Hat die Vertreibung von Millionen Deutschen aus Ostmitteleuropa nach 1945 in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik einen angemessenen Platz gefunden? Manfred Kittel zeigt, dass Differenzierungen notwendig sind: In den 1960er Jahren zeichnete sich mit wachsender Kritik an der ostpolitischen Haltung der Landsmannschaften in Medien und intellektuellen Milieus eine zunehmende Entfremdung vom historischen deutschen Osten ab. Da aber noch alle Parteien um die Wählerstimmen der Vertriebenen rangen, blieb der erinnerungskulturelle Wandel begrenzt. Erst nach dem "Machtwechsel" in Bonn 1969 mehrten sich in Bund, Ländern und Kommunen die Symptome der Verdrängung.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2007Flucht und Gedächtnis
Manfred Kittel diagnostiziert eine Geschichte der Versäumnisse und glaubt die Schuldigen zu kennen / Von Mathias Beer
Die Aktualität der Frage nach dem Ort von Flucht und Vertreibung im kulturellen Gedächtnis der Deutschen ist unübersehbar. Die Novelle von Günter Grass "Im Krebsgang", die Ausstellungen des Hauses der Geschichte in Bonn oder jene der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin sowie zahlreiche Dokumentar- und Spielfilme stehen stellvertretend für drei Bereiche, in denen diese Frage nach wie vor intensiv und kontrovers diskutiert wird: Printmedien, Politik und Wissenschaft. In diese Debatten greift Manfred Kittel ein. Ihn interessiert der Umgang sowohl mit "Flucht und Vertreibung" als auch mit dem "historischen deutschen Osten" in der Bundesrepublik vorrangig in den beiden Jahrzehnten zwischen 1960 und Anfang der achtziger Jahre. Eingerahmt werden sie von einem Rückblick in das erste Nachkriegsjahrzehnt und einem Ausblick bis in die Gegenwart. So soll der Stellenwert der beiden Erinnerungsorte in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik bestimmt werden. Als Sonde, die an verschiedenen Punkten des weiten Feldes immer neu in die bundesdeutsche Vergangenheit getrieben wird, dient vor allem das Vertriebenenblatt Deutscher Ostdienst. Kittel ist sich über die Grenzen dieser bisher in der Forschung leider ignorierten Quelle im Klaren, ohne sich aber immer daran zu halten.
Eines der Verdienste der dichten Studie ist es, dass sie eine wichtige erinnerungsgeschichtliche Forschungslücke aufzeigt. Selbst trägt sie allerdings bei allem Materialreichtum nicht entscheidend dazu bei, diese zu schließen. Kittel spricht von einem Versuch. Weshalb? Weil er zwar viele, auch neue Fakten ausbreitet, einige, wie der Autor einräumt, vorläufige Breschen in das weite Feld schlägt, diese aber nicht zu einem überzeugenden Gesamtbild zusammenzufügen vermag. Die große Zahl der Belege wird in den Dienst einer bei genauerer Betrachtung fragwürdigen These gestellt. Auch als Frage formuliert - Vertreibung der Vertriebenen? - ist unverkennbar, dass für Kittel die Antwort und die dafür Verantwortlichen von Anfang an feststehen: Die Erinnerungskultur an "den deutschen Osten" habe sich nach einer Phase der Ambivalenzen in den achtziger Jahren durch das Wirken der Regierungsparteien in der Zeit der sozialliberalen Koalition und hier insbesondere der SPD so ungünstig entwickelt, dass sie Züge einer zweiten, geistigen Vertreibung angenommen habe. Das ist bezogen auf die von Kittel diagnostizierten beiden Phasen und ihrem Inhalt ein zutreffender, aber kein neuer Befund, auch wenn er gelegentlich in einem Entlarvungsduktus daherkommt. Noch bedeutsamer ist allerdings, dass er am Kern der Sache vorbeizielt, weil Kittel offensichtlich Befund und Ursache gleichsetzt.
Beide Erinnerungsorte, sowohl "Flucht und Vertreibung" als auch "deutscher Osten", dienten bis Ende der sechziger Jahre in der Bundesrepublik dazu, die deutsche Frage offenzuhalten. Sie dienten nicht der Verankerung mehrerer Kapitel der eigenen Geschichte im deutschen kulturellen Gedächtnis. Vielmehr verkamen sie angesichts der Zementierung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zum zunehmend einzigen innen- wie außenpolitischen Mittel, mit dem symbolisch territoriale Ansprüche aufrechterhalten werden sollten. Als dieser parteipolitische Konsens, wie Kittel zutreffend folgert, mit der neuen Ostpolitik aufbrach, entfiel diese Funktion der beiden Erinnerungsorte nicht. Im Gegenteil, sie wurde jetzt in einer extremen parteipolitischen und medialen Polarisierung noch stärker mit Geschichtspolitik aufgeladen. Es fand jedoch, anders als der Schluss des Autors nahelegt, kein Mehrfrontenkrieg um die Erinnerung statt, sondern es ging einerseits um das Festhalten an Rechtsansprüchen, die faktisch nicht mehr bestanden, und andererseits um die Anerkennung des Status quo.
Erst mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, der deutschen Vereinigung 1990 und der Anerkennung der neuen deutschen Ostgrenze ist die politische Zweckentfremdung der beiden Erinnerungsorte im Rahmen zeitbedingter heimatpolitischer Revisionsstrategien entfallen. Erst damit sind die Voraussetzungen gegeben, "Flucht und Vertreibung" und den "deutschen Osten" in das deutsche kulturelle Gedächtnis einzugliedern. Es handelt sich dabei um ein erinnerungskulturelles Nachholen dessen, was sich auf dem Gebiet der vorbildlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Integration der Millionen von deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen längst vollzogen hat.
Die Eingliederung der Geschichte des deutschen Ostens einschließlich von Flucht und Vertreibung in das nationale kulturelle Gedächtnis ist nicht, wie die Studie glauben machen will, eine Geschichte nicht genutzter oder vertaner Chancen, weil es diese, wie Kittel selbst andeutet, wohl nie gegeben hat. Sie ist auch nicht, unter Berufung auf Günter Grass, eine Geschichte von Versäumnissen. Und sie ist auch keine Verlustgeschichte, sondern vielmehr ein hindernisreicher und auch schmerzlicher kultureller Aneignungsprozess von im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg Verlorengegangenem und während der Bonner Republik Verschüttetem. Dieser Prozess ist seit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Vereinigung in der Berliner Republik voll im Gange. In ihm gilt es, den geschichtspolitischen Schutt der vergangenen 60 Jahre Schicht für Schicht abzutragen und "Flucht und Vertreibung" und den "deutschen Osten" neu zu entdecken. Ob dabei "erinnerungskulturelle Leuchttürme", wie sie Kittel befürwortet - ein Museum für preußische Geschichte im wieder aufzubauenden Berliner Schloss, ein Zentrum gegen Vertreibungen und ein ostdeutsches Zentralmuseum -, hilfreich sein können, darf bezweifelt werden. Sie entstammen nämlich, wie der nicht zufällig gewählte Titel der Studie, aus einer Zeit, als die Erinnerungsorte "deutscher Osten" und "Flucht und Vertreibung" als politische Waffen im Kampf um territoriale Ansprüche missbraucht worden sind.
Manfred Kittel: "Vertreibung der Vertriebenen?" Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982). Sondernummer der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. R. Oldenbourg Verlag, München 2007. 206 S., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Manfred Kittel diagnostiziert eine Geschichte der Versäumnisse und glaubt die Schuldigen zu kennen / Von Mathias Beer
Die Aktualität der Frage nach dem Ort von Flucht und Vertreibung im kulturellen Gedächtnis der Deutschen ist unübersehbar. Die Novelle von Günter Grass "Im Krebsgang", die Ausstellungen des Hauses der Geschichte in Bonn oder jene der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin sowie zahlreiche Dokumentar- und Spielfilme stehen stellvertretend für drei Bereiche, in denen diese Frage nach wie vor intensiv und kontrovers diskutiert wird: Printmedien, Politik und Wissenschaft. In diese Debatten greift Manfred Kittel ein. Ihn interessiert der Umgang sowohl mit "Flucht und Vertreibung" als auch mit dem "historischen deutschen Osten" in der Bundesrepublik vorrangig in den beiden Jahrzehnten zwischen 1960 und Anfang der achtziger Jahre. Eingerahmt werden sie von einem Rückblick in das erste Nachkriegsjahrzehnt und einem Ausblick bis in die Gegenwart. So soll der Stellenwert der beiden Erinnerungsorte in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik bestimmt werden. Als Sonde, die an verschiedenen Punkten des weiten Feldes immer neu in die bundesdeutsche Vergangenheit getrieben wird, dient vor allem das Vertriebenenblatt Deutscher Ostdienst. Kittel ist sich über die Grenzen dieser bisher in der Forschung leider ignorierten Quelle im Klaren, ohne sich aber immer daran zu halten.
Eines der Verdienste der dichten Studie ist es, dass sie eine wichtige erinnerungsgeschichtliche Forschungslücke aufzeigt. Selbst trägt sie allerdings bei allem Materialreichtum nicht entscheidend dazu bei, diese zu schließen. Kittel spricht von einem Versuch. Weshalb? Weil er zwar viele, auch neue Fakten ausbreitet, einige, wie der Autor einräumt, vorläufige Breschen in das weite Feld schlägt, diese aber nicht zu einem überzeugenden Gesamtbild zusammenzufügen vermag. Die große Zahl der Belege wird in den Dienst einer bei genauerer Betrachtung fragwürdigen These gestellt. Auch als Frage formuliert - Vertreibung der Vertriebenen? - ist unverkennbar, dass für Kittel die Antwort und die dafür Verantwortlichen von Anfang an feststehen: Die Erinnerungskultur an "den deutschen Osten" habe sich nach einer Phase der Ambivalenzen in den achtziger Jahren durch das Wirken der Regierungsparteien in der Zeit der sozialliberalen Koalition und hier insbesondere der SPD so ungünstig entwickelt, dass sie Züge einer zweiten, geistigen Vertreibung angenommen habe. Das ist bezogen auf die von Kittel diagnostizierten beiden Phasen und ihrem Inhalt ein zutreffender, aber kein neuer Befund, auch wenn er gelegentlich in einem Entlarvungsduktus daherkommt. Noch bedeutsamer ist allerdings, dass er am Kern der Sache vorbeizielt, weil Kittel offensichtlich Befund und Ursache gleichsetzt.
Beide Erinnerungsorte, sowohl "Flucht und Vertreibung" als auch "deutscher Osten", dienten bis Ende der sechziger Jahre in der Bundesrepublik dazu, die deutsche Frage offenzuhalten. Sie dienten nicht der Verankerung mehrerer Kapitel der eigenen Geschichte im deutschen kulturellen Gedächtnis. Vielmehr verkamen sie angesichts der Zementierung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zum zunehmend einzigen innen- wie außenpolitischen Mittel, mit dem symbolisch territoriale Ansprüche aufrechterhalten werden sollten. Als dieser parteipolitische Konsens, wie Kittel zutreffend folgert, mit der neuen Ostpolitik aufbrach, entfiel diese Funktion der beiden Erinnerungsorte nicht. Im Gegenteil, sie wurde jetzt in einer extremen parteipolitischen und medialen Polarisierung noch stärker mit Geschichtspolitik aufgeladen. Es fand jedoch, anders als der Schluss des Autors nahelegt, kein Mehrfrontenkrieg um die Erinnerung statt, sondern es ging einerseits um das Festhalten an Rechtsansprüchen, die faktisch nicht mehr bestanden, und andererseits um die Anerkennung des Status quo.
Erst mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, der deutschen Vereinigung 1990 und der Anerkennung der neuen deutschen Ostgrenze ist die politische Zweckentfremdung der beiden Erinnerungsorte im Rahmen zeitbedingter heimatpolitischer Revisionsstrategien entfallen. Erst damit sind die Voraussetzungen gegeben, "Flucht und Vertreibung" und den "deutschen Osten" in das deutsche kulturelle Gedächtnis einzugliedern. Es handelt sich dabei um ein erinnerungskulturelles Nachholen dessen, was sich auf dem Gebiet der vorbildlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Integration der Millionen von deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen längst vollzogen hat.
Die Eingliederung der Geschichte des deutschen Ostens einschließlich von Flucht und Vertreibung in das nationale kulturelle Gedächtnis ist nicht, wie die Studie glauben machen will, eine Geschichte nicht genutzter oder vertaner Chancen, weil es diese, wie Kittel selbst andeutet, wohl nie gegeben hat. Sie ist auch nicht, unter Berufung auf Günter Grass, eine Geschichte von Versäumnissen. Und sie ist auch keine Verlustgeschichte, sondern vielmehr ein hindernisreicher und auch schmerzlicher kultureller Aneignungsprozess von im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg Verlorengegangenem und während der Bonner Republik Verschüttetem. Dieser Prozess ist seit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Vereinigung in der Berliner Republik voll im Gange. In ihm gilt es, den geschichtspolitischen Schutt der vergangenen 60 Jahre Schicht für Schicht abzutragen und "Flucht und Vertreibung" und den "deutschen Osten" neu zu entdecken. Ob dabei "erinnerungskulturelle Leuchttürme", wie sie Kittel befürwortet - ein Museum für preußische Geschichte im wieder aufzubauenden Berliner Schloss, ein Zentrum gegen Vertreibungen und ein ostdeutsches Zentralmuseum -, hilfreich sein können, darf bezweifelt werden. Sie entstammen nämlich, wie der nicht zufällig gewählte Titel der Studie, aus einer Zeit, als die Erinnerungsorte "deutscher Osten" und "Flucht und Vertreibung" als politische Waffen im Kampf um territoriale Ansprüche missbraucht worden sind.
Manfred Kittel: "Vertreibung der Vertriebenen?" Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982). Sondernummer der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. R. Oldenbourg Verlag, München 2007. 206 S., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent K. Erik Franzen findet, dass sich Manfred Kittels intendierte Geschichte vom Vergessen der Vertriebenen in den 70er Jahren eigentlich entgegengesetzt lese. Gerade die ideologischen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit, so der Rezensent, ergäben das Bild von einer umfassenden "Erinnerungslandschaft". Auch "outet" sich Manfred Kittel aus Sicht des Rezensenten gewissermaßen selbst, wenn er sich als Befürworter eines nationalen Zentrums gegen Vertreibung in Berlin zu erkennen gäbe. Durchaus Recht habe der Autor mit seinem grundsätzlichen Befund, dass ostdeutsche Vertriebene als "verdiente" Opfer stigmatisiert und gesellschaftlich als "unerwünschte" Opfer behandelt worden seien. Hingegen unterschlage er die eigentliche Ursache für diese Ungerechtigkeit, nämlich die revisionistische Ideologie und das Auftreten der Landsmannschaften. Die Leidtragenden aller Grabenkämpfe bis heute, so der Rezensent, seien aber tatsächlich die Vertriebenen mit ihren individuellen Erinnerungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"gelungenes Buch" Matthias Stickler, Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 4 (2008) "Wer das Buch liest, macht eine spannende Reise durch die Geschichte unserer Republik." Mit seinem "zurückhaltend-sachlichen Buch" hat der Autor "zur gegenwärtigen, oft irrational und kenntnislos geführten Debatte" (um das Zentrum gegen Vertreibungen) "einen wichtigen, klärenden Beitrag geleistet". Deutschlandfunk, 5.3.2007 "sehr gut lesbares, kurzweiliges Werk" K. Erik Franzen in Frankfurter Rundschau, 31.1.2007 "In seinem klugen Buch beschreibt der Regensburger Historiker", wie die Vertriebenen noch einmal vertrieben wurden: "aus dem historischen Bewusstsein der Deutschen." Bayern-Kurier, 27.1.2007