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Friedeward liebt Wolfgang. Und Wolfgang liebt Friedeward. Sie sind jung, genießen die Sommerferien, fahren mit dem Fahrrad die weite Strecke ans Meer und reden stundenlang über Gott und die Welt. Sie sind glücklich, wenn sie zusammen sind, und das scheint ihnen alles zu sein, was sie brauchen. Doch keiner darf wissen, dass sie mehr sind als beste Freunde. Es sind die 1950er-Jahre, sie leben im katholischen Heiligenstadt, und für die Menschen um sie herum, besonders für Friedewards strenggläubigen Vater, ist ihre Liebe eine Sünde. Käme ihre Beziehung ans Licht, könnten sie alles verlieren. Als…mehr

Produktbeschreibung
Friedeward liebt Wolfgang. Und Wolfgang liebt Friedeward. Sie sind jung, genießen die Sommerferien, fahren mit dem Fahrrad die weite Strecke ans Meer und reden stundenlang über Gott und die Welt. Sie sind glücklich, wenn sie zusammen sind, und das scheint ihnen alles zu sein, was sie brauchen. Doch keiner darf wissen, dass sie mehr sind als beste Freunde. Es sind die 1950er-Jahre, sie leben im katholischen Heiligenstadt, und für die Menschen um sie herum, besonders für Friedewards strenggläubigen Vater, ist ihre Liebe eine Sünde. Käme ihre Beziehung ans Licht, könnten sie alles verlieren. Als sie zum Studium nach Leipzig gehen - Friedeward studiert Germanistik, Wolfgang Musik -, finden sie dort eine Welt gefeierter Intellektueller, alles flirrt geradezu vor lebendigem Geist. Und sie lernen Jacqueline kennen, die ihnen gesteht, dass sie eine heimliche Beziehung zu einer Dozentin hat. Zu viert besuchen sie die legendären Vorlesungen im Hörsaal vierzig, gehen ins Theater, tauchen gemeinsam ein ins geistige Leben der Stadt.Und da reift in den drei Freunden der Plan: Wäre es nicht die perfekte 'Tarnung', wenn einer von ihnen Jacqueline zum Schein heiraten würde?

In seinem Roman erzählt der große deutsche Chronist Christoph Hein bewegend von einer Liebe, die über Jahre hinweg allen Widrigkeiten trotzt, und zeichnet zugleich ein lebendiges Panorama deutschen Geisteslebens.
Autorenporträt
Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle Der fremde Freund / Drachenblut. Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind Spiegel -Bestseller.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

Friedeward Ringeling, feine Manieren, intellektuell ambitioniert, entdeckt als Jugendlicher in den 1950er-Jahren seine Liebe zu Wolfgang und lebt fortan mit der Angst, ertappt zu werden. Äußerlich gelingt ihm eine Karriere an der Leipziger Universität. Die Verhüllung der sexuellen Neigung bringt ihn dazu, in Absprache mit einem lesbischen Paar, eine Zweckehe zu führen, doch hinter der Fassade bleibt er verletzlich und erpressbar: Homosexuelle Liebe wird vom katholischen Elternhaus als Sünde verurteilt, von der DDR-Gesellschaft als Straftat sanktioniert. Das Buch erinnert auch daran, dass der "aufgeklärte" Westen erst 1969 gleichgeschlechtliche Liebe nicht mehr als kriminell betrachtet hat, während die DDR schon 1957 die strenge Auslegung des Paragraphen 175 aussetzte. Ablehnung und Vorurteile bestehen dennoch bis heute, und somit setzt dieses Buch auch ein Zeichen gegen die Intoleranz. Hein verschafft - mit Verweisen auf Thomas Manns Erzählung "Tonio Kröger" - den Gefühlsverwirrungen seiner Figuren viel Raum und lässt sein lesbisch-schwules Doppelgespann ganz ohne Argwohn Momente der Erfüllung erleben. Zugleich zeichnet er das Porträt einer Ära: die Repressionen des DDR-Regimes, die Tyrannei der Stasi und eine geistige Elite, die dagegen trotzigen Widerstand leistet.

© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
»... eine berührende Geschichte von Liebe, Strafe und Verrat.« Katharina Teutsch DIE WELT 20181229

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.08.2018

„Die Grenze ist auch heute noch ziemlich dicht“
Niemand hat die Stimmungen der Wendejahrzehnte so präzise in Literatur gegossen wie Christoph Hein. Weiß er, was uns jetzt bevorsteht?
Ein Gespräch über deutsche Revolutionen, russische Literatur und den geheimnisvollen Osten
INTERVIEW: FELIX STEPHAN
Wenn er in Berlin ist, habe er jeden Tag zwei Termine, sagte Christoph Hein, deshalb finde man ihn zurzeit meist hier, in seinem Haus in Havelberg, wo er jeden Tag schreiben kann. Auf der Fahrt dorthin sieht man eine halbe Stunde lang nichts als Wälder, Pferde und Kühe. Irgendwann sind die Straßen nicht mehr asphaltiert, dann ist es das letzte Haus rechts. Zur Begrüßung eine kurze Reminiszenz an die Umweltminister der letzten DDR-Regierung: Deren letzte Amtshandlung habe darin bestanden, fast fünf Prozent des Staatsgebietes zum Naturschutzgebiet zu erklären. Christoph Hein bittet ins Terrassenzimmer. Der Blick über die Havelauen ist natürlich atemberaubend.
SZ: Herr Hein, wann haben Sie zum ersten Mal den Namen Angela Merkel gehört?
Christoph Hein: Sehr früh. Ich komme aus einem Pfarrerhaushalt, und mein Vater war wie viele andere ostdeutsche Pfarrer unheimlich aufgebracht, als zum ersten Mal in der Geschichte der DDR eine 14-jährige Pfarrerstochter eine Jugendweihe bekam. Diese Jugendliche war Angela Merkel. Unter den Pfarrern in der DDR war das damals ein großer Skandal. Bis dahin galt die unausgesprochene Regel: Wer die Jugendweihe bekommen hat, darf nicht konfirmiert werden. Im Gegensatz zu mir durfte sie deshalb aber später auch auf die Oberschule.
In Ihrem neuen Roman „Verwirrnis“ läuft Angela Merkel auch einmal durchs Bild, ohne allerdings erwähnt zu werden: Als nahe der Universität Leipzig unter der Erde alte Gemäuer entdeckt werden und die Leipziger Studenten daraus einen Club machen, die bekannte Moritzbastei. Auf der Baustelle hat Angela Merkel als Studentin auch mitgearbeitet.
Wirklich? Das wusste ich nicht.
Der Roman erzählt eine schwule Liebesgeschichte in der DDR und spielt zu großen Teilen am Germanistischen Institut der Universität Leipzig. Dort kommt es zwei Mal zu großen Entlassungswellen:
1953 und 1990. Ist diese Parallelität gewollt?
Nein, die Gründe und Voraussetzungen waren vollkommen verschieden. Ich beschreibe da eigentlich nur den Lebenslauf des damaligen Rektors, der sehr verspätet in der DDR seine Professur erhielt, weil man sie ihm wegen seiner offensichtlichen Qualifikation irgendwann nicht mehr verwehren konnte. Als er dann aber zwei Jahre vor der Wende Professor wurde, blieb ihm nur noch die Aufgabe, das Institut abzuwickeln. Damals war das Professor-Schüler-Verhältnis 1:5. Das musste also schnellstens abgebaut werden auf westliches Niveau. Heute haben wir überall ein Verhältnis von 1:400 oder gar 1:800.
In Ihrem Text ist es aber doch so, dass in beiden Fällen ein Humanist aus ideologischen Gründen seine Stelle verliert. Von innen gesehen unterscheiden sich die Entlassungen kaum.
Gut, es gibt eine Parallelität, aber ich will sie nicht zu weit treiben. Im Osten gibt es den Witz: Früher konnte man alles über seinen Chef sagen, aber nichts über Honecker, heute kann man über Merkel alles sagen, aber nichts über seinen Chef. Das ist vielleicht das Verhältnis, das da sichtbar wird.
Begreifen Sie sich eigentlich als ostdeutscher Autor, mit einem ostdeutschen Publikum?
Nein, da hatte ich Glück. Ich war ja schon vorher im Westen, mein Roman „Der fremde Freund“ war in der Bundesrepublik unter dem Titel „Drachenblut“ sehr erfolgreich. Aber bei den Autoren, die vor ’89 nicht schon im Westen waren, passierte danach auch nicht mehr viel. Die Grenze ist auch heute noch ziemlich dicht, selbst innerhalb Berlins: Die Autorenszenen in Ost und West haben ihre jeweils eigenen Kneipen und Buchhandlungen. Dabei ging es bei uns Literaten nach der Wende noch relativ freundlich zu, weil die Westautoren auch nicht viel Geld verdienten. Bei den Malern gab es viel heftigeren Widerstand gegen die Neuen, da haben die Westmaler mit aller Macht dafür gesorgt, dass die Ostmaler nicht in die wichtigen Galerien kamen, obwohl es ja einige gewichtige gab, Bernhard Heisig und andere. Am lockersten waren noch die Architekten: Die West-Architekten wussten, dass, auch wenn sie nichts unternahmen, die Ost-Architekten ohnehin keine Chance haben würden. Also waren sie ganz gelassen und freundlich.
Vom Aufstieg der AfD sind Sie so wenig überrascht wie wenige. Wie kommt das?
Als ich ungefähr 18 Jahre alt war, habe ich einen Aufsatz von Thomas Mann gelesen, den er 1946 geschrieben hatte. Da stand der Satz drin: „Der Faschismus als historische Periode ist noch lange nicht vorbei.“ Damals dachte ich: „Wovon redet der Alte?“ Nach 1945 war doch die ganze Welt erleichtert, dass das endlich für alle Zeiten vorbei ist. Aber Thomas Mann hatte recht. Deutschland kam jetzt zwar etwas verspätet an in diesem rechtsnationalen Feld, aber im Bodensatz war es natürlich nie weg. Auch der Antisemitismus ist 1945 nicht einfach verschwunden. Wie auch? Er hat nur länger als in anderen europäischen Ländern den Mund gehalten. Dass das jetzt alles wieder hochkommt, überrascht mich nicht. In meinem zweiten Roman „Horns Ende“ aus dem Jahr 1985 ging es auch schon um diese Kontinuität. Dass ich da keinen Bruch gesehen habe, hat mir damals viel Ärger eingebracht. Aber wie sollte es anders sein? Es war ja die gleiche Bevölkerung. Die Vorstellung, dass die alle auf einmal zu Liebhabern von Juden mutieren, ist doch absurd.
Ist das vor allem ein ostdeutsches Phänomen?
Die Kontinuität gab es auf beiden Seiten: Einige der reichsten Familien der Bundesrepublik haben ihr großes Geld bis 1945 gemacht. Die Familie Quandt hatte für ihre Batterienfabrik ein betriebseigenes KZ, geführt von der SS, bezahlt von der Familie. Rein kapitalistisch gesehen ist das ja auch ein Erfolgsmodell. Die Bundesrepublik hat das sechzig Jahre lang verschwiegen, die USA haben die Quandts nach ’45 als Mitläufer eingestuft, also so gut wie unschuldig, denn sie brauchten die Technik. Heute ist die Familie in der Bundesrepublik anerkannt, von der Bevölkerung wird sie bewundert, kein Problem.
Was ist dran an der beliebten These, dass die Sehnsucht nach einem autoritären Staat im Osten auch deshalb stärker ist, weil es dort nie ein ’68 gab?
Wir hatten 1968 den Prager Frühling, das hat das West-68 vollkommen überlagert. Die Bürger im Osten waren zwar genauso gut informiert wie die Leute im Schwarzwald, beide sahen die Unruhen nur im Fernsehen. Im Osten aber diskutierten damals alle die Frage, ob sich unsere Armee an der Niederschlagung des Aufstands in Prag beteiligte. Viele hatten die Truppenbewegungen Richtung Süden mit eigenen Augen gesehen. Aber der damalige sowjetische Staatschef Leonid Breschnew hat die Deutschen im letzten Moment gestoppt, sie mussten im Thüringer Wald halten. Man wollte keine deutschen Soldaten in Prag. Da hatte Breschnew mehr politisches Gespür als Walter Ulbricht, der unbedingt dabei sein wollte.
Ich fand interessant, dass einer Ihrer Protagonisten 1963 nach West-Berlin flüchtet, obwohl die DDR Homosexualität da schon legalisiert hatte, während sie im Westen noch illegal war. Er floh also in ein Land, das ihm gegenüber eigentlich intoleranter war.
Das Buch ist auch ein Porträt meines Lehrers, des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer: Der ist einerseits aus politischen Gründen in den Westen gegangen, seine Theorien waren eine Lehrmeinung zu viel. Ein anderer Punkt war aber auch, dass er sich als Homosexueller in Leipzig nicht outen wollte. Er ging rüber, weil drüben die Homosexualität zumindest in den Universitätsstädten akzeptiert wurde, wie in Ostdeutschland nur an den Theatern. Das war ganz merkwürdig: Der Staat war im Osten weiter als im Westen, aber die Bevölkerung war kleinbürgerlich geblieben.
Zeigt das nicht auch, dass der gesellschaftliche Wandel in den beiden Ländern aus unterschiedlichen Richtungen kam? Im Westen eher von unten und aus den Städten, im Osten von oben?
Bis es sich dann dreht: Die Revolution von 1989, zwanzig Jahre später, kam von unten. In der Presse heißt es immer, die Biermann-Ausweisung sei der Anfang vom Ende gewesen. Der eigentliche Punkt aber war, dass sich damals zwölf Autoren meldeten und Widerspruch einlegten. Das brachte die Sache ins Rutschen. Das führte dazu, dass sich immer mehr Menschen meldeten und sagten: „Die haben recht.“ Dadurch setzte der Korrosionsprozess ein: Immer mehr Künstler gingen, immer mehr Westreisen wurden genehmigt. Ende der Achtzigerjahre hatte ich das Gefühl, dass
jeder zweite DDR-Bürger schon einmal einen Verwandtenbesuch gemacht hatte. In den Fünfzigern wären diese zwölf Autoren sofort nach Sibirien gewandert. Der Staat versucht diese Korrosion durch Zugeständnisse aufzuhalten, bis hin zu dem 9. November 1989, an dem sie dann versuchen, Reiseerleichterungen zu versprechen, die das Volk absichtlich missversteht und in derselben Nacht noch die Mauer einreißt. Dieser Korrosionsprozess kam von unten und zog sich etwa über zwanzig Jahre.
Wieso hat das so lange gedauert?
Das lag unter anderem an dem Druck, der in den Vierziger- und Fünfzigerjahren herrschte, wo Leute wirklich einfach verschwanden und nach zwanzig Jahren aus Sibirien zurückkamen. Die Sowjetunion griff sehr heftig zu. Was vielleicht verständlich ist: Die Russen kamen in ein Land, das ihr eigenes Land total verwüstet hat, dreimal so viele Russen umgebracht hat, wie es Juden umgebracht hat. Sie kommen in das Land, in dem noch Werwölfe aktiv sind und wittern natürlich in jedem Deutschen noch einen verkappten Nazi. Das war für die Amerikaner eine ganz andere Situation. Sie kamen aus einem vollkommen unzerstörten Land und konnten dann locker Kaugummi verteilen. Die Deutschen hatten nicht ihr Land zerbombt und 20 Millionen ihrer Leute umgebracht.
Wobei Timothy Snyder gezeigt hat, dass die weit überwiegende Zahl der gefallenen Sowjetsoldaten Ukrainer waren, was aber von Moskau nicht zugegeben oder betrauert werden konnte, weil in der moralischen Kompensationslogik die Russen den höchsten Preis bezahlt haben mussten, um auch besondere Rechte genießen zu können.
Natürlich hat Moskau mit den zur Sowjetunion gehörenden Nationen eine fürchterliche Bevölkerungspolitik betrieben. Die Ausrottungsmentalität war sehr stark. Meine verstorbene Frau sprach sehr gut Russisch, in Moskau aber eröffnete sie jedes Gespräch erst einmal auf Englisch oder Deutsch. Wenn sie mit Russisch anfing, nahm man automatisch an, sie komme aus einer Sowjetrepublik und behandelte sie sofort ganz übel. Das erklärt vielleicht auch die heftigen Reaktionen jetzt in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Ein Land nach dem anderen versucht, sich von Moskau abzukoppeln. Auch die baltischen Republiken haben ihre Erfahrungen damit gemacht, das Sprachenverbot etc. Sie wollten halt die ganze Welt befreien, die Russen.
Aber haben Sie nicht auch den Eindruck, dass Putins kultureller Einfluss bis heute ziemlich genau bis zur Elbe reicht? Woran liegt das? Ist das Nostalgie?
Die Erklärung ist mir nicht stabil genug. Bis ’89 gab es in Ostdeutschland eine heftige Abneigung gegen die Russen, gegenüber der russischen Sprache. Die Abneigung gegen die Besatzungsmacht war sehr heftig, ganz im Gegensatz zu Westdeutschland, wo die Amerikaner Nylonstrümpfe und Popmusik mitbrachten. Wenn die Ostdeutschen sich irgendwohin sehnten, dann nach London oder Paris, die Sowjetunion interessierte sie gar nicht. Am Ende hat man die Russen bemitleidet, aber es war nie so, dass sie Freunde geworden sind. Ich glaube aber, dass die Ostdeutschen vielleicht einen zentralen Punkt besser verstehen: dass da eine Weltmacht zerstört wurde und dann in der Folge sich nicht mehr an die Absprachen gehalten wurde. Nach ein paar Jahren war die ehemalige Weltmacht von der Nato umstellt, obwohl die Bedingung lautete, dass das nicht passiert. Und das sehen die Ostdeutschen vielleicht besser, weil sie mal zu dem Imperium gehörten.
Trotzdem ist doch der Eindruck, dass die Ostdeutschen bestimmte Begriffe wie Heimat, Männlichkeit, Stolz, Ordnung, Gemeinschaft eher mit den Menschen in Kiew, Warschau oder Moskau teilen als beispielsweise mit Münchnern.
Wir haben hier dieselben Zerfallserscheinungen erlebt, das Gefühl, dass plötzlich überhaupt nichts mehr gilt. Ich glaube, dass es zu einer Enthemmung kommt, wenn sich jemand zurückgesetzt fühlt.
Im Jahr 2000 ist Ihr Roman „Willenbrock“ erschienen. Darin geht es um einen ostdeutschen Gebrauchtwarenhändler kurz nach der Wende, der nach einem Überfall überall Gefahr wittert, sich radikalisiert und zur Waffe greift. Die Zeit schrieb damals: „Wie wörtlich sollen wir das nehmen? Sollen wir es als Warnung lesen?“ Die Frage stelle ich gern noch mal: Hätten wir das als Warnung lesen sollen?
Ich wurde mal als „Chronist ohne Botschaft“ bezeichnet, und das trifft es ganz gut. Aber warnen wollte ich nie. Ich versuche nur, genau zu schreiben. Und der Autohändler war für mich 89/90 die Figur der Stunde: Von einem Tag auf den anderen gab es plötzlich in jedem Dorf einen Gebrauchtwagenhandel. Nichts wurde schneller ausgetauscht als die Autos. Innerhalb von einem halben Jahr waren sämtliche Trabis weg und stattdessen stand da der gebrauchte Mercedes. Und das Gefühl der Bedrohung war auch real: Die Grenzen waren offen, ich selbst wurde nachts überfallen und halb tot geschlagen. Die Ärmsten der Armen kamen da auf einmal rüber, auch für sie war zum ersten Mal eine Grenze offen. Die Russen hatten ja das totale Reiseverbot, die kamen nicht mal bis nach Polen. Und sie fanden einen enormen Reichtum vor. Ostdeutschland war für sie großer Reichtum und davon wollten sie was mitnehmen. Heute kommt die Fluchtbewegung aus dem Süden und das wird sich auch nicht ändern, solange die Welt in zwei Welten geteilt ist.
Haben Sie, wenn Sie heute Nachrichten schauen und die westdeutschen Journalisten verblüfft auf die Entwicklungen im Osten schauen und sich nicht erklären können, was da vor sich geht, haben Sie da manchmal das Gefühl, das längst lang und breit erklärt zu haben?
Ja. Beispiel Russland: Zwei Jahre nach der Wende hat die SPD eine große Konferenz mit den größten Historikern der Bundesrepublik veranstaltet. Ich erkühnte mich damals, das Wort zu ergreifen, und sprach davon, dass wir mit Russland aufpassen müssen. Einer der Gründe für den Zweiten Weltkrieg war das Gefühl der Demütigung, das die Deutschen durch den Versailler Vertrag erfahren haben. Diesen Fehler sollte wir nicht auch begehen. Da wurde ich unglaublich zusammengefaltet. Später benutzte Barack Obama die dämliche Formulierung von der „Regionalmacht“. Das führt eben dazu, dass 90 Prozent der Russen Putin heute verehren wie einst Väterchen Stalin, weil er etwas von dem zurückbringt, was sie gestern noch waren.
Sie sagen, Putin gibt den Russen etwas zurück, was sie waren, nicht, was sie hatten. Wird die Rolle der Identität unterschätzt?
Ich glaube, dass das für die Russen eine riesige Rolle spielt, viel mehr als für die Deutschen oder die Amerikaner. Wenn ich hier wissen will, ob es mir gut geht, schaue ich auf mein Konto. Da sehe ich: Diesen Monat geht es mir gut, nächsten wird es mir vielleicht nicht so gut gehen. Aber ich schaue doch nicht auf Deutschland. Die Russen haben das Bild des „heiligen großen Russlands“, des Väterchens Russland, des „mit Blut getränkten russischen Bodens“. Deshalb haben sie natürlich auch überhaupt kein Problem damit, die Krim zu annektieren. Das ist heiliger russischer Boden, ganz gleich, ob Nikita Chruschtschow das irgendwann irgendwem geschenkt hat. Die Krimtataren, die Kiewer Rus, das ist der Ursprung Russlands, das liegt alles dort. Deshalb verstehen sie auch gar nicht, was die Welt ihnen jetzt vorwirft.
Das mythisch-nationale Denken, der heilige Boden: All das hat man im Westen sehr lange Zeit für abgeschafft gehalten, abgelöst vom fröhlichen Materialismus des popkulturellen Zeitalters. Jetzt kommt es aus dem Osten relativ stark zurück.
Ich selbst fand es ziemlich langweilig, als die Russen nach 1989 all das aus ihrer Literatur wegstrichen und versuchten, den Amerikanern hinterherzulaufen. Da gab es plötzlich eine Popliteratur, die noch besser sein sollte, die fand ich aber ganz langweilig. Auch in der Sowjetzeit waren Tradition und Überlieferung immer sehr viel wichtiger als in Deutschland oder Westeuropa. Der ganze Dostojewski: Raskolnikow repräsentiert den Verstoß gegen Werte. Das Familienleben muss stimmen, wenn man seine Mutter beleidigt, ist das eine Sünde über den Tod hinaus. Das gab es im Westen nicht. Deshalb empfinden die Russen die Zerstörung der Weltmacht so heftig und sie nehmen vieles persönlich in Kauf, wenn der neue Stalin das Reich wieder groß macht. Natürlich wissen sie um die Verbrechen Stalins, aber er hat aus einem zurückgebliebenen Agrarland eine Weltmacht gemacht, dafür sehen sie gern über vieles hinweg.
Der große Roman über Russland von Christoph Hein, wird der also noch kommen?
Ich hoffe, die Russen schaffen das selbst. Ich habe die Russen und die Polen immer gern gelesen und hoffe, dass da bald wieder viel kommt.
In der DDR war das
Professor-Schüler-Verhältnis
1:5. Heute liegt es bei
1:400 oder gar 1:800
Der Staat war im
Osten weiter, die
Bevölkerung aber war
kleinbürgerlich geblieben
90 Prozent der Russen
verehren Putin, weil er etwas
von dem zurückbringt, was
sie gestern noch waren
Der Schriftsteller, Lyriker und Theaterautor Christoph Hein (hier in Havelberg) wurde 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren, besuchte bis zum Mauerbau ein Gymnasium in West-Berlin, studierte in Leipzig bei Hans Mayer und stieg früh zu einem der prägenden Autoren der DDR auf. Mit seiner Novelle „Der fremde Freund“ gelang ihm 1983 der Durchbruch auch in der Bundesrepublik. Auf dem Schriftstellerkongress der DDR forderte er 1988 die Aufhebung der Zensur, ein Jahr später wurde seine Politbüro-Satire „Die Ritter der Tafelrunde“ in Dresden uraufgeführt. Wie Heiner Müller und Christa Wolf sprach er bei der Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989. Auch seine jüngeren Romane wie „Landnahme“ und „Willenbrock“ wurden von der Kritik gefeiert.
Foto: Regina Schmeken
Christoph Hein:
Verwirrnis. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
303 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2018

Vergiss die Peitsche nicht

Heimlichkeit über Heimlichkeit: Mit der Geschichte eines Homosexuellen wirft Christoph Hein ein erhellendes Licht auf die Lebensumstände in der DDR.

Als sich das Vierergespann am Silvesterabend 1957 endlich in Leipzig wiedersieht, muss sich Wolfgang den Spott der Ehefrau seines Geliebten gefallen lassen: Zwei Jahre zuvor war der junge Mann zum Kirchenmusikstudium nach West-Berlin gegangen - als Karriereentscheidung verständlich, als Lebensentscheidung schmerzlich, stellte es die Liebe von Wolfgang und Friedeward, ohnedies unter erschwerten Bedingungen, doch vor zusätzliche Probleme. Mit dem Jahreswechsel nun dürfen homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen in der DDR nicht mehr geahndet werden - anders als in der Bundesrepublik, wo Homosexualität erst zwölf Jahre später teilweise legalisiert werden wird. Auch wenn er jetzt im freien Westen lebt: Ein freier Mann könne Wolfgang nur in Leipzig sein.

Die Pointe ist eine der schönsten im neuen, an Erstaunlichem und Bestürzendem so überreichen Roman "Verwirrnis" von Christoph Hein, der eine Geschichte der Entwicklungen und Stimmungen in der DDR aus ungewohnter Perspektive erzählt: anhand der Lebensgeschichte des Friedeward Ringeling, geboren am 1. September 1933, gestorben am 18. Juni 1993 durch eigene Hand, ein Original, ein "edler Mensch", wie er von Christoph Hein gleich auf den ersten Seiten vorgestellt wird, ein gepeinigter Mensch zudem, erst durch den eigenen Vater, dann durch die Zeitläufte und den Versuch, sein Leben mit Anstand zu führen.

Es war Friedewards Heirat mit Jacqueline im Frühjahr 1960, die das schwule und das lesbische Paar, die einander an der Leipziger Universität getroffen und erkannt hatten, schließlich dem Argwohn der Familie und des Kollegenkreises entzogen haben: Friedewards Vater hatte seinen Sohn einst mit dem kaum älteren, gerade strafmündigen Freund erwischt und sich von Wolfgangs Vater nur mit Not von einer Anzeige abbringen lassen - unter der Bedingung, dass Wolfgang kurz vor dem Abitur die Stadt verlässt. Herlinde indes, Jacquelines Freundin, Professorin, ist im Mai 1955 von der Parteisekretärin der Fakultät ihres Verhältnisses beschuldigt worden, verbunden mit der Drohung, die Fakultätsleitung zu informieren, falls sie die Beziehung nicht unverzüglich beende.

Die Angst, ihre Liebe könnte öffentlich werden, treibt die Professorin noch in der Schlussszene des Buches um. Friedeward treibt sie sogar in den Tod - in einen einsamen Tod, den er nach der Entdeckung durch seinen Vater Jahrzehnte zuvor noch ausgeschlossen, als gemeinsamen Schritt mit seinem Wolfgang damals jedoch erträumt hatte. Als Friedeward wenige Monate vor seinem sechzigsten Geburtstag im Juni 1993 erfährt, dass er von der Stasi als IM geführt wurde und seinen guten Ruf nur behalten kann, falls er die Umstände einer lange zurückliegenden Erpressung offenlegt, nimmt er sich das Leben: Im Frühjahr 1982 hatte er zu einem Vortrag zu Ehren seines Doktorvaters, der sich in den Westen abgesetzt hatte, nur unter der Bedingung nach Wien reisen können, dass er von dort einen Bericht abliefert. Der Deal war mit dem giftigen Angebot gewürzt, Friedewards, "nun sagen wir, Besonderheit weiterhin in einen Mantel des Schweigens gehüllt zu lassen". Das abgeschriebene Tagungsprogramm genügte der Kontaktperson - und der Vorgang nach der Wiedervereinigung für die Feststellung der Tätigkeit als IM.

Man könnte fürchten, eine zusätzliche Folie der Heimlichkeit, Verletzlichkeit, Erpressbarkeit, wie sie das Leben Homosexueller in beiden Teilen Deutschlands so lange mitbestimmt hat, würde der Darstellung eines von Repression und Distanz bis Dissidenz geprägten Lebens in der DDR Schärfe nehmen. Tatsächlich aber gelingt Christoph Hein mit dieser Perspektive eine Art Stereo-Effekt: Manche Umstände, Ängste, Zwänge zeigen sich in "Verwirrnis" in selten gelesener Dringlichkeit. Dabei interessiert sich der Autor für die familiären Zwänge nicht etwa nur, wenn sie die gesellschaftlichen oder politischen Umstände zusätzlich erhellen. Im Gegenteil: Er verankert beispielsweise die Motivation von Friedewards Vater mit einer Sorgfalt im Biographischen, dass der Leser schon überrascht ist, nach den beiden ersten, der Hauptfigur gewidmeten Seiten über sieben Seiten so gründlich in die Lebensgeschichte des Pius Ringeling eingeführt zu werden: Sogar das Département der Kleinstadt findet Erwähnung, in deren Nähe Pius im Frühjahr 1918 eine Senfgasvergiftung durch die eigene Truppe erlitten hatte, die ihn für den Zweiten Weltkrieg kampfunfähig machte.

Die Szene allerdings, mit der Christoph Hein danach den Fokus wieder weitet und den jungen Friedeward vorstellt, ist ein wohlgesetzter Tiefschlag: Pius, zutiefst überzeugt, dass körperliche Züchtigung ein unverzichtbares pädagogisches Mittel sei, pflegte seine Söhne mit dem Siebenstriemer, einer ledernen Riemenpeitsche, zu strafen, um sie schließlich zu fragen, wen diese Strafe am meisten geschmerzt habe. Die erwartete, erzwungene Antwort: "Dich, lieber Vater, dich."

Es ist dieselbe Antwort, die Friedeward am Tag der Scheinhochzeit seinem so überaus erleichterten Vater auf dessen eigentlich rhetorische Frage gibt, der glaubt, sein Glück über diese Entwicklung mit seinem Sohn zu teilen: "Wer will schon als Sünder durch die Welt gehen, verachtet von den anderen? Und wen könnte man mehr verabscheuen als jemanden, der in Sünde lebt?"

Fünf Jahre zuvor war Friedeward mit seiner frisch Verlobten für ein paar Tage daheim in Heiligenstadt gewesen, und Jacqueline hatte es sich nicht nehmen lassen, den künftigen Schwiegervater auf den Siebenstriemer anzusprechen. Nicht nur der Rest der Familie am Tisch, auch der Leser erwartet eine Entgleisung. Stattdessen wahrt Pius selbst dann noch Fassung, als Jacqueline die Züchtigung "unmenschlich" nennt. Die Familiengeschichte der Peitsche, mit der schließlich schon sein Großvater erzogen wurde, gefolgt von der Erklärung, was er selbst dem Siebenstriemer verdanke, gehört zu den schmerzlichsten Passagen des Buches. Nur wenn es sich nicht habe vermeiden lassen, habe er vor seinen Kindern nach ihr gegriffen, "um ihnen die Verirrungen der Jugend auszutreiben". Es war wohlgetan, könne er heute sagen, schließt Pius, er habe seine Pflicht erfüllt, seine Aufgabe gemeistert. Friedeward bleibt die erwartete Zustimmung schuldig.

Von den Verdächtigungen, denen die jungen Männer auf dem Zeltplatz an der Ostsee ausgesetzt sind, bis zum Druck, unter dem die universitären Institute erst in der Zeit sozialistischer Erwartungen, dann in der struktureller Angleichung an den Westen standen, legt Christoph Hein Zeugnis ab über das Leben einer fiktiven, dabei so plastisch auserzählten Figur, dass sich der Leser dabei ertappt, in der wirklichen Geschichte auf Spurensuche nach Friedward Ringeling zu gehen. Dass der Ton der Erzählung vom gewohnt Spröden des DDR-Realismus zwei, drei Mal ins Hölzerne fast von Arbeitszeugnissen abgleitet (etwa wenn es heißt, Friedeward habe seine Sicht "stets durchdacht und präzise zu begründen" vermocht), tut der Eindringlichkeit des Romans keinen Abbruch.

FRIDTJOF KÜCHEMANN

Christoph Hein: "Verwirrnis". Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 303 S., geb., 22,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Carsten Otte empfiehlt Christoph Heins neuen Roman allen Verfechtern einer "natürlichen Familienordnung". Er selbst liest das Buch einerseits als rührendes, sehr persönliches Porträt von Heins Lehrer, dem homosexuellen Literaturwissenschaftler Hans Mayer, andererseits als historisch-politische, eher nüchterne Chronik ostdeutscher Verhältnisse am Beispiel der Figur des Friedeward Ringeling und seiner Kindheit in Heiligenstadt in den 1950er Jahren. Wie Hein von Züchtigungen erzählt, vom Widerstand gegen Partei und Stasi, und wie er dabei subtil Fakten und Fiktion mischt und auch noch Fragen an unsere Gegenwart provoziert, gefällt Otte ausnehmend gut.

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