Als Supplement zu den "Gesammelten Briefen" liegt nun die Bibliographie der Primärliteratur vor, die Ingrid Grüninger, seit Jahren an der Kommentierung der "Gesammelten Briefe" durch Recherchen mitbeteiligt, erstellt hat. Ihre analytische Verzeichnung der Erst- und Wiederabdrucke aller Werke Borchardts gliedert sich nach Gattungen und erlaubt durch die Genauigkeit jeder Beschreibung und umfangreiche Register den Nachvollzug der Werkgeschichte und der Verbreitung des Oeuvres zu Lebzeiten des Autors und bis zum Jahr seines hundertsten Geburtstags. Als Ergebnis ausgedehnter Forschungen ist der Band sowohl für den Sammler wie für den Interpreten und Leser des Borchardtschen Werks ein unentbehrliches Arbeitsinstrument.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2002Leben im Entwurf
Mehr Tragödie, weniger Harmonie: Die Briefe Rudolf Borchardts
Je mehr er von den geschichtlichen Katastrophen eingeholt wurde, um so stärker hat der späte Rudolf Borchardt seine Schreibenergien aus dem Antrieb bezogen, "für die überwundene Sache zeugen zu wollen". So steht es im letzten Satz seines letzten zu Lebzeiten erschienenen Buches, "Pisa. Ein Versuch" (1938), und neben diesen Satz hat Borchardt die Marginalie "Causa Victa" gesetzt. Er plante in seinen letzten Lebensjahren ein Buch über Kleopatra, das, wie er 1942 in einem Brief schrieb, "in mancher Hinsicht" ein Pendant zu "Pisa" hätte werden sollen: "auch eine Causa Victa". Denn sein Kleopatra-Buch wäre ja zugleich ein Buch über Cäsar geworden, und die Laufbahn Cäsars ist Borchardt, wie es 1943 im Entwurf eines Briefes an Bernard Berenson heißt, als "die vielleicht größte und trostloseste aller causae victae in der Weltgeschichte" erschienen. Als er, der "Patriot und Monarchist", 1942 eine Sammlung seiner politischen Schriften plante, da stand ihm deren Titel klar vor Augen: "Causa Victa, conservative Papiere 1908-1932". Wollte man den Band, der die Briefe aus Borchardts letztem Lebensjahrzehnt versammelt, unter ein Motto stellen, so könnte es schwerlich anders als "Causa Victa" lauten.
Daß die eigene Sache nach dem Sieg der Nationalsozialisten, zu dem Borchardt als wütender Verächter der Weimarer Republik durchaus das Seine beigetragen hatte, eine verlorene war, zeigen bereits die Proportionen des Bandes: Mehr als die Hälfte der 187 Briefe trägt den Vermerk "Entwurf" oder "Nicht abgesandt". Zu ihnen zählen viele der wichtigsten Stücke: Briefe an Edgar Dacqué, Johan Huizinga, Eckart Peterich, Ludwig Curtius, Bernard Berenson - Geistergespräche in einem resonanzlosen Raum. Immer wieder setzt Borchardt in seinem italienischen Exil dazu an, seinen in Deutschland gebliebenen Freunden, insbesondere Karl Foerster und Hugo Schaefer, von seinen Entdeckungen zur Geschichte des Gartens oder zur Datierung der Epen Homers und von seinen schriftstellerischen Plänen zu berichten, um dann aber, oft nach Dutzenden von Seiten, seine zu großen wissenschaftlichen Abhandlungen ausgewachsenen Briefe wieder abzubrechen. Borchardts späte Briefe sind Poesie einer großen Einsamkeit. Oft scheint es, er habe sie, abgeschnitten von seinen Gesprächspartnern, an sich selbst gerichtet. Der Satz "ich bin mir selber vollkommen berühmt genug", den ihm sein herrlicher Hochmut 1943 in einem ebenfalls nicht abgesandten Brief in die Feder diktiert hat, erweist sich in diesem Licht als eine bittere Pointe auf die Situation des Exils.
Denn Borchardt, den der nationalsozialistische Rassenwahn nach 1933 fast aller Publikationsmöglichkeiten beraubt hatte, hat sich gegen die Widerstände der Zeit auch fernerhin mit aller Kraft darum bemüht, sein Publikum zu erreichen. Bis zu seiner letzten Stunde plante er unablässig die Veröffentlichung neuer Bücher, Neuausgaben seiner Werke, vielbändige Gesamtausgaben, dies in ständigem Hader mit sämtlichen Verlegern: "Der Verleger ist der natürliche Feind des Autors, den er sich ziehen will wie ein essbares Haustier, um von ihm zu leben." Als ihn die Verhältnisse dazu zwangen, seinen wenig glanzvollen Roman "Vereinigung durch den Feind hindurch" 1937 im Bermann-Fischer Verlag in Wien herauszubringen - in "einem Verlage der das Unglück unserer Literatur gewesen ist und den ich mein ganzes Leben lang als Unglückstifter bezeichnet und bekämpft habe" -, da brachte er, der jeden griechischen Vers druckreif aus dem Kopf zitieren konnte, es fertig, seinem neuen Verleger Gottfried Bermann-Fischer dadurch seine Verachtung zu bezeugen, daß er dessen Namen in Anschrift und Anrede auf jeweils unterschiedliche Weise falsch schrieb. Daß gerade im Fall Bermann-Fischers Borchardts Hochmut in böse Verblendung umgeschlagen war, kann man einem im Januar 1937 konzipierten Brief an Peter Voigt entnehmen: "Es sind Literaturjuden, die mit Poesie nichts anfangen können und die mit den Augen mauscheln wenn Herr von Musil ihnen sagt wer heut in Deutschland das schönste Deutsch schreibt."
Mit dem Weltgeist per du
Borchardt, der seine Detailanalysen der politischen Weltlage gern auf du und du mit dem Weltgeist, mindestens aber mit einem Gestus der Unumstößlichkeit diktierte, als säße er in Downing Street, während er doch in Wahrheit auf die schütteren Informationen einer "hier an einen Bekannten verheirateten Cousine Winston Churchills, die soeben in Paris mit Edens rechter Hand, dem jungen Granville, zusammen war", vertrauen mußte, Borchardt liefert auch in diesen späten Briefen manchen Beweis politischer Blindheit, und seine bis ins Jahr 1939 hinein dokumentierte Verehrung für Mussolini ist sicher nicht der geringste unter ihnen. Auf der anderen Seite war seine Verachtung für das NS-Regime grenzenlos: "Es sind gewiss nicht die ersten Lumpenhunde die einmal für eine gewisse Zeit ein anständiges Volk wehrlos gemacht haben, aber es sind die lächerlichsten und beinah die einzigen ganz lächerlichen, die die Geschichte kennt, und diese Mischung des höchst bösartigen und total absurden in ihnen ist kein blosser logischer Schönheitsfehler, sondern das klinische Bild, das den Ablauf in sich enthält. Sie werden das entsetzlichste Unheil angerichtet haben, durch ihre Schändlichkeit, und sie werden es zur relativ kurzen Episode machen, durch ihre Albernheit." So im Februar 1937.
Dennoch hat der Sechzigjährige 1938 allen Ernstes damit gerechnet, daß auch ihm bald die "Stellungsbefehl-artigen Stimmen der Heimat" entgegenschlagen würden, und noch im Frühjahr 1943 hat er mit dem Gedanken gespielt, das "letzte Aufgebot in der kämpfenden Heimat" werde ihn, "den alten Kriegsfreiwilligen ins Vaterland zurückzwingen". Träumereien eines Geschichtsphantasmagorikers an lucchesischen Kaminen, für den Volk, Nation, Vaterland oberste Leitbegriffe blieben, als sei der Inhalt dieser Begriffe von der nationalsozialistischen Barbarei nicht berührt worden. Als er allerdings selbst 1943 noch vom Siege träumt, ist dieser von der Niederlage ununterscheidbar geworden: "Ich habe nie an unserm Siege gezweifelt, aber ihn mir auch nie wie die Nike geträumt. Er kommt, wie ich immer wusste, als die Gorgone. Wer schon so hart geworden ist, wie wir, muss nicht fürchten zu Stein zu werden."
Explosion am Schreibtisch
Wirklich gelebt hat Rudolf Borchardt in seinem letzten Lebensjahrzehnt ohnehin weniger in seiner eigenen Zeit als in seinen großen geschichtlichen Entwürfen: in Pisa als der imaginären Reichshauptstadt eines mittelalterlichen Kaiserreichs, im Ägypten Kleopatras, in der Geschichte des Gartens, in der er jene "Ordnung des Menschengeistes" wiederzufinden trachtete, die er in seiner eigenen Epoche verlorengegangen wähnte, und vor allem in den historischen Entstehungszusammenhängen der homerischen Epen. Wann immer er in seinen Briefen auf diese Themen zu sprechen kommt, blüht deren Prosa gewaltig auf, und der Leser wähnt sich in das Ideenlaboratorium eines philologischen Zauberers versetzt, in dessen Phiolen es gefährlich brodelt und zischt. Mochte die Welt um ihn herum auch in Stücke fliegen, die wahren Explosionen ereigneten sich doch in Borchardts Arbeitszimmer. Im Oktober 1937 schildert er Karl Foerster die Entstehung seines Buchs "Der leidenschaftliche Gärtner": Seit 1911 habe er sich mit dem Gartenthema durchdrungen. "Seitdem, sechsundzwanzig Jahre, habe ich mich mit mir selbst geladen. Sie können sich denken, was losgeht, wenn so etwas schliesslich explodiert."
An die damals von sehr viel realeren Detonationen betäubten Ohren der Welt ist freilich von diesen gewaltigen Eruptionen auf Borchardts Schreibtisch in Lucca nichts gedrungen, was den in großen geschichtlichen Zeiträumen kalkulierenden Borchardt aber nicht wirklich irritiert hat. "Dass die Welt unter dem Horror ganz anderer Explosionen von dieser lautlos in meinem Arbeitszimmer katastrophierten nichts begreifen könnte und auch nichts erfahren soll, und dass sie noch auf eine Weile mein ernstes stilles Eigentum ist, hätte eigentlich von einem Dichter erfunden werden müssen." Es war von einem Dichter erfunden worden - von einem Dichter, der zwar auf den Tag wirken wollte, längst aber aufgehört hatte, seine Wirkungen auf den Tag zu berechnen. Von einem Dichter zudem, der nie aufgehört hatte, die Poesie für die höchste Form der Geschichtsschreibung einer Nation zu halten, und der deshalb auch als Geschichtsschreiber nicht aufhörte, ein Poet zu sein.
Es ist staunenswert, mit welcher Kraft zum Widerstand gegen seine Zeit Borchardt in der Isolation seines Exils sich jeden Gedanken an Resignation versagt hat: "Ich bin entschlossen, zu überdauern, zu überleben, nachher noch dazusein." "Ich werde mich nicht wegwischen lassen, solange ich mich unter Wind und Wetter flach am Boden halten kann." Staunenswert ist dies insbesondere, wenn man sich vor Augen führt, wie wenig Borchardt, der vor allem während der Weimarer Republik einen breiten Strom von Publikationen hervorgebracht hatte, in den zwölf Jahren nach 1933 noch hat veröffentlichen können; man kann sich davon anhand des langerwarteten "Verzeichnisses seiner Schriften", das Ingrid Grüninger in Verbindung mit Reinhard Tgahrt mit höchster Kennerschaft bearbeitet hat, leicht überzeugen.
Aber es gehört zu den Paradoxien von Rudolf Borchardts Existenz, daß seine Kraft zum Widerstand wohl nicht zuletzt aus dieser Resonanzlosigkeit seines Werks in den "zerfressenen deutschen Verhältnissen" erwuchs, an deren Haltbarkeit er nicht glaubte. Denn er war tief von der Überzeugung durchdrungen, daß dieses Werk - "dies einzige noch nicht edierte und teilweise nicht publizierte grössere Gesamtwerk der Restaurations-Generation" (1943) - nach dem Ende von Krieg und Hitlerreich dringend gebraucht werde, und für diesen Augenblick suchte er sich und sein Werk, in rastloser Tätigkeit bis zum plötzlichen Tod am 10. Januar 1945 in Trins am Brenner, bereitzuhalten.
"Es geht nur absurd oder garnicht", so schrieb er, der sich 1940 in an Bernard Berenson gerichteten Zeilen "an outsider and a poet" nannte, in einem seiner letzten Briefe, und so mußte es denn eben absurd gehen. Er hat es als seinen Triumph empfunden, daß er auf der Seite der überwundenen Sache stand, dies auch im Sinne der Maxime seiner Geschichtsschreibung: "We want more tragedy and less harmony." Das anrührendste Stück der Sammlung aber ist der letzte Brief des Bandes; verfaßt hat ihn Marie Luise Borchardt am 15. Januar 1945, die sich dadurch, daß sie vom Tod ihres Mannes erzählte, das Faktum dieses Todes jenseits aller großen Worte selbst begreiflich zu machen suchte. Seine letzten Worte lauten: "er war einmalig, einzig -."
Rudolf Borchardt: "Briefe 1936-1945". Text. Bearbeitet von Gerhard Schuster in Verbindung mit Christoph Ziermann. Edition Tenschert bei Hanser München/Wien 2002. 725 S., geb., 68,- [Euro].
Rudolf Borchardt: "Verzeichnis seiner Schriften". Bearbeitet von Ingrid Grüninger in Verbindung mit Reinhard Tgahrt. Edition Tenschert bei Hanser, München/Wien 2002. 430 S., geb., 54,- [Euro].
Ebenfalls erschienen bei der Deutschen Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2002. 344 S., 53 Abb., br., 45,- [Euro].
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Mehr Tragödie, weniger Harmonie: Die Briefe Rudolf Borchardts
Je mehr er von den geschichtlichen Katastrophen eingeholt wurde, um so stärker hat der späte Rudolf Borchardt seine Schreibenergien aus dem Antrieb bezogen, "für die überwundene Sache zeugen zu wollen". So steht es im letzten Satz seines letzten zu Lebzeiten erschienenen Buches, "Pisa. Ein Versuch" (1938), und neben diesen Satz hat Borchardt die Marginalie "Causa Victa" gesetzt. Er plante in seinen letzten Lebensjahren ein Buch über Kleopatra, das, wie er 1942 in einem Brief schrieb, "in mancher Hinsicht" ein Pendant zu "Pisa" hätte werden sollen: "auch eine Causa Victa". Denn sein Kleopatra-Buch wäre ja zugleich ein Buch über Cäsar geworden, und die Laufbahn Cäsars ist Borchardt, wie es 1943 im Entwurf eines Briefes an Bernard Berenson heißt, als "die vielleicht größte und trostloseste aller causae victae in der Weltgeschichte" erschienen. Als er, der "Patriot und Monarchist", 1942 eine Sammlung seiner politischen Schriften plante, da stand ihm deren Titel klar vor Augen: "Causa Victa, conservative Papiere 1908-1932". Wollte man den Band, der die Briefe aus Borchardts letztem Lebensjahrzehnt versammelt, unter ein Motto stellen, so könnte es schwerlich anders als "Causa Victa" lauten.
Daß die eigene Sache nach dem Sieg der Nationalsozialisten, zu dem Borchardt als wütender Verächter der Weimarer Republik durchaus das Seine beigetragen hatte, eine verlorene war, zeigen bereits die Proportionen des Bandes: Mehr als die Hälfte der 187 Briefe trägt den Vermerk "Entwurf" oder "Nicht abgesandt". Zu ihnen zählen viele der wichtigsten Stücke: Briefe an Edgar Dacqué, Johan Huizinga, Eckart Peterich, Ludwig Curtius, Bernard Berenson - Geistergespräche in einem resonanzlosen Raum. Immer wieder setzt Borchardt in seinem italienischen Exil dazu an, seinen in Deutschland gebliebenen Freunden, insbesondere Karl Foerster und Hugo Schaefer, von seinen Entdeckungen zur Geschichte des Gartens oder zur Datierung der Epen Homers und von seinen schriftstellerischen Plänen zu berichten, um dann aber, oft nach Dutzenden von Seiten, seine zu großen wissenschaftlichen Abhandlungen ausgewachsenen Briefe wieder abzubrechen. Borchardts späte Briefe sind Poesie einer großen Einsamkeit. Oft scheint es, er habe sie, abgeschnitten von seinen Gesprächspartnern, an sich selbst gerichtet. Der Satz "ich bin mir selber vollkommen berühmt genug", den ihm sein herrlicher Hochmut 1943 in einem ebenfalls nicht abgesandten Brief in die Feder diktiert hat, erweist sich in diesem Licht als eine bittere Pointe auf die Situation des Exils.
Denn Borchardt, den der nationalsozialistische Rassenwahn nach 1933 fast aller Publikationsmöglichkeiten beraubt hatte, hat sich gegen die Widerstände der Zeit auch fernerhin mit aller Kraft darum bemüht, sein Publikum zu erreichen. Bis zu seiner letzten Stunde plante er unablässig die Veröffentlichung neuer Bücher, Neuausgaben seiner Werke, vielbändige Gesamtausgaben, dies in ständigem Hader mit sämtlichen Verlegern: "Der Verleger ist der natürliche Feind des Autors, den er sich ziehen will wie ein essbares Haustier, um von ihm zu leben." Als ihn die Verhältnisse dazu zwangen, seinen wenig glanzvollen Roman "Vereinigung durch den Feind hindurch" 1937 im Bermann-Fischer Verlag in Wien herauszubringen - in "einem Verlage der das Unglück unserer Literatur gewesen ist und den ich mein ganzes Leben lang als Unglückstifter bezeichnet und bekämpft habe" -, da brachte er, der jeden griechischen Vers druckreif aus dem Kopf zitieren konnte, es fertig, seinem neuen Verleger Gottfried Bermann-Fischer dadurch seine Verachtung zu bezeugen, daß er dessen Namen in Anschrift und Anrede auf jeweils unterschiedliche Weise falsch schrieb. Daß gerade im Fall Bermann-Fischers Borchardts Hochmut in böse Verblendung umgeschlagen war, kann man einem im Januar 1937 konzipierten Brief an Peter Voigt entnehmen: "Es sind Literaturjuden, die mit Poesie nichts anfangen können und die mit den Augen mauscheln wenn Herr von Musil ihnen sagt wer heut in Deutschland das schönste Deutsch schreibt."
Mit dem Weltgeist per du
Borchardt, der seine Detailanalysen der politischen Weltlage gern auf du und du mit dem Weltgeist, mindestens aber mit einem Gestus der Unumstößlichkeit diktierte, als säße er in Downing Street, während er doch in Wahrheit auf die schütteren Informationen einer "hier an einen Bekannten verheirateten Cousine Winston Churchills, die soeben in Paris mit Edens rechter Hand, dem jungen Granville, zusammen war", vertrauen mußte, Borchardt liefert auch in diesen späten Briefen manchen Beweis politischer Blindheit, und seine bis ins Jahr 1939 hinein dokumentierte Verehrung für Mussolini ist sicher nicht der geringste unter ihnen. Auf der anderen Seite war seine Verachtung für das NS-Regime grenzenlos: "Es sind gewiss nicht die ersten Lumpenhunde die einmal für eine gewisse Zeit ein anständiges Volk wehrlos gemacht haben, aber es sind die lächerlichsten und beinah die einzigen ganz lächerlichen, die die Geschichte kennt, und diese Mischung des höchst bösartigen und total absurden in ihnen ist kein blosser logischer Schönheitsfehler, sondern das klinische Bild, das den Ablauf in sich enthält. Sie werden das entsetzlichste Unheil angerichtet haben, durch ihre Schändlichkeit, und sie werden es zur relativ kurzen Episode machen, durch ihre Albernheit." So im Februar 1937.
Dennoch hat der Sechzigjährige 1938 allen Ernstes damit gerechnet, daß auch ihm bald die "Stellungsbefehl-artigen Stimmen der Heimat" entgegenschlagen würden, und noch im Frühjahr 1943 hat er mit dem Gedanken gespielt, das "letzte Aufgebot in der kämpfenden Heimat" werde ihn, "den alten Kriegsfreiwilligen ins Vaterland zurückzwingen". Träumereien eines Geschichtsphantasmagorikers an lucchesischen Kaminen, für den Volk, Nation, Vaterland oberste Leitbegriffe blieben, als sei der Inhalt dieser Begriffe von der nationalsozialistischen Barbarei nicht berührt worden. Als er allerdings selbst 1943 noch vom Siege träumt, ist dieser von der Niederlage ununterscheidbar geworden: "Ich habe nie an unserm Siege gezweifelt, aber ihn mir auch nie wie die Nike geträumt. Er kommt, wie ich immer wusste, als die Gorgone. Wer schon so hart geworden ist, wie wir, muss nicht fürchten zu Stein zu werden."
Explosion am Schreibtisch
Wirklich gelebt hat Rudolf Borchardt in seinem letzten Lebensjahrzehnt ohnehin weniger in seiner eigenen Zeit als in seinen großen geschichtlichen Entwürfen: in Pisa als der imaginären Reichshauptstadt eines mittelalterlichen Kaiserreichs, im Ägypten Kleopatras, in der Geschichte des Gartens, in der er jene "Ordnung des Menschengeistes" wiederzufinden trachtete, die er in seiner eigenen Epoche verlorengegangen wähnte, und vor allem in den historischen Entstehungszusammenhängen der homerischen Epen. Wann immer er in seinen Briefen auf diese Themen zu sprechen kommt, blüht deren Prosa gewaltig auf, und der Leser wähnt sich in das Ideenlaboratorium eines philologischen Zauberers versetzt, in dessen Phiolen es gefährlich brodelt und zischt. Mochte die Welt um ihn herum auch in Stücke fliegen, die wahren Explosionen ereigneten sich doch in Borchardts Arbeitszimmer. Im Oktober 1937 schildert er Karl Foerster die Entstehung seines Buchs "Der leidenschaftliche Gärtner": Seit 1911 habe er sich mit dem Gartenthema durchdrungen. "Seitdem, sechsundzwanzig Jahre, habe ich mich mit mir selbst geladen. Sie können sich denken, was losgeht, wenn so etwas schliesslich explodiert."
An die damals von sehr viel realeren Detonationen betäubten Ohren der Welt ist freilich von diesen gewaltigen Eruptionen auf Borchardts Schreibtisch in Lucca nichts gedrungen, was den in großen geschichtlichen Zeiträumen kalkulierenden Borchardt aber nicht wirklich irritiert hat. "Dass die Welt unter dem Horror ganz anderer Explosionen von dieser lautlos in meinem Arbeitszimmer katastrophierten nichts begreifen könnte und auch nichts erfahren soll, und dass sie noch auf eine Weile mein ernstes stilles Eigentum ist, hätte eigentlich von einem Dichter erfunden werden müssen." Es war von einem Dichter erfunden worden - von einem Dichter, der zwar auf den Tag wirken wollte, längst aber aufgehört hatte, seine Wirkungen auf den Tag zu berechnen. Von einem Dichter zudem, der nie aufgehört hatte, die Poesie für die höchste Form der Geschichtsschreibung einer Nation zu halten, und der deshalb auch als Geschichtsschreiber nicht aufhörte, ein Poet zu sein.
Es ist staunenswert, mit welcher Kraft zum Widerstand gegen seine Zeit Borchardt in der Isolation seines Exils sich jeden Gedanken an Resignation versagt hat: "Ich bin entschlossen, zu überdauern, zu überleben, nachher noch dazusein." "Ich werde mich nicht wegwischen lassen, solange ich mich unter Wind und Wetter flach am Boden halten kann." Staunenswert ist dies insbesondere, wenn man sich vor Augen führt, wie wenig Borchardt, der vor allem während der Weimarer Republik einen breiten Strom von Publikationen hervorgebracht hatte, in den zwölf Jahren nach 1933 noch hat veröffentlichen können; man kann sich davon anhand des langerwarteten "Verzeichnisses seiner Schriften", das Ingrid Grüninger in Verbindung mit Reinhard Tgahrt mit höchster Kennerschaft bearbeitet hat, leicht überzeugen.
Aber es gehört zu den Paradoxien von Rudolf Borchardts Existenz, daß seine Kraft zum Widerstand wohl nicht zuletzt aus dieser Resonanzlosigkeit seines Werks in den "zerfressenen deutschen Verhältnissen" erwuchs, an deren Haltbarkeit er nicht glaubte. Denn er war tief von der Überzeugung durchdrungen, daß dieses Werk - "dies einzige noch nicht edierte und teilweise nicht publizierte grössere Gesamtwerk der Restaurations-Generation" (1943) - nach dem Ende von Krieg und Hitlerreich dringend gebraucht werde, und für diesen Augenblick suchte er sich und sein Werk, in rastloser Tätigkeit bis zum plötzlichen Tod am 10. Januar 1945 in Trins am Brenner, bereitzuhalten.
"Es geht nur absurd oder garnicht", so schrieb er, der sich 1940 in an Bernard Berenson gerichteten Zeilen "an outsider and a poet" nannte, in einem seiner letzten Briefe, und so mußte es denn eben absurd gehen. Er hat es als seinen Triumph empfunden, daß er auf der Seite der überwundenen Sache stand, dies auch im Sinne der Maxime seiner Geschichtsschreibung: "We want more tragedy and less harmony." Das anrührendste Stück der Sammlung aber ist der letzte Brief des Bandes; verfaßt hat ihn Marie Luise Borchardt am 15. Januar 1945, die sich dadurch, daß sie vom Tod ihres Mannes erzählte, das Faktum dieses Todes jenseits aller großen Worte selbst begreiflich zu machen suchte. Seine letzten Worte lauten: "er war einmalig, einzig -."
Rudolf Borchardt: "Briefe 1936-1945". Text. Bearbeitet von Gerhard Schuster in Verbindung mit Christoph Ziermann. Edition Tenschert bei Hanser München/Wien 2002. 725 S., geb., 68,- [Euro].
Rudolf Borchardt: "Verzeichnis seiner Schriften". Bearbeitet von Ingrid Grüninger in Verbindung mit Reinhard Tgahrt. Edition Tenschert bei Hanser, München/Wien 2002. 430 S., geb., 54,- [Euro].
Ebenfalls erschienen bei der Deutschen Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2002. 344 S., 53 Abb., br., 45,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Höchste Kennerschaft bescheinigt Rezensent Ernst Osterkamp diesem Verzeichnis. An der, von ihm als "langerwartet" bezeichneten Publikation wird für ihn vor allem deutlich, wie wenig Borchardt nach 1933 noch veröffentlichen konnte. Vor allem während der Weimarer Republik habe er einen "breiten Strom von Publikationen" hervorgebracht und sich während des Exils mit staunenswerter Kraft jeden Gedanken an Resignation versagt. Osterkamp zufolge erwuchs diesem bedeutenden Autor die Kraft dazu aus der Überzeugung, dass sein Werk nach dem Krieg in den "zerfressenen deutschen Verhältnissen" noch gebraucht werden würde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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