Der achtunddreißigjährige Michael Holme spielt Geige im Londoner Maggiore Quartett. Beruflich hat er sein Ziel erreicht, doch in der Beziehung zu seiner Schülerin Virginie sieht er keine wirkliche Perspektive. Eines Abends begegnet er Julia, seiner seit zehn Jahren unvergessenen großen Liebe. Mit ihr will er wieder an die Studienzeit anknüpfen, als sie ein Liebespaar waren und gemeinsam musizierten. Er versucht, das private Glück und die Hingabe an die Musik zu vereinen - und muss schließlich erkennen, dass er Julia ein zweites Mal verlieren wird.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2000Glück und Jammer feiner Musikanten
Endlich mal ein Roman, der die Tonarten und Tempi trifft: „Verwandte Stimmen” von Vikram Seth
Der Eintritt in diesen süffigen und sachkundigen, hochmusikalischen und tiefmelancholischen Roman wird deutschen Lesern nicht ganz leicht gemacht. Das vorangestellte Widmungsgedicht ist absurd ungeschickt übersetzt: „Hat der Spaziergang, Winternächte, /Offenbart dies? Kein Blitz einschlug, / Noch mein Gefühl ein Feuer trug”. Dergleichen ist wirklich unlesbar. Auch der allererste Satz des Textes irritiert, seiner anfechtbaren Grammatik wegen . . .
Doch als geübter, gegen mancherlei Übersetzungs-Unbill gestählter Roman-Konsument liest man unverdrossen weiter. Und bald passiert es: Der Charme des Buches wirkt . Die Schicksale eines jungen hoch begabten Geigers (des Erzählers) sowie seiner Streichquartett-Genossen fesseln. Als Ort, als eigentlichen Raum dieses Romans, der hauptsächlich im gegenwärtigen London, aber auch in Wien spielt, erweist sich die ausführlich zum Prosa-Ereignis umfunktionierte klassische Kammermusik. Jene Werke, an denen das „Maggiore”-Quartett des Michael Holme arbeitet. . .
Romane, in denen Musik eine zentrale Rolle spielt, sind von mehreren Gefahren bedroht. Reden sie nur ganz allgemein oder vage begeistert über Musikalisches , dann stellt sich beim Leser rasch ein Gefühl des Überdrusses ein: alles so verblasen. Nimmt jedoch der Musikroman-Autor konkret ernst, wovon er spricht, macht er ein Violin-Stück, ein frühes Beethoven-Klaviertrio samt dessen späterer Quintett–Fassung, oder gar Schuberts große Quintette zu Roman-Objekten, dann pflegen auch wohl informierte musikalische Laien sich oft irgendwie ausgeschlossen zu fühlen. Das gilt sogar für die musiktheoretischen Diskussionen in Thomas Manns „Doktor Faustus”.
Hinzu kommt, dass Roman-Autoren (wie ihre Übersetzer) von der spezifischen Musik-Materie oft platterdings zu wenig verstehen. In fast allen solchen Musik-Büchern wimmelt es dann von falschen Tonarten, unzutreffenden Opus-Zahlen, leicht widerlegbaren Tatsachen-Behauptungen. Selbst berühmte Schriftsteller sind nicht frei von derartigen Schwächen. Thomas Bernhard hat in seinem Pianisten-Roman „Der Untergeher” bedauerlicherweise nahezu nichts Konkretes über die immer nur pauschal gepriesene Kunst des Glenn Gould zu sagen vermocht.
Über derartige Plattitüden oder gar Schnitzer ist der indisch-englische Autor Vikram Seth weit hinaus. Sein blendend informierter Roman spielt ebenso in der Wirklichkeit exakt beschriebener Kunst-Werke – wie in einer Gruppe sich engagiert mit solchen Werken (aber auch konfliktbereit miteinander) beschäftigender Musiker.
Nur selten, wenn die heiß geliebte eigene Geige oder der noch heißer geliebte Franz Schubert allzu hymnisch gefeiert werden, entsteht zarter, vornehmer Kitsch. Meint man jedoch, den Autor endlich einmal bei einem Fehler zu ertappen – auf Seite 46 ist die Rede von den (inexistenten) Moll-Variationen eines frühen Beethoven-Trios – dann stand im englischen Original durchaus korrekt die Einzahl. Die sonst weithin angenehm empfindsame Übersetzung von Annette Grube brachte den Fehler hinzu. Freilich, die von Vikram Seth (dem Lyrik-Kenner, dem in England viel gelesenen Autor des Vers-Romans „The Golden Gate”) hier eingestreuten, simpel naiv gereimten Gedichte sind durch Eberhard Breidert in ein geradezu komisch-unmögliches Reim-Dich-oder-ich-fress-Dich-Deutsch übertragen worden.
Es gibt realistische Romane, die im Geschäftsleben, im Dentisten-Milieu, oder auf Einöd-Höfen spielen. Muss nun ausgerechnet die Musik als „allzu speziell” abschrecken? Bei Seth erfährt man auf liebenswerte Weise, wie es unter Streichquartett-Leuten zugeht. Wie herrlich ihre Kunst und wie schwer ihr Leben sein kann: Wenn die unerschwingliche Geige finanziert werden muss, wenn ein Quartett-Partner hysterisch zu spinnen beginnt, oder wenn man dem Publikum bei Nachfeiern lächelnd nach dem Munde zu reden hat. Schlimm auch, wenn sich herausstellt, dass überhaupt kein Kritiker da war, weil Londoner Feuilleton-Chefs Kammer-Musik für rückständig halten und am liebsten nur Rezensionen wollen über spektakulär Modernes oder über Opern. „Es ist unglaublich frustrierend – ein wunderbarer Auftritt und die Welt erfährt nichts davon. ”
Spätes Wiedersehen
Seiner überfeinen Seelen-Zartheit, seiner edlen Liebe zur Klassik und seiner elitären Kultur-Kritik wegen hat dieser Roman manchmal etwas seltsam Fin-de-siècle-haftes. Man fühlt sich in der Sphäre von Rossetti, von Schnitzler, von Hofmannsthal. Keine four letter words. Erst recht kein Zynismus. Dafür gelegentlich souverän eingesetzte, sehr englische Ironie.
Nicht aus all zu viel Musikalischem erwachsen diesem Künstler-Buch Probleme, wohl aber, weil der Autor allzu wenig literarische Darstellungskunst vorführt bei der Entfaltung von Michaels und Julias tragischer Lovestory. Die beiden studierten in Wien, verliebten sich dort rückhaltlos. Eines herben Geigen-Professors, seines Lehrers, wegen erlitt der glänzend begabte Michael in Wien eine seelische Blockade, scheiterte bei einem Auftritt, floh. Meldete sich zwei Monate überhaupt nicht. Als er dann tief schuldbewusst aus London schrieb, reagierte die verlassene Julia nicht mehr.
Nach Jahren sieht er sie wieder. Eine vorzügliche Pianistin. Wenn er ihr in London begegnet, stellt sich entsetzlicherweise heraus: Sie verliert unaufhaltsam das Gehör. Und verheiratet, plus Kind, ist sie mittlerweile auch. Michael versucht, die schöne Widerstrebende noch einmal in Besitz zu nehmen. Kurzes Chimären-Glück. Dann erzwingt sie die Trennung.
Gewiss begreift man, warum Julia anfangs aus ihrer Taubheit ein Geheimnis machen möchte: nicht telefonieren, dafür faxen – beim Zusammensein Worte verstohlen von den Lippen ablesen. Etwas kintopphaft-spannend wirkt freilich, dass die gehandikapte Julia,was übrigens nicht er veranlasst hat, mit Michael in Wien Schuberts Forellen-Quintett probt und aufführt. Wo aber nicht sie einen Schock erleidet – sondern während des Konzerts wieder einmal er.
Nun kommt Michael schlimm herunter, so wie Hans Schnier in Bölls „Ansichten eines Clowns”. Verbittert, verbiestert, indolent verlässt er sein Streichquartett, nimmt triste Musikanten-Jobs an. Für die Schilderung der Katastrophe wäre die epische Kraft eines großen Schriftstellers nötig. Wie konnte Knut Hamsun solche Mischungen aus Jammer und Verlassenheit gestalten! Vikram Seth bietet hier nur einen zwar effektvollen, aber künstlerisch und schriftstellerisch nicht hinreichend bewältigten Verzweiflungs-Rohstoff. Überdies scheinen die Beweggründe des krankhaft-egotistischen Ich-Erzählers, seine Traumata, doch zu wenig entfaltet, kaum erahnbar – während unser Ich-Erzähler andere, nicht-eigene Wirklichkeiten clever zu beschreiben vermag. So endet als unbewältigte Tragödie, was als beeindruckend reicher Musiker-Roman begann.
JOACHIM KAISER
VIKRAM SETH: Verwandte Stimmen. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. Kindler-Verlag, Reinbek 2000. 478 Seiten, 48 Mark.
Vikram Seth liest heute um 19 Uhr im Münchner Literaturhaus.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Endlich mal ein Roman, der die Tonarten und Tempi trifft: „Verwandte Stimmen” von Vikram Seth
Der Eintritt in diesen süffigen und sachkundigen, hochmusikalischen und tiefmelancholischen Roman wird deutschen Lesern nicht ganz leicht gemacht. Das vorangestellte Widmungsgedicht ist absurd ungeschickt übersetzt: „Hat der Spaziergang, Winternächte, /Offenbart dies? Kein Blitz einschlug, / Noch mein Gefühl ein Feuer trug”. Dergleichen ist wirklich unlesbar. Auch der allererste Satz des Textes irritiert, seiner anfechtbaren Grammatik wegen . . .
Doch als geübter, gegen mancherlei Übersetzungs-Unbill gestählter Roman-Konsument liest man unverdrossen weiter. Und bald passiert es: Der Charme des Buches wirkt . Die Schicksale eines jungen hoch begabten Geigers (des Erzählers) sowie seiner Streichquartett-Genossen fesseln. Als Ort, als eigentlichen Raum dieses Romans, der hauptsächlich im gegenwärtigen London, aber auch in Wien spielt, erweist sich die ausführlich zum Prosa-Ereignis umfunktionierte klassische Kammermusik. Jene Werke, an denen das „Maggiore”-Quartett des Michael Holme arbeitet. . .
Romane, in denen Musik eine zentrale Rolle spielt, sind von mehreren Gefahren bedroht. Reden sie nur ganz allgemein oder vage begeistert über Musikalisches , dann stellt sich beim Leser rasch ein Gefühl des Überdrusses ein: alles so verblasen. Nimmt jedoch der Musikroman-Autor konkret ernst, wovon er spricht, macht er ein Violin-Stück, ein frühes Beethoven-Klaviertrio samt dessen späterer Quintett–Fassung, oder gar Schuberts große Quintette zu Roman-Objekten, dann pflegen auch wohl informierte musikalische Laien sich oft irgendwie ausgeschlossen zu fühlen. Das gilt sogar für die musiktheoretischen Diskussionen in Thomas Manns „Doktor Faustus”.
Hinzu kommt, dass Roman-Autoren (wie ihre Übersetzer) von der spezifischen Musik-Materie oft platterdings zu wenig verstehen. In fast allen solchen Musik-Büchern wimmelt es dann von falschen Tonarten, unzutreffenden Opus-Zahlen, leicht widerlegbaren Tatsachen-Behauptungen. Selbst berühmte Schriftsteller sind nicht frei von derartigen Schwächen. Thomas Bernhard hat in seinem Pianisten-Roman „Der Untergeher” bedauerlicherweise nahezu nichts Konkretes über die immer nur pauschal gepriesene Kunst des Glenn Gould zu sagen vermocht.
Über derartige Plattitüden oder gar Schnitzer ist der indisch-englische Autor Vikram Seth weit hinaus. Sein blendend informierter Roman spielt ebenso in der Wirklichkeit exakt beschriebener Kunst-Werke – wie in einer Gruppe sich engagiert mit solchen Werken (aber auch konfliktbereit miteinander) beschäftigender Musiker.
Nur selten, wenn die heiß geliebte eigene Geige oder der noch heißer geliebte Franz Schubert allzu hymnisch gefeiert werden, entsteht zarter, vornehmer Kitsch. Meint man jedoch, den Autor endlich einmal bei einem Fehler zu ertappen – auf Seite 46 ist die Rede von den (inexistenten) Moll-Variationen eines frühen Beethoven-Trios – dann stand im englischen Original durchaus korrekt die Einzahl. Die sonst weithin angenehm empfindsame Übersetzung von Annette Grube brachte den Fehler hinzu. Freilich, die von Vikram Seth (dem Lyrik-Kenner, dem in England viel gelesenen Autor des Vers-Romans „The Golden Gate”) hier eingestreuten, simpel naiv gereimten Gedichte sind durch Eberhard Breidert in ein geradezu komisch-unmögliches Reim-Dich-oder-ich-fress-Dich-Deutsch übertragen worden.
Es gibt realistische Romane, die im Geschäftsleben, im Dentisten-Milieu, oder auf Einöd-Höfen spielen. Muss nun ausgerechnet die Musik als „allzu speziell” abschrecken? Bei Seth erfährt man auf liebenswerte Weise, wie es unter Streichquartett-Leuten zugeht. Wie herrlich ihre Kunst und wie schwer ihr Leben sein kann: Wenn die unerschwingliche Geige finanziert werden muss, wenn ein Quartett-Partner hysterisch zu spinnen beginnt, oder wenn man dem Publikum bei Nachfeiern lächelnd nach dem Munde zu reden hat. Schlimm auch, wenn sich herausstellt, dass überhaupt kein Kritiker da war, weil Londoner Feuilleton-Chefs Kammer-Musik für rückständig halten und am liebsten nur Rezensionen wollen über spektakulär Modernes oder über Opern. „Es ist unglaublich frustrierend – ein wunderbarer Auftritt und die Welt erfährt nichts davon. ”
Spätes Wiedersehen
Seiner überfeinen Seelen-Zartheit, seiner edlen Liebe zur Klassik und seiner elitären Kultur-Kritik wegen hat dieser Roman manchmal etwas seltsam Fin-de-siècle-haftes. Man fühlt sich in der Sphäre von Rossetti, von Schnitzler, von Hofmannsthal. Keine four letter words. Erst recht kein Zynismus. Dafür gelegentlich souverän eingesetzte, sehr englische Ironie.
Nicht aus all zu viel Musikalischem erwachsen diesem Künstler-Buch Probleme, wohl aber, weil der Autor allzu wenig literarische Darstellungskunst vorführt bei der Entfaltung von Michaels und Julias tragischer Lovestory. Die beiden studierten in Wien, verliebten sich dort rückhaltlos. Eines herben Geigen-Professors, seines Lehrers, wegen erlitt der glänzend begabte Michael in Wien eine seelische Blockade, scheiterte bei einem Auftritt, floh. Meldete sich zwei Monate überhaupt nicht. Als er dann tief schuldbewusst aus London schrieb, reagierte die verlassene Julia nicht mehr.
Nach Jahren sieht er sie wieder. Eine vorzügliche Pianistin. Wenn er ihr in London begegnet, stellt sich entsetzlicherweise heraus: Sie verliert unaufhaltsam das Gehör. Und verheiratet, plus Kind, ist sie mittlerweile auch. Michael versucht, die schöne Widerstrebende noch einmal in Besitz zu nehmen. Kurzes Chimären-Glück. Dann erzwingt sie die Trennung.
Gewiss begreift man, warum Julia anfangs aus ihrer Taubheit ein Geheimnis machen möchte: nicht telefonieren, dafür faxen – beim Zusammensein Worte verstohlen von den Lippen ablesen. Etwas kintopphaft-spannend wirkt freilich, dass die gehandikapte Julia,was übrigens nicht er veranlasst hat, mit Michael in Wien Schuberts Forellen-Quintett probt und aufführt. Wo aber nicht sie einen Schock erleidet – sondern während des Konzerts wieder einmal er.
Nun kommt Michael schlimm herunter, so wie Hans Schnier in Bölls „Ansichten eines Clowns”. Verbittert, verbiestert, indolent verlässt er sein Streichquartett, nimmt triste Musikanten-Jobs an. Für die Schilderung der Katastrophe wäre die epische Kraft eines großen Schriftstellers nötig. Wie konnte Knut Hamsun solche Mischungen aus Jammer und Verlassenheit gestalten! Vikram Seth bietet hier nur einen zwar effektvollen, aber künstlerisch und schriftstellerisch nicht hinreichend bewältigten Verzweiflungs-Rohstoff. Überdies scheinen die Beweggründe des krankhaft-egotistischen Ich-Erzählers, seine Traumata, doch zu wenig entfaltet, kaum erahnbar – während unser Ich-Erzähler andere, nicht-eigene Wirklichkeiten clever zu beschreiben vermag. So endet als unbewältigte Tragödie, was als beeindruckend reicher Musiker-Roman begann.
JOACHIM KAISER
VIKRAM SETH: Verwandte Stimmen. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. Kindler-Verlag, Reinbek 2000. 478 Seiten, 48 Mark.
Vikram Seth liest heute um 19 Uhr im Münchner Literaturhaus.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2000Jäger der verlorenen Schallplatte
Leider keine Flötentöne: Vikram Seths musikalischer Roman
Ist der multimediale Roman geboren? "Alle Werke, die im Buch Erwähnung finden, können Sie nun bequem zum klingenden Leben erwecken." "Klassik-Top-Stars" seien dabei, und eine "CD-Welterst-Einspielung" eines Beethoven-Quintetts ereigne sich. "Genießen Sie also die ganze Wahrheit der ,Verwandten Stimmen' mit Buch und CD."
Bei diesen vollmundigen Versprechungen smarten Marketings handelt es sich um Vikram Seths neuen Roman, der im vergangenen Jahr bei der angelsächsischen Kritik recht geteilte Aufnahme fand. Aber wer erst einmal einen Platz im Herzen des großen Lesepublikums gefunden hat, der ist daraus nicht so leicht wieder zu vertreiben.
Mit seinem anderthalbtausendseitigen Roman über "Eine gute Partie" (deutsch 1995) im postkolonialen Indien war Seth vor einigen Jahren zu Bestsellerruhm aufgestiegen, kein zweiter Rushdie, aber gewiss nicht der seichteste seines Metiers. Dem hätte zudem auch sein "Golden Gate" (1991) widersprochen, jenes bislang nicht ins Deutsche übersetzte tragikomische Epos in 588 Sonetten aus dem modernen Yuppie-Milieu von San Francisco, das die Tradition der Verserzählungen Puschkins und Byrons auf höchst seriöse Weise fortführt. Nun aber, im neuen Roman, leuchtet weder kalifornische noch indische Sonne auf schlanke Palmen; Linden und Platanen stehen vielmehr kahl und schwarz im Winterwind, und ein paar Unentwegte steigen in das eisige Wasser des Serpentine mitten im Londoner Hydepark. Es ist ein Zähigkeitstest, den Seth als Wahl-Londoner nicht nur selbst gelegentlich auf sich nimmt. Ihm setzt er auch den neuen Romanhelden aus, Michael Holme, blasshäutiger Fleischerssohn aus der nordenglischen Provinz und von Beruf zweiter Violinist eines Streichquartetts.
Ein Streichquartett als Stoff für einen Roman - das klingt gleichfalls nach einem Zähigkeitstest. "Musik" jedoch, so erklärt der Autor im Nachwort, "liegt mir noch mehr am Herzen als Sprache". Es ist ein überraschender Satz aus dem Munde eines Schriftstellers und klingt fast nach Verrat an seinem Beruf. Gemeint ist das nicht, aber eine Verwechslung ereignet sich dennoch. Denn in der Absicht, durch fremden Mund literarisch über eine Herzenssache sprechen zu können, setzt Seth nun einen Berufsmusiker als Erzähler ein, der zwar häufig mit der Brillanz des professionellen Autors spricht, aber dort, wo er als musikalischer Fachmann meditiert, über den Status des Liebhabers nicht hinausgelangt. So bleiben die Einsichten dieses Buches in Musik konventionell, und das Repertoire des literarischen Streichquartetts beschränkt sich auf Vivaldi, Bach, Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert. Schumann bereits ist der "falsche Schu . . .", und für Moderneres finden sich nur bissige Worte, abgesehen von Vaughan Williams' Hit der "aufsteigenden Lerche".
Um literarischer Originalität willen existiert stattdessen jenes Beethoven'sche Streichquintett op. 104, die Transkription des bekannten Klaviertrios op. 1,3, die Seth wieder entdecken lässt. Ein hübscher Einfall, der weidlich ausgenützt wird, wenn Michael der seltenen Schallplatte quer durch London nachjagt und sie später verzweifelt in einen Teich versenkt. Aus dessen Tiefen taucht sie nun als CD neuerlich auf. Nur entsteht daraus nicht multimediale Literatur, sondern allenfalls die "ganze Wahrheit" des Romans, denn unfreiwillig wird der Beweis erbracht, dass hier eben nicht gelingt, Musik in die Literatur zu integrieren. Deutsche Leser werden sich an Thomas Manns Meisterschaft auf diesem Felde erinnern. Bei ihm müssten sich schon die Romangestalten selbst ins Aufnahmestudio bemühen.
Der Rest von Seths Buch ist dann wirklich "Roman": interne Querelen des Quartetts um Pläne und Neigungen, externe mit Agenten, Schallplattenfirmen und Kritikern, dazu die Frage, ob Michael die von der alten Mrs. Formby geliehene Tononi-Violine von den Erben weggenommen werden wird, seine Sorge um den alternden Vater und dessen Katze Zsa-Zsa und vor allem natürlich die Liebesgeschichte mit Julia, der Freundin aus Wiener Studententagen. Nur dass Julia jetzt, zehn Jahre später, inzwischen mit einem sympathischen und verständnisvollen amerikanischen Bankier verheiratet ist, einen kleinen Sohn hat, unter neuem Namen als Konzertpianistin inzwischen einen guten Ruf erwerben konnte, überdies aber - und da pocht das Schicksal an die Pforte - im Begriffe ist, taub zu werden. Behindertenproblematik fordert zur Sympathie heraus. Aber sie bleibt hier akzidentell und verschafft dem Roman nur insofern eine Besonderheit, als darin ausgiebig gefaxt wird, weil Julia das Läuten des Telefons nicht mehr hören kann.
Seths Darstellung des Verhältnisses zwischen Julia und Michael mag persönlicher Geschmack verschieden beurteilen. Die einen werden Liebesnöte mitempfinden, die anderen durch eine Überdosis an Melodramatik daran gehindert werden. Unübersehbar ist jedenfalls, wie brüsk, taktlos und indiskret sich dieser Michael der verlorenen und wieder gefundenen Jugendgeliebten gegenüber verhält, ja wie das, was er für Liebe ansieht, eher einer Obsession gleichkommt, die, von einer tiefen, unbewussten Angst vor der Gemeinsamkeit mit einer Frau getragen, mit Erfüllung nichts anzufangen weiß. So hat dieses Verhältnis zu viel von einem Zähigkeitstest an sich, und man betrachtet diesen Michael eher mit einigem Kopfschütteln wie die Schwimmer im eisigen Wasser des Serpentine. Nicht wenige Leser dürften sogar aufatmen, wenn Julia ihn am Ende ein zweites Mal loswird.
Wieviel Seth seinem Helden von eigenen Konflikten zwischen zwei Kulturen, zwei Künsten und zwei Geschlechtern mitgegeben hat, weiß nur er selbst. Die "Botschaft" des Buches ist ganz sicher die seine: Musik soll unverlierbar Harmonie bieten, wo das Leben lediglich Missklänge bereithält. "Musik, solche Musik, ist Geschenk genug. Warum nach Glück verlangen; warum hoffen, nicht leiden zu müssen? Es ist genug, es ist Segen genug, Tag für Tag zu leben und hin und wieder solche Musik zu hören - nicht zu viel, denn die Seele würde es nicht ertragen." Dergleichen herbe Süße wird viele anziehen und andere sehr unbefriedigt lassen, denn da wird etwas mitgeteilt, für das die Erzählung von den Nöten des zweiten Violinisten Michael Holme im Maggiore-Streichquartett keinen rechten Rückhalt bietet.
Deutschen Lesern wird manches von Seths gelegentlichem Humor schwer zugänglich sein, obwohl sich die Übersetzung flüssig lesen lässt. Aus unbekannten Gründen hat der Verlag die Übersetzung der Widmungsverse an den Geiger Philippe Honoré, der übrigens auf der CD zu hören ist, sowie einiger Gedichteinlagen einem zweiten Übersetzer übergeben, dessen Inkompetenz ins Unsägliche reicht. "Perhaps this could have stayed unstated" ("Vielleicht hätte dies ungesagt bleiben können") heißt es zurückhaltend zu Anfang der Widmung, was zu der umwerfende Zeile "Pardon, dass es wird ausgequasselt" verhunzt wird. Aus einem vorsichtigen, zurückhaltenden, klaren Gedicht entsteht auf diese Weise ein völlig sinnloses, Grammatik und Prosodie verachtendes Gebilde. Das hat Vikram Seth, dieser elegante Verskünstler, wahrhaftig nicht verdient.
GERHARD SCHULZ Vikram Seth: "Verwandte Stimmen". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube. Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000. 478 S., geb., 48,- DM.
Vikram Seth: "Verwandte Stimmen". Musik aus dem gleichnamigen Roman. Decca Record Company, London 2000. 2 CDs in Kassette, 39,95 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Leider keine Flötentöne: Vikram Seths musikalischer Roman
Ist der multimediale Roman geboren? "Alle Werke, die im Buch Erwähnung finden, können Sie nun bequem zum klingenden Leben erwecken." "Klassik-Top-Stars" seien dabei, und eine "CD-Welterst-Einspielung" eines Beethoven-Quintetts ereigne sich. "Genießen Sie also die ganze Wahrheit der ,Verwandten Stimmen' mit Buch und CD."
Bei diesen vollmundigen Versprechungen smarten Marketings handelt es sich um Vikram Seths neuen Roman, der im vergangenen Jahr bei der angelsächsischen Kritik recht geteilte Aufnahme fand. Aber wer erst einmal einen Platz im Herzen des großen Lesepublikums gefunden hat, der ist daraus nicht so leicht wieder zu vertreiben.
Mit seinem anderthalbtausendseitigen Roman über "Eine gute Partie" (deutsch 1995) im postkolonialen Indien war Seth vor einigen Jahren zu Bestsellerruhm aufgestiegen, kein zweiter Rushdie, aber gewiss nicht der seichteste seines Metiers. Dem hätte zudem auch sein "Golden Gate" (1991) widersprochen, jenes bislang nicht ins Deutsche übersetzte tragikomische Epos in 588 Sonetten aus dem modernen Yuppie-Milieu von San Francisco, das die Tradition der Verserzählungen Puschkins und Byrons auf höchst seriöse Weise fortführt. Nun aber, im neuen Roman, leuchtet weder kalifornische noch indische Sonne auf schlanke Palmen; Linden und Platanen stehen vielmehr kahl und schwarz im Winterwind, und ein paar Unentwegte steigen in das eisige Wasser des Serpentine mitten im Londoner Hydepark. Es ist ein Zähigkeitstest, den Seth als Wahl-Londoner nicht nur selbst gelegentlich auf sich nimmt. Ihm setzt er auch den neuen Romanhelden aus, Michael Holme, blasshäutiger Fleischerssohn aus der nordenglischen Provinz und von Beruf zweiter Violinist eines Streichquartetts.
Ein Streichquartett als Stoff für einen Roman - das klingt gleichfalls nach einem Zähigkeitstest. "Musik" jedoch, so erklärt der Autor im Nachwort, "liegt mir noch mehr am Herzen als Sprache". Es ist ein überraschender Satz aus dem Munde eines Schriftstellers und klingt fast nach Verrat an seinem Beruf. Gemeint ist das nicht, aber eine Verwechslung ereignet sich dennoch. Denn in der Absicht, durch fremden Mund literarisch über eine Herzenssache sprechen zu können, setzt Seth nun einen Berufsmusiker als Erzähler ein, der zwar häufig mit der Brillanz des professionellen Autors spricht, aber dort, wo er als musikalischer Fachmann meditiert, über den Status des Liebhabers nicht hinausgelangt. So bleiben die Einsichten dieses Buches in Musik konventionell, und das Repertoire des literarischen Streichquartetts beschränkt sich auf Vivaldi, Bach, Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert. Schumann bereits ist der "falsche Schu . . .", und für Moderneres finden sich nur bissige Worte, abgesehen von Vaughan Williams' Hit der "aufsteigenden Lerche".
Um literarischer Originalität willen existiert stattdessen jenes Beethoven'sche Streichquintett op. 104, die Transkription des bekannten Klaviertrios op. 1,3, die Seth wieder entdecken lässt. Ein hübscher Einfall, der weidlich ausgenützt wird, wenn Michael der seltenen Schallplatte quer durch London nachjagt und sie später verzweifelt in einen Teich versenkt. Aus dessen Tiefen taucht sie nun als CD neuerlich auf. Nur entsteht daraus nicht multimediale Literatur, sondern allenfalls die "ganze Wahrheit" des Romans, denn unfreiwillig wird der Beweis erbracht, dass hier eben nicht gelingt, Musik in die Literatur zu integrieren. Deutsche Leser werden sich an Thomas Manns Meisterschaft auf diesem Felde erinnern. Bei ihm müssten sich schon die Romangestalten selbst ins Aufnahmestudio bemühen.
Der Rest von Seths Buch ist dann wirklich "Roman": interne Querelen des Quartetts um Pläne und Neigungen, externe mit Agenten, Schallplattenfirmen und Kritikern, dazu die Frage, ob Michael die von der alten Mrs. Formby geliehene Tononi-Violine von den Erben weggenommen werden wird, seine Sorge um den alternden Vater und dessen Katze Zsa-Zsa und vor allem natürlich die Liebesgeschichte mit Julia, der Freundin aus Wiener Studententagen. Nur dass Julia jetzt, zehn Jahre später, inzwischen mit einem sympathischen und verständnisvollen amerikanischen Bankier verheiratet ist, einen kleinen Sohn hat, unter neuem Namen als Konzertpianistin inzwischen einen guten Ruf erwerben konnte, überdies aber - und da pocht das Schicksal an die Pforte - im Begriffe ist, taub zu werden. Behindertenproblematik fordert zur Sympathie heraus. Aber sie bleibt hier akzidentell und verschafft dem Roman nur insofern eine Besonderheit, als darin ausgiebig gefaxt wird, weil Julia das Läuten des Telefons nicht mehr hören kann.
Seths Darstellung des Verhältnisses zwischen Julia und Michael mag persönlicher Geschmack verschieden beurteilen. Die einen werden Liebesnöte mitempfinden, die anderen durch eine Überdosis an Melodramatik daran gehindert werden. Unübersehbar ist jedenfalls, wie brüsk, taktlos und indiskret sich dieser Michael der verlorenen und wieder gefundenen Jugendgeliebten gegenüber verhält, ja wie das, was er für Liebe ansieht, eher einer Obsession gleichkommt, die, von einer tiefen, unbewussten Angst vor der Gemeinsamkeit mit einer Frau getragen, mit Erfüllung nichts anzufangen weiß. So hat dieses Verhältnis zu viel von einem Zähigkeitstest an sich, und man betrachtet diesen Michael eher mit einigem Kopfschütteln wie die Schwimmer im eisigen Wasser des Serpentine. Nicht wenige Leser dürften sogar aufatmen, wenn Julia ihn am Ende ein zweites Mal loswird.
Wieviel Seth seinem Helden von eigenen Konflikten zwischen zwei Kulturen, zwei Künsten und zwei Geschlechtern mitgegeben hat, weiß nur er selbst. Die "Botschaft" des Buches ist ganz sicher die seine: Musik soll unverlierbar Harmonie bieten, wo das Leben lediglich Missklänge bereithält. "Musik, solche Musik, ist Geschenk genug. Warum nach Glück verlangen; warum hoffen, nicht leiden zu müssen? Es ist genug, es ist Segen genug, Tag für Tag zu leben und hin und wieder solche Musik zu hören - nicht zu viel, denn die Seele würde es nicht ertragen." Dergleichen herbe Süße wird viele anziehen und andere sehr unbefriedigt lassen, denn da wird etwas mitgeteilt, für das die Erzählung von den Nöten des zweiten Violinisten Michael Holme im Maggiore-Streichquartett keinen rechten Rückhalt bietet.
Deutschen Lesern wird manches von Seths gelegentlichem Humor schwer zugänglich sein, obwohl sich die Übersetzung flüssig lesen lässt. Aus unbekannten Gründen hat der Verlag die Übersetzung der Widmungsverse an den Geiger Philippe Honoré, der übrigens auf der CD zu hören ist, sowie einiger Gedichteinlagen einem zweiten Übersetzer übergeben, dessen Inkompetenz ins Unsägliche reicht. "Perhaps this could have stayed unstated" ("Vielleicht hätte dies ungesagt bleiben können") heißt es zurückhaltend zu Anfang der Widmung, was zu der umwerfende Zeile "Pardon, dass es wird ausgequasselt" verhunzt wird. Aus einem vorsichtigen, zurückhaltenden, klaren Gedicht entsteht auf diese Weise ein völlig sinnloses, Grammatik und Prosodie verachtendes Gebilde. Das hat Vikram Seth, dieser elegante Verskünstler, wahrhaftig nicht verdient.
GERHARD SCHULZ Vikram Seth: "Verwandte Stimmen". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube. Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000. 478 S., geb., 48,- DM.
Vikram Seth: "Verwandte Stimmen". Musik aus dem gleichnamigen Roman. Decca Record Company, London 2000. 2 CDs in Kassette, 39,95 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Glück und Jammer feiner Musikanten. Endlich mal ein Roman, der die Tonarten und Tempi trifft. Süddeutsche Zeitung