Es besteht kaum ein Zweifel an der bedeutenden Rolle verwandtschaftlicher Bindungen im Früh- und Hochmittelalter: Sie werden als Ersatz für institutionelle Bindungen und als maßgebliches Strukturmerkmal des vorstaatlichen Gemeinwesens begriffen. Aber werden sie mit dem Begriff "Verwandtschaft" adäquat erfasst?Dass "Verwandtschaft" zwangsläufig eine Solidaritätsverpflichtung implizierte und allen anderen Bindungen vorrangig gewesen sei, lässt sich nicht feststellen. Eine genauere semantische Analyse der mittellateinischen Bezeichnungen zeigt, dass nur die Eigenschaft des "Verwandtseins" - wie Abstammung, Verschwägerung oder Freundschaft - beiden Begriffssystemen gemein ist. Dieser auf der Basis linguistischer Modelle erhobene Befund legt neue Interpretationen nahe, durch die Teile der Herrschaftsgeschichte des Früh- und Hochmittelalters in neuem Licht erscheinen.