines bewundernswert aufrichtigen Intellektuellen in einer Zeit allumfassender Polarisierung: Romkirche hier, Protestantismus dort. "Der fährt nicht unglücklich", schrieb der von allen Seiten Reklamierte und Kritisierte, "der zwischen zwei verschiedenen Übeln den Mittelkurs hält." Vor zwanzig Jahren noch wäre das Erasmus-Update, so ärgerlich-herablassend es sein mag, wenigstens plausibel gewesen. Heute, da - um im Bild zu bleiben - die Konterreformation triumphiert, müßte man also Giordano Bruno bemühen oder Galilei. Dann bliebe von Erasmus wenig mehr als der köstliche Dialog "Ars notoria", in dem ein junger Mann seine Hoffnung auf eine "Gedächtniskunst" setzt, die angeblich bewirkt, daß der Mensch mit geringstem Arbeitsaufwand binnen vierzehn Tagen alle wissenschaftlichen Fächer gründlich beherrsche. Allein dieses Gespräch wäre der Nothilfe genug angesichts der Parole "Internet für jeden Grundschüler". Wenn es denn also sein muß, so findet sich hier die Brisanz des Erasmus für eine Welt, der vor lauter Diskursen schwindlig geworden ist: in seinem gelassen-klassizistischen Bildungsideal. Und das erfrischt auf alle Fälle.
JAN RÜDIGER
Erasmus von Rotterdam: "Vertrauliche Gespräche". Übersetzt und herausgegeben von Kurt Steinmann. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 355 S., br., 24,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Schwein allein hat keine Bildung: Erasmus' Gespräche
Niemand ist sicher davor, aus der falschen Ecke Applaus zu ernten: Das ist ein abgeklärtes "Caveat" von vielen, die Erasmus von Rotterdam im Dialog dem jungen Philodoxus zuteil werden läßt. Eben dieses Schicksal hat den Humanisten längst selber ereilt. Nach einem Jahrhundert der Geringschätzung, da die nationalistisch konditionierten Wissenschaftsbetriebe aller Länder den erasmianischen Skeptizismus mißbilligend gegen das unbedingte Engagement eines Luther, Zwingli oder Ignatius von Loyola hielten, ist es inzwischen gerade seine kultivierte Unparteilichkeit, die den Rotterdamer seinem Publikum empfiehlt. Mit ihm schmückt sich seine niederländische Heimat, wo Harry Mulisch ihn einmal "den Archetypus des Holländers" nannte, natürlich ironisch, was wiederum zum erasmianischen Habitus gehört. Geradliniger geht man in Erasmus' Wahlheimat Basel vor, deren Tourismuswerbung das Holbeinsche Porträt unter dem Slogan "Kultur durch Tradition" als Ausweis und Beschwörung zugleich nutzt.
Aber der Name des großen Toten ist auch denen wohlfeil, die das geeinte Europa - Lieblingstraum des Erasmus - zur Freihandelszone herabwürdigen. Seine Bedachtsamkeit, sich von keiner Partei vereinnahmen zu lassen, macht ihn zur leichten Beute für bequeme Beliebigkeit. "Vorkämpfer für Frieden und Toleranz", lautete der Titel der Jubiläumsausstellung 1986. Es ist allzu einfach geworden, Erasmus zu loben.
Ihn zu lesen bleibt darum nicht weniger spannend. Der "Polygraphus", der Vielschreiber, wie sich Erasmus mit stolzer Selbstironie nennt, hat einige der ersten Bestseller der Buchgeschichte geschrieben. Seine "Colloquia familiaria" erreichten in den ersten fünfzehn Jahren über sechzig Auflagen und zahlreiche Übersetzungen. Zwanzig dieser "Vertraulichen Gespräche", ein rundes Drittel also, sind jetzt in gewohnt ansprechender Ausstattung als Diogenes-Taschenbuch erschienen. Kurt Steinmanns deutscher Erasmus liest sich flüssig, glatt, eben kolloquial; gegenüber der gängigen Ausgabe von Werner Welzig aus den sechziger Jahren verzichtet er auf syntaktische Nachahmung zugunsten stilistischer Frische.
So wird im Gespräch zweier Frauen aus dem plauderigen "fortasse nova vestis commendat formam", das Welzig etwas prätentiös verdeutscht mit "Vielleicht schmeichelt das neue Kleid der Gestalt", bei Steinmann nun: "Vielleicht bringt das neue Kleid meine Figur besonders zur Geltung." Und der "blandus purpurae color" des Kleides ist nicht "eine freundliche Purpurfarbe" (Welzig), sondern "ein wirklich verführerisches Purpurrot"! Gelegentlich schießt das Stilwollen allerdings übers Ziel hinaus; es ist fraglich, ob man das Verb "emorior" (tot umfallen), das immerhin durch Cicero, Catull und die Kirchenväter nobilitiert war, unbedingt als "abkratzen" übersetzen muß.
Aber das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Man vergißt irgendwann, daß es sich um eine Übertragung handelt, und wird so daran erinnert, wie lateinisch das Schriftdeutsche ist. Dies ist nicht zuletzt Erasmus' Werk, war doch der Humanist zeitlebens bestrebt, das Lateinische sowohl vor den fachsprachlichen Deformierungen der Schultheologen als auch vor dem unkritischen Antiquarismus der Philologen in Sicherheit zu bringen. Ein aktuelles Latein zu schreiben war sein Anliegen, eine gesamteuropäische Dachsprache. In diesem Sinne waren die Colloquia zunächst ein Werk der Sprachdidaktik, Konversationsübungen für elegantes mündliches Latein. Daß wir sie in Übersetzung lesen, gehört zu seinem vielleicht nachhaltigsten Mißerfolg.
Die Gespräche bleiben dennoch ein Genuß, ob es nun um die Vorzüge und Nachteile des späten Aufstehens geht, um die magere Kost im Hause des reichen Gastfreunds in Venedig oder um Charon als Kriegsprofiteur, der - "Wer auf Gewinn aus ist, muß investieren" - über den Kauf einer größeren Fähre über die Styx nachdenkt. Dabei schafft die Übersetzung gelegentlich eine Vertrautheit, die trügt. So werden etwa Reiseerfahrungen ausgetauscht und die "deutschen" Unterkünfte - mürrischer Empfang, teures Heu für die Pferde, stundenlanges Warten aufs Abendessen - gegen den Charme "französischer" Wirtinnen gehalten. Man glaubt Erasmus, der häufig die Rheinschiene Basel-Brabant pendeln mußte, seine Erlebnisse aufs Wort; um so wichtiger wäre es gewesen, die Leser darauf hinzuweisen, daß der Rotterdamer sich selber als "Germanus" bezeichnete und seine Terminologie eher an Caesar und Tacitus orientierte als an der frühneuzeitlichen Fragmentierung des Kontinents.
Doch Steinmann verkündet bereits im Vorwort: "Was die Colloquia heute noch so lesenswert macht, ist, daß sie meist nur wenig rein Zeitgebundenes an sich haben." Dieses Prinzip liegt wohl auch der Auswahl der Gespräche zugrunde. Die "Soldatenbeichte" macht in bedrückender Weise deutlich, warum Erasmus, wie er andernorts schrieb, auch den schlechtesten Frieden jederzeit einem Krieg vorzog. Im "Bettlergespräch" geht es um die Überforderung des Fürsorgewesens durch die Massenverarmung. All das wird mit einer in den folgenden Jahrhunderten selten erreichten Leichtigkeit, einem an Wortspielen reichen Humor dargebracht, der das Engagement keineswegs banalisiert. Der Dialog zwischen dem Abt und der bücherlesenden Frau etwa bringt noch heutige Leser in Rage ob der Selbstgerechtigkeit des Kirchenmannes ("Mir bin ich gebildet genug"), die über die Schlagfertigkeit seiner Kontrahentin ("Auch die Schweine sind sich gebildet genug") immer triumphieren wird, weil der Abt nun einmal in einer Position ist zu erklären: "Ich hasse es, wenn einer meiner Untergebenen mehr weiß als ich."
Daneben stehen in der Auswahl aber auch weniger eindeutig aktualisierbare Gespräche, etwa die mitreißende Geschichte eines Schiffbruchs an der Nordseeküste oder die an frömmelnden Genrebildern einer Reise zu drei berühmten Stätten des Heiligenkultes, den der Theologe rundweg verachtet - da wirkt es ungewollt ironisch, daß Walter Jens, wie der Buchumschlag vermerkt, Erasmus einen "Nothelfer für unsere Zeit" nennt. Schließlich zitiert Steinmann zustimmend den Erasmus-Biographen Léon-Ernest Halkin: "Er ist gescheitert, weil er mit seinen richtigen Ideen zu früh kam. Seine Zeitgenossen hat er bei aller Leidenschaft, mit der er seine Politik der Öffnung verfocht, nicht richtig erreicht; aber er erreicht uns heute."
Wirklich? Erasmus' Skeptizismus, sein Bemühen um Unparteilichkeit, die das Gegenteil von Gleichgültigkeit war, ist die Haltung eines bewundernswert aufrichtigen Intellektuellen in einer Zeit allumfassender Polarisierung: Romkirche hier, Protestantismus dort. "Der fährt nicht unglücklich", schrieb der von allen Seiten Reklamierte und Kritisierte, "der zwischen zwei verschiedenen Übeln den Mittelkurs hält." Vor zwanzig Jahren noch wäre das Erasmus-Update, so ärgerlich-herablassend es sein mag, wenigstens plausibel gewesen. Heute, da - um im Bild zu bleiben - die Konterreformation triumphiert, müßte man also Giordano Bruno bemühen oder Galilei. Dann bliebe von Erasmus wenig mehr als der köstliche Dialog "Ars notoria", in dem ein junger Mann seine Hoffnung auf eine "Gedächtniskunst" setzt, die angeblich bewirkt, daß der Mensch mit geringstem Arbeitsaufwand binnen vierzehn Tagen alle wissenschaftlichen Fächer gründlich beherrsche. Allein dieses Gespräch wäre der Nothilfe genug angesichts der Parole "Internet für jeden Grundschüler". Wenn es denn also sein muß, so findet sich hier die Brisanz des Erasmus für eine Welt, der vor lauter Diskursen schwindlig geworden ist: in seinem gelassen-klassizistischen Bildungsideal. Und das erfrischt auf alle Fälle.
JAN RÜDIGER
Erasmus von Rotterdam: "Vertrauliche Gespräche". Übersetzt und herausgegeben von Kurt Steinmann. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 355 S., br., 24,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr liebevoll bespricht Jan Rüdiger diese Neuübersetzung eines Teils der "colloquia familiaria" und macht glaubhaft, dass es sich hierbei nicht nur um eine belehrende oder erbauliche, sondern auch um eine höchst unterhaltsame Lektüre handelt. Dies begründet er einerseits mit dem Stil des Erasmus, den er als einen großen Ironiker zwischen den Fronten des Katholizismus und des Protestantismus schildert. Sehr ansprechend schildert Rüdiger etwa das Gespräch zwischen der gebildeten Gläubigen und dem hochnäsigen Abt, der es nicht erträgt, das eine "Untergebene" mehr weiß als er, oder auch das Gespräch über die "Vorzüge und Nachteile des späten Aufstehens". Den anderen Grund für seinen Lobgesang benennt Rüdiger in der Neuübersetzung Kurt Steinmanns, die er für ihre Flüssigkeit und Eleganz lobt. Dies begrüßt er um so mehr, weil auch Erasmus "Colloquia" in einem aktuellen Latein geschrieben und als "Konversationsübungen für ein elegantes mündliches Latein" gedacht gewesen seien. Nur manchmal geht ihm Steinmann zu weit: Das Wort "emorior" (tot umfallen), das immerhin durch Cicero und Catull nobilitiert worden sei, hätte Rüdiger nicht mit "abkratzen" wiedergegeben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Erasmus hat sein geistiges Kleinod, seinen Menschheitsglauben, unversehrt heimgebracht aus dem furchtbaren Haßorkan seiner Zeit, und an diesem kleinen glimmenden Docht konnten Spinoza, Lessing und Voltaire und können alle künftigen Europäer ihre Leuchte entzünden.« Stefan Zweig