'Vesper, Ensslin, Baader' ist eine biographische Erzählung, die sich auf unbekannte persönliche Dokumente der Akteure stützen kann. Gerd Koenen liefert damit nicht nur einen Schlüssel zum 'Roten Jahrzehnt' der 68er-Revolte, sondern zur Geschichte Nachkriegsdeutschlands insgesamt.
Gudrun Ensslin und Andreas Baader waren so etwas wie das Urpaar des deutschen Terrorismus, die Frankfurter Kaufhausbrandstiftung von 1968 der Urakt. Beide verließen ihre Lebensgefährten und ihre Kinder, um sich auf einen Pfad zu begeben, der zwei Jahre später zur Gründung der RAF führen sollte. Unter welchen inneren Konflikten das geschah, erschließt sich erst aus persönlichen Zeugnissen und Berichten; die zu Ikonen erstarrten Figuren bekommen ein menschliches Gesicht. Bernward Vesper, Sohn des Nazidichters Will Vesper, langjähriger Verlobter Gudrun Ensslins und Vater ihres Kindes, war der unglückliche Dritte in dieser Geschichte. In derselben chaotischen Periode 1969/70, in der Baader/Ensslin in den Untergrund gingen und die ersten bewaffneten Gruppen sich bildeten, ging Vesper auf seinen eigenen Trip. Mit Hilfe von Drogen, erotischen Erfahrungen, theoretischen Lektüren und schonungsloser Selbstanalyse wollte er seinen 'faschistischen Charakterpanzer' zertrümmern und sich zum bewussten Revolutionär ausbilden. Sein autobiographischer Bericht 'Die Reise' gilt - seit er posthum im 'Deutschen Herbst' 1977 erschien - als das literarisch bedeutendste und authentischste Dokument dieser zeittypischen Radikalisierungsprozesse. 'Vesper, Ensslin, Baader' ist eine extreme Liebesstory und zugleich eine exemplarische, längst zum Mythos gewordene Geschichte, die ins Herz des deutschen Familienromans führt.
Gudrun Ensslin und Andreas Baader waren so etwas wie das Urpaar des deutschen Terrorismus, die Frankfurter Kaufhausbrandstiftung von 1968 der Urakt. Beide verließen ihre Lebensgefährten und ihre Kinder, um sich auf einen Pfad zu begeben, der zwei Jahre später zur Gründung der RAF führen sollte. Unter welchen inneren Konflikten das geschah, erschließt sich erst aus persönlichen Zeugnissen und Berichten; die zu Ikonen erstarrten Figuren bekommen ein menschliches Gesicht. Bernward Vesper, Sohn des Nazidichters Will Vesper, langjähriger Verlobter Gudrun Ensslins und Vater ihres Kindes, war der unglückliche Dritte in dieser Geschichte. In derselben chaotischen Periode 1969/70, in der Baader/Ensslin in den Untergrund gingen und die ersten bewaffneten Gruppen sich bildeten, ging Vesper auf seinen eigenen Trip. Mit Hilfe von Drogen, erotischen Erfahrungen, theoretischen Lektüren und schonungsloser Selbstanalyse wollte er seinen 'faschistischen Charakterpanzer' zertrümmern und sich zum bewussten Revolutionär ausbilden. Sein autobiographischer Bericht 'Die Reise' gilt - seit er posthum im 'Deutschen Herbst' 1977 erschien - als das literarisch bedeutendste und authentischste Dokument dieser zeittypischen Radikalisierungsprozesse. 'Vesper, Ensslin, Baader' ist eine extreme Liebesstory und zugleich eine exemplarische, längst zum Mythos gewordene Geschichte, die ins Herz des deutschen Familienromans führt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2003Ich hatt' einen Kameraden
Was aber bleibt, stiften die Dichter: Gerd Koenen entschlüsselt die RAF
Gegeben sei irgendein System. Man nimmt ein möglichst komplexes, zum Beispiel das Sonnensystem. Es läßt sich mit physikalischen Theorien beschreiben. Aber man kann sich einen Beobachter denken, dem weniger an Begriffen und Formeln und mehr an den Namen der Himmelskörper liegt: Uranus, Saturn, Jupiter. Und schon hat man das System übersetzt in eine unheimliche, abgründige Familiengeschichte von Großvätern, die auf grausame Weise entmachtet und verdrängt wurden (und es selbst schon mit ihren Ahnen so gehalten hatten), von mächtigen, rechtsetzenden Vätern, von gefährdeten Söhnen. Es ist derselbe Sachverhalt, der sich einmal als Theorie, einmal als genealogischer Mythos anschauen läßt. Bernward Vesper nannte den Sohn Felix, den er mit Gudrun Ensslin hatte, die "kleine Sonne".
Man kann das System der Bundesrepublik in den Begriffen der politischen Theorie beschreiben, aber man kann es auch als Schicksalsdrama zwischen den Generationen erzählen. Kaum jemals ist dieser Versuch so glänzend, so erregend gelungen wie in Gerd Koenens Urgeschichte der "Roten Armee Fraktion". Koenen hat einen Beobachtungsposten gewählt, der etwas vom Zentrum abzuliegen scheint und am Ende viel mehr an Einsichten hergibt, als man erwartet hatte. Er erzählt die Geschichte zweier Dichter: die von Will Vesper, einem Literaten, der sich mit dem Nationalsozialismus eingelassen hatte, offenbar schon vor 1945 ins Abseits geriet und in der jungen Bundesrepublik eine Nische im "Lippoldsberger Dichterkreis" von Hans Grimm und Agnes Miegel fand.
Bernward Vesper, sein Sohn, dichtet ebenfalls. Am Anfang epigonal. Aber dann, nach dem Tod des Vaters, nach Versuchen als Verleger der Protestbewegung, nach Drogenexzessen, schrieb er ein Schlüsselbuch der deutschen Geheimgeschichte, "Die Reise", in dem die Abrechung mit dem Vater, der beginnende Terrorismus der RAF, die unglückliche Liebe zu Gudrun Ensslin und die privaten Heilserleuchtungen katastrophisch, in übermäßiger Helle, ineinanderfallen und explodieren. Wenig später stirbt er an einer Überdosis Tabletten.
Koenen hat den Nachlaß von Bernward Vesper erforscht und ist dabei auf große Szenen gestoßen. Es gibt ein Foto, das Will Vesper mit Hitler in der Reichskanzlei zeigt. Als Vesper im Sterben liegt, kann ihm der Sohn noch den Namen "Gudrun" ins Ohr flüstern. Bernward und Gudrun verloben sich. Die hochbegabte Germanistikstudentin aus dem schwäbischen Pfarrhaus will über Hans Henny Jahnn promovieren. Und da stößt man wieder auf merkwürdige Szenen: wie Bernward und Gudrun in den frühen sechziger Jahren den Vetrieb der Werke Will Vespers zu ihrer Sache machten, wie sie in den Kreisen der "Soldatenzeitung" und der NPD-Studenten nach Lesepublikum suchen und wie sie wenig später schon mit Jean Genet und Georges Bataille experimentieren. Wie sie ein "studio neue literatur" gründen, dessen Name wie ein Echo der "Neuen Literatur" klingt, jener Zeitschrift, die Will Vesper in den dreißiger Jahren herausgab. Koenens Buch ist voll von solchen Geschichten, die kaum glaublich sind, aber wahr. Wenn sie etwas belegen, dann ist es die Konstanz, mit der sich gedankliche Motive über die Schwelle der Generationen halten - trotz, oder vielleicht wegen der radikalen Behauptung von Diskontinuität. In einem Haft-Kassiber von Gudrun Ensslin findet man die ewige Liedzeile des ewigen deutschen Kampfes: "Ich hatt' einen Kameraden".
Im Rückblick frappiert vor allem das Tempo, mit dem sich zwischen 1963 und 1970 die Lage zuspitzte. Gerade waren Gudrun Ensslin und Bernward Vesper noch im SPD-Wahlkontor - und Vesper hat eine Rede für Willy Brandt entworfen, die linke und nationale Ideen verband -, da ist schon der 2. Juni da, da veröffentlicht die "Kommune I" das grausige Flugblatt "Burn, warehouse, burn", da lernt Gudrun Andreas Baader kennen, da zünden die beiden zwei Kaufhäuser an. Vesper kämpft mit seiner inhaftierten Ex-Verlobten um das Sorgerecht für den Sohn Felix, ist aber selbst kaum imstande, ihm sichere Lebensverhältnisse zu bieten. Koenen gelingt es, die Frage nach der Zukunft der Kinder in den Gesprächen zwischen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin als ein verdrängtes und doch immer wieder angedeutetes Schlüsselthema zu entziffern.
Vor allem das Jahr 1969 schildert er als Parallelaktion zwischen Traum und Tat: Vesper segelte, auf den Spuren von Wilhelm Reich, ab in seine Orgon-Visionen von kosmischer Energie, suchte die Vergangenheitsbewältigung auf dem Trip mit einem amerikanischen Juden, schrieb, in offenbarer Radikalitätskonkurrenz mit Baader, der ihm die ewige Geliebte ausgespannt hatte, von einer "Weltbefreiungsfront", phantasierte von eigenen Guerilla- und Partei-Aktivitäten, während die aus der Haft entlassenen Kaufhausbrandstifter Baader, Ensslin und Thorwald Proll (auch er ein Mann, der sich als Dichter sah) im Frankfurter "Staffelberg-Projekt" an der Revolutionierung der Erziehungsheime arbeiteten und im Spätherbst in den Untergrund gingen. Für die Protagonisten der westdeutschen "Guerilla" kippte damals die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus in eine Solidarisierung mit dem palästinensischen Untergrundkampf um. Ungeklärt ist bis heute, wer aus dem Berliner "Blues" oder den Haschrebellen es war, der die Bombe im Berliner jüdischen Gemeindezentrum legte, die gerade noch entschärft werden konnte.
Koenen hat die Sonde in die deutsche Mentalitätsgeschichte tiefer gelegt als die meisten Beobachter vor ihm. Er, der vor Jahren die "Großen Gesänge" untersuchte, die Stalin-Oden der Neruda, Johannes R. Becher und Hermlin, hat nun die Gedichte gelesen, die am Beginn der RAF standen. Ein besseres Buch über diesen Schrecken wird es so bald nicht geben.
LORENZ JÄGER
Gerd Koenen: "Vesper, Ensslin, Bader". Urszenen des deutschen Terrorismus. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 368 S., S/W-Abb., geb., 22,90 [Euro].
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Was aber bleibt, stiften die Dichter: Gerd Koenen entschlüsselt die RAF
Gegeben sei irgendein System. Man nimmt ein möglichst komplexes, zum Beispiel das Sonnensystem. Es läßt sich mit physikalischen Theorien beschreiben. Aber man kann sich einen Beobachter denken, dem weniger an Begriffen und Formeln und mehr an den Namen der Himmelskörper liegt: Uranus, Saturn, Jupiter. Und schon hat man das System übersetzt in eine unheimliche, abgründige Familiengeschichte von Großvätern, die auf grausame Weise entmachtet und verdrängt wurden (und es selbst schon mit ihren Ahnen so gehalten hatten), von mächtigen, rechtsetzenden Vätern, von gefährdeten Söhnen. Es ist derselbe Sachverhalt, der sich einmal als Theorie, einmal als genealogischer Mythos anschauen läßt. Bernward Vesper nannte den Sohn Felix, den er mit Gudrun Ensslin hatte, die "kleine Sonne".
Man kann das System der Bundesrepublik in den Begriffen der politischen Theorie beschreiben, aber man kann es auch als Schicksalsdrama zwischen den Generationen erzählen. Kaum jemals ist dieser Versuch so glänzend, so erregend gelungen wie in Gerd Koenens Urgeschichte der "Roten Armee Fraktion". Koenen hat einen Beobachtungsposten gewählt, der etwas vom Zentrum abzuliegen scheint und am Ende viel mehr an Einsichten hergibt, als man erwartet hatte. Er erzählt die Geschichte zweier Dichter: die von Will Vesper, einem Literaten, der sich mit dem Nationalsozialismus eingelassen hatte, offenbar schon vor 1945 ins Abseits geriet und in der jungen Bundesrepublik eine Nische im "Lippoldsberger Dichterkreis" von Hans Grimm und Agnes Miegel fand.
Bernward Vesper, sein Sohn, dichtet ebenfalls. Am Anfang epigonal. Aber dann, nach dem Tod des Vaters, nach Versuchen als Verleger der Protestbewegung, nach Drogenexzessen, schrieb er ein Schlüsselbuch der deutschen Geheimgeschichte, "Die Reise", in dem die Abrechung mit dem Vater, der beginnende Terrorismus der RAF, die unglückliche Liebe zu Gudrun Ensslin und die privaten Heilserleuchtungen katastrophisch, in übermäßiger Helle, ineinanderfallen und explodieren. Wenig später stirbt er an einer Überdosis Tabletten.
Koenen hat den Nachlaß von Bernward Vesper erforscht und ist dabei auf große Szenen gestoßen. Es gibt ein Foto, das Will Vesper mit Hitler in der Reichskanzlei zeigt. Als Vesper im Sterben liegt, kann ihm der Sohn noch den Namen "Gudrun" ins Ohr flüstern. Bernward und Gudrun verloben sich. Die hochbegabte Germanistikstudentin aus dem schwäbischen Pfarrhaus will über Hans Henny Jahnn promovieren. Und da stößt man wieder auf merkwürdige Szenen: wie Bernward und Gudrun in den frühen sechziger Jahren den Vetrieb der Werke Will Vespers zu ihrer Sache machten, wie sie in den Kreisen der "Soldatenzeitung" und der NPD-Studenten nach Lesepublikum suchen und wie sie wenig später schon mit Jean Genet und Georges Bataille experimentieren. Wie sie ein "studio neue literatur" gründen, dessen Name wie ein Echo der "Neuen Literatur" klingt, jener Zeitschrift, die Will Vesper in den dreißiger Jahren herausgab. Koenens Buch ist voll von solchen Geschichten, die kaum glaublich sind, aber wahr. Wenn sie etwas belegen, dann ist es die Konstanz, mit der sich gedankliche Motive über die Schwelle der Generationen halten - trotz, oder vielleicht wegen der radikalen Behauptung von Diskontinuität. In einem Haft-Kassiber von Gudrun Ensslin findet man die ewige Liedzeile des ewigen deutschen Kampfes: "Ich hatt' einen Kameraden".
Im Rückblick frappiert vor allem das Tempo, mit dem sich zwischen 1963 und 1970 die Lage zuspitzte. Gerade waren Gudrun Ensslin und Bernward Vesper noch im SPD-Wahlkontor - und Vesper hat eine Rede für Willy Brandt entworfen, die linke und nationale Ideen verband -, da ist schon der 2. Juni da, da veröffentlicht die "Kommune I" das grausige Flugblatt "Burn, warehouse, burn", da lernt Gudrun Andreas Baader kennen, da zünden die beiden zwei Kaufhäuser an. Vesper kämpft mit seiner inhaftierten Ex-Verlobten um das Sorgerecht für den Sohn Felix, ist aber selbst kaum imstande, ihm sichere Lebensverhältnisse zu bieten. Koenen gelingt es, die Frage nach der Zukunft der Kinder in den Gesprächen zwischen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin als ein verdrängtes und doch immer wieder angedeutetes Schlüsselthema zu entziffern.
Vor allem das Jahr 1969 schildert er als Parallelaktion zwischen Traum und Tat: Vesper segelte, auf den Spuren von Wilhelm Reich, ab in seine Orgon-Visionen von kosmischer Energie, suchte die Vergangenheitsbewältigung auf dem Trip mit einem amerikanischen Juden, schrieb, in offenbarer Radikalitätskonkurrenz mit Baader, der ihm die ewige Geliebte ausgespannt hatte, von einer "Weltbefreiungsfront", phantasierte von eigenen Guerilla- und Partei-Aktivitäten, während die aus der Haft entlassenen Kaufhausbrandstifter Baader, Ensslin und Thorwald Proll (auch er ein Mann, der sich als Dichter sah) im Frankfurter "Staffelberg-Projekt" an der Revolutionierung der Erziehungsheime arbeiteten und im Spätherbst in den Untergrund gingen. Für die Protagonisten der westdeutschen "Guerilla" kippte damals die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus in eine Solidarisierung mit dem palästinensischen Untergrundkampf um. Ungeklärt ist bis heute, wer aus dem Berliner "Blues" oder den Haschrebellen es war, der die Bombe im Berliner jüdischen Gemeindezentrum legte, die gerade noch entschärft werden konnte.
Koenen hat die Sonde in die deutsche Mentalitätsgeschichte tiefer gelegt als die meisten Beobachter vor ihm. Er, der vor Jahren die "Großen Gesänge" untersuchte, die Stalin-Oden der Neruda, Johannes R. Becher und Hermlin, hat nun die Gedichte gelesen, die am Beginn der RAF standen. Ein besseres Buch über diesen Schrecken wird es so bald nicht geben.
LORENZ JÄGER
Gerd Koenen: "Vesper, Ensslin, Bader". Urszenen des deutschen Terrorismus. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 368 S., S/W-Abb., geb., 22,90 [Euro].
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