Produktdetails
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Nicht ganz einverstanden mit den Thesen des Schweizer Historikers Thomas Maissen zeigt sich Paul Stauffer. Maissen war in den 90er Jahren einer der führenden Köpfe in der schweizinternen "Weltkriegsdebatte", die er nun im Nachhinein zusammenfasse, stellt er den Autor vor. In dieser Debatte ging es zum einen um die Rolle der Schweizer Banken, ruft Stauffer in Erinnerung, zum anderen um die Flüchtlingspolitik des Staates. Maissen entfaltet für Stauffers Geschmack eine überkritische Haltung zur Schweiz: zwar solidarisiere er sich nicht vorbehaltlos mit den amerikanischen Schweiz-Gegnern, die teilweise handfeste Interessen verfolgten, wie er weiß, aber er werfe den Schweizern vor, als einzige europäische Nation einer "national zentrierten, selbstzufriedenen Gedenkkultur" verhaftet geblieben zu sein. Maissens Darstellung der "Weltkriegsdebatte" lässt der Rezensent als kenntnisreich und gut geschrieben gelten, seine These vom Holocaust-zentrierten Geschichtsverständnis anderer Nationen hält er dagegen für Wunschdenken, seine Schlussfolgerungen daraus für politisch falsch.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2005

Heikle Gratwanderung
Die Haltung der Schweiz gegenüber dem Nationalsozialismus und die "Weltkriegsdebatte"

Thomas Maissen: Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und Schweizer Weltkriegsdebatte 1989-2004. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2005. 729 Seiten, 47,- [Euro].

Der seit kurzem in Heidelberg lehrende Schweizer Historiker Thomas Maissen war in den neunziger Jahren auch journalistisch tätig und beteiligte sich an der als "Weltkriegsdebatte" bezeichneten Kontroverse über die Haltung der Schweiz gegenüber dem "Dritten Reich". Seine nun vorgelegte umfangreiche Darstellung vermittelt aufgrund von Befragungen einer Vielzahl einstiger Akteure eine detaillierte Innenansicht jener Auseinandersetzungen, die 1996/97 ihren Kulminationspunkt erreichten. Im Zentrum der Debatte standen einerseits die Rolle der Schweizer Banken, anderseits die Flüchtlingspolitik des vom Krieg verschont gebliebenen Kleinstaates.

Entgegen der von Maissen vertretenen Auffassung hatten sich die Schweizer freilich schon lange zuvor selbstkritisch mit ihrer Weltkriegsvergangenheit auseinanderzusetzen begonnen. Publikationen, welche die restriktive Aufnahmepraxis vor allem gegenüber jüdischen Flüchtlingen klar mißbilligten, erschienen bereits in den fünfziger und sechziger Jahren und fanden weite Verbreitung. Maissen glaubt gegen autoglorifikatorische Tendenzen schweizerischer Selbstwahrnehmung ankämpfen zu müssen, die da und dort zwar wahrnehmbar, aber nie wirklich dominant gewesen waren. Den lange Jahre meinungsführenden "Publikumshistoriker" Edgar Bonjour rückt er in die Nähe einer schönfärberischen, "stark obrigkeitlich geprägten Form der Geschichtsschreibung". In Wirklichkeit ging Bonjour so weit, die Härten der schweizerischen Flüchtlingspolitik nicht nur den Behörden, sondern der "ganzen damaligen Generation" anzulasten, mithin eine eigentliche Kollektivschuldthese zu vertreten. Aus Egoismus und latentem Antisemitismus hätten die Schweizer die "Unmenschlichkeit gewisser Aspekte der behördlichen Asylpolitik" nicht wahrnehmen wollen, schrieb Bonjour 1970. Seiner Stellung als dem tonangebenden, allseits respektierten Geschichtsschreiber der Nation taten solch anklägerische Worte keinen Abtrag. Nichts deutet darauf hin, daß sich das historische Selbstverständnis der Schweizer seither in nationalistischem Sinne akzentuiert hätte.

Maissen wirft den Schweizern jedoch vor, als einzige in Europa einer national zentrierten, selbstzufriedenen Gedenkkultur verhaftet geblieben zu sein, während überall sonst seit 1989 "der Holocaust zum Angelpunkt eines gesamteuropäischen universalen Gedächtnisses" und "zum zentralen Narrativ einer universalen Schicksalsgemeinschaft ohne nationalstaatliche Nischen" geworden sei. Um diese seine Wunschvorstellung eines in "Holocaust-zentriertem" Geschichtsbewußtsein geeinten Europa "vom Kanal bis zum Bug" auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen, hätte es genügt, wenn Maissen sich mit dem in Paris heute wie eh und je praktizierten "exception française"-Diskurs vertraut gemacht oder sich in Warschau beim "Mann auf der Straße" danach erkundigt hätte, welcher "Gedächtnisort" ihm mehr bedeute - Auschwitz oder Katýn. Aber der Autor zieht es vor, sein metahistorisches Wunschbild nicht dem "crash test" der Konfrontation mit dem weiterhin nationalgeschichtlich bestimmten historischen Selbstverständnis "real existierender" Europäer auszusetzen. Aus der Behauptung, die Schweiz habe sich nach 1989 der vom übrigen Europa durchwegs "internalisierten" Holocaust-Erinnerung verweigert, glaubt er die Erklärung dafür ableiten zu können, daß das Land Mitte der neunziger Jahre zur bevorzugten Zielscheibe von Anschuldigungen amerikanisch-jüdischer Organisationen wurde. Die Schweizer Banken, so einer ihrer Hauptvorwürfe, hätten sich an den ihnen anvertrauten Geldern jüdischer Verfolgungsopfer massiv bereichert.

Die den Eidgenossen seitens dieser Ankläger zuteil gewordene "Vorzugsbehandlung" läßt sich freilich unschwer auf durchaus konkrete Gründe zurückführen: Als nahezu einziger kontinentaleuropäischer Finanzplatz, der sich Hitlers Zugriff hatte entziehen können, war die Schweiz naturgemäß der Ort, wo verwaiste Vermögenswerte von Naziopfern am ehesten erhalten geblieben waren. Maissen erinnert daran, daß der gegen die Schweizer Geldinstitute erhobene Veruntreuungsvorwurf Gegenstand akribischer Untersuchungen durch ein Großaufgebot internationaler Buchprüfer bildete und sich als haltlos erwies.

In Übereinstimmung mit früheren Befunden gelangt indes auch er zur Feststellung, daß Schweizer Bankkader es im Umgang mit Erben "nachrichtenloser Vermögen" oft in gravierender Weise an Sensibilität und Empathie fehlen ließen. Einleuchtend wirkt sein Hinweis auf Kommunikationsschwierigkeiten zwischen legalistisch räsonierenden Schweizer Verantwortlichen und den "rough justice" einfordernden Amerikanern. Beizustimmen ist schließlich seiner Kritik an der Schweizer Bundesregierung, die sich schwertat, Führungsverantwortung in einer das Landesinteresse (und nicht nur jenes der Banken) tangierenden Krise zu übernehmen.

Maissens kritische Grundhaltung gegenüber dem eigenen Land verleitet ihn nicht zu vorbehaltloser Solidarisierung mit den amerikanischen Schweiz-Gegnern. Er ist keineswegs blind für die erdnahen Motive, die sich hinter deren hochtönender Rhetorik oft verbargen: der um seinen Parlamentssitz bangende New Yorker Senator d'Amato buhlte um jüdische Wählerstimmen, die Sammelklagen-Anwälte witterten happige Honorare, während bei manchen "lauten Skandalisierern" aus Medienwelt und Publizistik schiere Profilierungs-sucht am Werk war. Nicht ganz unkritisch verfolgt Maissen anderseits auch die Arbeit der - in Reaktion auf die Angriffe aus den Vereinigten Staaten - von der Berner Regierung mit der Durchleuchtung der Schweizer Weltkriegsvergangenheit beauftragten Kommission unter dem Wirtschaftshistoriker J.-F. Bergier. Aus Maissens Darstellung wird klar, daß die in diesem Gremium (und seinem zahlreichen Mitarbeiterstab) tonangebenden linken Kräfte vergangenheitspolitisch bewußt auf eine Uminterpretation der jüngsten Schweizer Geschichte hinarbeiteten. Es galt, das historische Erscheinungsbild eines Landes außer Kraft zu setzen, das - von Hitlers Machtbereich rings umschlossen - seinen demokratisch-rechtsstaatlichen Traditionen treu geblieben und im Willen zur Verteidigung seiner Unabhängigkeit - trotz krasser militärischer Unterlegenheit - nie wankend geworden war. Von seinem zeitweiligen Versagen in der Asylpolitik abgesehen, hatte es eine heikle Gratwanderung zwischen Anpassung und Widerstand in nicht unehrenhafter Manier hinter sich gebracht.

An die Stelle dieser verhalten positiven Bilanz sollte nach dem Willen der Bergier-Kommission eine nahezu uneingeschränkt negative, auf "Sündenfälle" fokussierte treten: Die Schweiz hatte sich Schonung seitens des übermächtigen nördlichen Nachbarn durch die Lieferung kriegswichtiger Industriegüter erkauft; ihre Nationalbank hatte von der Reichsbank Raubgold entgegengenommen und ihr die Beschaffung von Devisen ermöglicht; generell hätte das Land seine Neutralität zugunsten einer Kollaboration mit dem "Dritten Reich" weitgehend preisgegeben. Daß die "Insel" in Hitlers Europa in ihrer Funktion als Nachrichtenzentrum ganz überwiegend den Interessen der Westalliierten diente und als Gastland einer Reihe jüdischer internationaler Organisationen zur eigentlichen Alarmzentrale des Holocaust wurde, bleibt bei dieser Sichtweise ausgeblendet.

Dem kritischen Blick des Autors entgeht das Einseitige solcher Optik nicht, er vermerkt es aber gleichsam im Vorbeigehen und ohne ernstlich daran Anstoß zu nehmen. Von seiner Wunschvorstellung des "Holocaust-zentrierten" Geschichtsverständnisses eingenommen, verwirft auch er, was immer als "national-apologetisch" inspirierte Argumentation aufgefaßt werden könnte. Daß er glaubt, seiner kenntnisreichen und brillant vorgetragenen Darstellung der Weltkriegsdebatte die These eines "Sonderfalles Schweiz" mit negativem Vorzeichen aufpfropfen zu müssen, hat eher mit Geschichtspolitik als mit Geschichtsschreibung zu tun.

PAUL STAUFFER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr