Der Zusammenbruch der amerikanischen Lehman-Bank im September 2008 war der Urknall der bisher größten weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Zehntausende verloren ihren Arbeitsplatz, Weltkonzerne gerieten ins Wanken, ganze Staaten gingen bankrott - Folgen hoch riskanter Geldgeschäfte und ungedeckter Spekulationen auf den Welt-Finanzmärkten. Heide Simonis, langjährige Finanzministerin und Ministerpräsidentin, hat Szenen dieser Krise festgehalten. Pointiert und scharfzüngig kommentiert sie das Versagen des Marktes und die Reaktionen von Politik und Staat. Gegen das »Weiter so!« der Wirtschaft und der Banken setzt sie einen radikalen Kurswechsel: einen nachhaltigen Strukturwandel der Weltwirtschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2010Wie hältst du's mit der Pension?
Alois Glück blickt in die Zukunft, und Heide Simonis therapiert sich selbst
Alois Glück (CSU), zuletzt Präsident des Bayerischen Landtags und seit 2009 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, weiß um die Malaise der Parteien. Sie seien in Gefahr, "eine geschlossene, von der Wirklichkeit abgeschottete Gesellschaft zu werden, die keine Signale aus der Bevölkerung mehr empfängt". Der notwendige Wandel der Politik kann daher nicht von den Parteien ausgehen. "Die eigentliche Kraftquelle der Politik sind engagierte Bürger." An sie wendet sich Glück. Er geht zu Recht davon aus, dass "Religionen, Kulturen und Ideologien" über die Zukunft bestimmen. Also gilt es, in einem "zähen Lernprozess" jene "Verhaltensweisen und Denkmuster" zu verändern, die uns in die gegenwärtige "Sackgasse" von "Besitzstandsdenken, Verdrängung beunruhigender Entwicklungen und schwacher Zukunftsorientierung geführt haben".
In vier großen Abschnitten breitet Glück seine Analyse und seine Vorschläge aus. Zunächst behandelt er ausführlich die Finanzkrise, deren tiefere Ursachen er in falschen Wertvorstellungen sieht, insbesondere in der Abkoppelung der Freiheit von der Verantwortung und in der Dominanz kurzfristiger Erfolgsorientierung. In einem zweiten Kapitel kritisiert Glück das vorherrschende Konzept der "Modernisierung", das durch den Trend einer "grenzenlosen Ökonomisierung und Rationalisierung in allen Bereichen" gekennzeichnet sei. Sein Zukunftsentwurf ist die "Ökosoziale Marktwirtschaft". Dafür legt Glück die historischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft frei. Im Rückgriff auf Kurt Biedenkopf betont er, dass für Ludwig Erhard Wachstum niemals ein "selbständiges politisches Ziel" gewesen sei. Markt und Wettbewerb seien nicht identisch mit Kapitalismus. Man müsse die Volkswirtschaft nicht quantitativ, sondern qualitativ sehen. Dies beinhalte die Verpflichtung zu nachhaltigem Wirtschaften.
Schließlich zeigt Glück "Wege zu einer zukunftsfähigen Kultur" auf. Leitbilder sind die "solidarische Leistungsgesellschaft" und die "aktive Bürgergesellschaft". Der Abschnitt liest sich wie eine moderne Darstellung der katholischen Soziallehre. Die Schlüsselpassage des Buchs sind wohl die knappen Ausführungen zu den Defiziten des heutigen Konservativismus. Ohne politische Akteure wie die CDU oder CSU zu nennen, bemängelt Glück die Politik einer "Modernisierung ohne Kompass". "Die Aufgabe und das Ziel der Konservativen im 21. Jahrhundert ist eine zukunftsfähige Kultur. Diese setzt als Grundlage Werte voraus, die über reine Zweckorientiertheit und kurzfristiges Nützlichkeitsdenken hinausweisen und den Einzelnen und der Gemeinschaft Orientierung geben."
Glücks Buch ist eine lesenswerte Bestandsaufnahme der aktuellen Diskussionen über die Zukunft unserer Gesellschaft, die von der Finanzkrise befeuert wurden. Allerdings stellt sich die Frage nach der Konkretisierung der allzu abstrakten Ausführungen. Zu hinterfragen ist ebenfalls die optimistische Grundstimmung des Autors. Woher nimmt er die Zuversicht, dass die Bürger sich wandeln? Stellt er doch als Folge der Finanzkrise selbst fest, dass die Handlungsspielräume der Politik enger und die Verteilungskämpfe härter werden und die sozialen Spannungen steigen. Die empirische Sozialforschung bestätigt, dass das Solidaritätsdenken und der gesellschaftliche Zusammenhalt eher im Rückzug begriffen sind. Etwas irritierend ist Glücks Hang zu Modebegriffen, die eher vernebelnd wirken. So der inflationäre Gebrauch des Wortes Kultur: zukunftsfähige Kultur, Leistungskultur, Anerkennungskultur, Sozialkultur, Lebenskultur, Medienkultur, Unternehmenskultur, Kultur der Verantwortung.
Von ganz anderer Art ist das Buch "Verzockt!" von Heide Simonis (SPD). Während Glück sich von einer balancierten Nachdenklichkeit leiten lässt, ist der Antrieb der früheren Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein emotionaler Natur. Sie möchte den Leser teilhaben lassen an ihrer Wut über alle Ereignisse und Personen, die mit der Finanzkrise direkt oder indirekt zu tun haben. Das Büchlein ist ein Pamphlet gegen Manager, Banker und "neoliberale" Politiker, auch jene, die die Hartz-Gesetzgebung zu verantworten haben. Die Abfolge der Abschnitte - mit den Worten der Verfasserin "charakteristische und zugleich markante Szenen" - scheint sich durch die Chronologie der Lektüre bestimmter Zeitungen zu ergeben. Das thematische Chaos - eine Collage von Themen und Invektiven - entbehrt nicht einer gewissen Originalität. Da stehen die Fragen nach den Ursachen der Krise, nach der Rolle der Märkte und des Staates neben Passagen über die amerikanische Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin, über die vor kurzem gefundene älteste Menschendarstellung, die Venus vom "Hohlen Fels", über die Künstlerin Paloma Picasso und die Latexträgerin Gabriele Pauli - zynische Füllsel in einer zynischen Abhandlung mit wenig Witz und Esprit. Wir wissen nun, was Frau Simonis sich bei ihrer Zeitungslektüre so denkt - etwa dass G-20-Gipfel "eitlen kleinen Männern mit Minderwertigkeitskomplexen der besonderen Art" eine Bühne bieten. Ernstzunehmende Analyse- und Therapieansätze über einen "Green New Deal" - "eine nachhaltige Finanzwirtschaft und eine ökologische Wirtschaftsstruktur" - verlieren in solchen Kontexten an Seriosität.
Unerfreulich ist manches Vokabular. Begriffe wie "Schlamassel", "vergurken", "versaut" können in einer demagogisch aufgeheizten Wahlkampfrede benutzt werden, aber nicht in einem Buch, das als "profilierte Bestandaufnahme einer Krise" verstanden werden will. Heide Simonis schlägt wild um sich. Die grundsätzlich frauenfeindlichen Manager, Banker, vor allem aber die jungen Berater werden pauschal diffamiert. Da ist die Rede von "gegelten Jungmanagern" mit "erblondeten Gefährtinnen", diesen "pubertierenden Jugendlichen", "jungen Schnöseln" und "jünglinghaften Exekutoren der Finanzwelt mit ihrem geklonten Auftreten". Wer so schreibt, reagiert sich ab. Offensichtlich ist das Buch ein Stück Selbsttherapie. Dies erklärt wohl auch, warum die ehemalige Ministerpräsidentin Simonis im Abschnitt über das "spektakuläre Krisenexempel" der 2005 gegründeten HSH Nordbank ihre eigene Rolle als Aufsichtsratsvorsitzende ausblendet. Die Geschichte der Nordbank beginnt für sie erst nach ihrem Ausscheiden aus der Politik, das sie offensichtlich noch nicht verwunden hat.
WOLFGANG JÄGER
Alois Glück: Warum wir uns ändern müssen. Wege zu einer zukunftsfähigen Kultur. Verlag Herbig, München 2010. 222 S., 19,95 [Euro].
Heide Simonis: Verzockt! Warum die Karten von Markt und Staat neu gemischt werden müssen. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010. 160 S., 17,90 [Euro].
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Alois Glück blickt in die Zukunft, und Heide Simonis therapiert sich selbst
Alois Glück (CSU), zuletzt Präsident des Bayerischen Landtags und seit 2009 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, weiß um die Malaise der Parteien. Sie seien in Gefahr, "eine geschlossene, von der Wirklichkeit abgeschottete Gesellschaft zu werden, die keine Signale aus der Bevölkerung mehr empfängt". Der notwendige Wandel der Politik kann daher nicht von den Parteien ausgehen. "Die eigentliche Kraftquelle der Politik sind engagierte Bürger." An sie wendet sich Glück. Er geht zu Recht davon aus, dass "Religionen, Kulturen und Ideologien" über die Zukunft bestimmen. Also gilt es, in einem "zähen Lernprozess" jene "Verhaltensweisen und Denkmuster" zu verändern, die uns in die gegenwärtige "Sackgasse" von "Besitzstandsdenken, Verdrängung beunruhigender Entwicklungen und schwacher Zukunftsorientierung geführt haben".
In vier großen Abschnitten breitet Glück seine Analyse und seine Vorschläge aus. Zunächst behandelt er ausführlich die Finanzkrise, deren tiefere Ursachen er in falschen Wertvorstellungen sieht, insbesondere in der Abkoppelung der Freiheit von der Verantwortung und in der Dominanz kurzfristiger Erfolgsorientierung. In einem zweiten Kapitel kritisiert Glück das vorherrschende Konzept der "Modernisierung", das durch den Trend einer "grenzenlosen Ökonomisierung und Rationalisierung in allen Bereichen" gekennzeichnet sei. Sein Zukunftsentwurf ist die "Ökosoziale Marktwirtschaft". Dafür legt Glück die historischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft frei. Im Rückgriff auf Kurt Biedenkopf betont er, dass für Ludwig Erhard Wachstum niemals ein "selbständiges politisches Ziel" gewesen sei. Markt und Wettbewerb seien nicht identisch mit Kapitalismus. Man müsse die Volkswirtschaft nicht quantitativ, sondern qualitativ sehen. Dies beinhalte die Verpflichtung zu nachhaltigem Wirtschaften.
Schließlich zeigt Glück "Wege zu einer zukunftsfähigen Kultur" auf. Leitbilder sind die "solidarische Leistungsgesellschaft" und die "aktive Bürgergesellschaft". Der Abschnitt liest sich wie eine moderne Darstellung der katholischen Soziallehre. Die Schlüsselpassage des Buchs sind wohl die knappen Ausführungen zu den Defiziten des heutigen Konservativismus. Ohne politische Akteure wie die CDU oder CSU zu nennen, bemängelt Glück die Politik einer "Modernisierung ohne Kompass". "Die Aufgabe und das Ziel der Konservativen im 21. Jahrhundert ist eine zukunftsfähige Kultur. Diese setzt als Grundlage Werte voraus, die über reine Zweckorientiertheit und kurzfristiges Nützlichkeitsdenken hinausweisen und den Einzelnen und der Gemeinschaft Orientierung geben."
Glücks Buch ist eine lesenswerte Bestandsaufnahme der aktuellen Diskussionen über die Zukunft unserer Gesellschaft, die von der Finanzkrise befeuert wurden. Allerdings stellt sich die Frage nach der Konkretisierung der allzu abstrakten Ausführungen. Zu hinterfragen ist ebenfalls die optimistische Grundstimmung des Autors. Woher nimmt er die Zuversicht, dass die Bürger sich wandeln? Stellt er doch als Folge der Finanzkrise selbst fest, dass die Handlungsspielräume der Politik enger und die Verteilungskämpfe härter werden und die sozialen Spannungen steigen. Die empirische Sozialforschung bestätigt, dass das Solidaritätsdenken und der gesellschaftliche Zusammenhalt eher im Rückzug begriffen sind. Etwas irritierend ist Glücks Hang zu Modebegriffen, die eher vernebelnd wirken. So der inflationäre Gebrauch des Wortes Kultur: zukunftsfähige Kultur, Leistungskultur, Anerkennungskultur, Sozialkultur, Lebenskultur, Medienkultur, Unternehmenskultur, Kultur der Verantwortung.
Von ganz anderer Art ist das Buch "Verzockt!" von Heide Simonis (SPD). Während Glück sich von einer balancierten Nachdenklichkeit leiten lässt, ist der Antrieb der früheren Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein emotionaler Natur. Sie möchte den Leser teilhaben lassen an ihrer Wut über alle Ereignisse und Personen, die mit der Finanzkrise direkt oder indirekt zu tun haben. Das Büchlein ist ein Pamphlet gegen Manager, Banker und "neoliberale" Politiker, auch jene, die die Hartz-Gesetzgebung zu verantworten haben. Die Abfolge der Abschnitte - mit den Worten der Verfasserin "charakteristische und zugleich markante Szenen" - scheint sich durch die Chronologie der Lektüre bestimmter Zeitungen zu ergeben. Das thematische Chaos - eine Collage von Themen und Invektiven - entbehrt nicht einer gewissen Originalität. Da stehen die Fragen nach den Ursachen der Krise, nach der Rolle der Märkte und des Staates neben Passagen über die amerikanische Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin, über die vor kurzem gefundene älteste Menschendarstellung, die Venus vom "Hohlen Fels", über die Künstlerin Paloma Picasso und die Latexträgerin Gabriele Pauli - zynische Füllsel in einer zynischen Abhandlung mit wenig Witz und Esprit. Wir wissen nun, was Frau Simonis sich bei ihrer Zeitungslektüre so denkt - etwa dass G-20-Gipfel "eitlen kleinen Männern mit Minderwertigkeitskomplexen der besonderen Art" eine Bühne bieten. Ernstzunehmende Analyse- und Therapieansätze über einen "Green New Deal" - "eine nachhaltige Finanzwirtschaft und eine ökologische Wirtschaftsstruktur" - verlieren in solchen Kontexten an Seriosität.
Unerfreulich ist manches Vokabular. Begriffe wie "Schlamassel", "vergurken", "versaut" können in einer demagogisch aufgeheizten Wahlkampfrede benutzt werden, aber nicht in einem Buch, das als "profilierte Bestandaufnahme einer Krise" verstanden werden will. Heide Simonis schlägt wild um sich. Die grundsätzlich frauenfeindlichen Manager, Banker, vor allem aber die jungen Berater werden pauschal diffamiert. Da ist die Rede von "gegelten Jungmanagern" mit "erblondeten Gefährtinnen", diesen "pubertierenden Jugendlichen", "jungen Schnöseln" und "jünglinghaften Exekutoren der Finanzwelt mit ihrem geklonten Auftreten". Wer so schreibt, reagiert sich ab. Offensichtlich ist das Buch ein Stück Selbsttherapie. Dies erklärt wohl auch, warum die ehemalige Ministerpräsidentin Simonis im Abschnitt über das "spektakuläre Krisenexempel" der 2005 gegründeten HSH Nordbank ihre eigene Rolle als Aufsichtsratsvorsitzende ausblendet. Die Geschichte der Nordbank beginnt für sie erst nach ihrem Ausscheiden aus der Politik, das sie offensichtlich noch nicht verwunden hat.
WOLFGANG JÄGER
Alois Glück: Warum wir uns ändern müssen. Wege zu einer zukunftsfähigen Kultur. Verlag Herbig, München 2010. 222 S., 19,95 [Euro].
Heide Simonis: Verzockt! Warum die Karten von Markt und Staat neu gemischt werden müssen. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010. 160 S., 17,90 [Euro].
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