Sommer 1940: Frankreich ist besiegt, die 'Neue Ordnung' des Marschalls Pétain richtet sich unter deutscher Aufsicht im unbesetzten Teil des Landes ein. Februar 1942: In Riom bei Vichy beginnt mit Billigung Hitlers ein Prozess wegen Hoch- und Landesverrats gegen die früheren Ministerpräsidenten Blum und Daladier, den Oberbefehlshaber Gamelin u. a. Ihnen werden Krieg und totale Niederlage angelastet. Doch statt das Vichy-Regime durch Diffamierung führender Köpfe der Dritten Republik zu stabilisieren, richtet sich der Prozess zunehmend gegen seine Betreiber selbst - sie entpuppen sich als Mitverantwortliche für das Desaster von 1940. Hitler lässt den Prozess abbrechen. Doch er kann nicht mehr verhindern, dass der Prozessverlauf das Vichy-Regime weitgehend diskreditiert hat. Der Prozess von Riom hatte eine wichtige Funktion für die Entstehung und Stärkung des Widerstands gegen die deutsche Besatzung und für die weitere politische Entwicklung in Frankreich. Elisabeth Bokelmann legt nun, gestützt auf reichhaltiges Quellenmaterial, die erste Darstellung dieses spektakulären politischen Prozesses im deutschsprachigen Raum vor.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2007Wer andern eine Grube gräbt
Wie Vichy mit der Dritten Republik abrechnen wollte
Vom Bumerang ist bekannt, dass er den trifft, der ihn unsachgemäß wirft. Der Prozess von Riom (1942) war ein solcher Bumerang. Initiiert wurde er von Philippe Pétain, inspiriert von Adolf Hitler. Treffen wollten beide Frankreichs Dritte Republik in Gestalt einiger ihrer Regierungschefs, Minister und hoher Beamter. Sie sollten schuld gewesen sein an der Niederlage im Blitzkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland 1940 (Pétain), mehr noch am Krieg überhaupt (Hitler). Für den deutschen Diktator wie den französischen Marschall wäre ein in ihrem Sinn gefälltes Urteil von Vorteil gewesen. Der Aggressor Hitler hätte sich als Unschuldslamm präsentieren können. Dem Staatschef Pétain, der seit der Niederlage vom Badeort Vichy aus einen südfranzösischen Satellitenstaat von des "Führers" Gnaden regierte, wäre der Schuldspruch willkommen gewesen, um mit seiner Hilfe "Desorganisation" und "Demoralisierung" des demokratischen Vorgängerregimes zu brandmarken. Von der "abgewirtschafteten" Dritten Republik sollte sich die "neue" autoritäre "Ordnung" des pétainistischen Frankreich positiv abheben.
Diese Hoffnungen machte der Prozess von Riom zunichte. Wie ein Bumerang traf er seine Drahtzieher. Die Zeithistorikerin Elisabeth Bokelmann beschreibt Aktion und Reaktion der Prozessteilnehmer wie das durch sie ausgelöste Medienecho. Dabei arbeitet sie sowohl die dilettantische Prozessvorbereitung von Seiten der Anklage wie die Prozesswillkür heraus. Noch vor Eröffnung des Verfahrens verurteilte Pétain auf deutschen Druck und gestützt auf einen "Rat für politische Justiz", aber gegen fundamentale Rechtsgrundsätze die ehemaligen Ministerpräsidenten Daladier, Blum und Reynaud, ferner den früheren Innenminister Mandel und General Gamelin, bis Mai 1940 Oberkommandierender der Armee, zu Festungshaft, den ehemaligen Luftfahrtminister La Chambre und den früheren Generalsekretär im Ministerium für nationale Verteidigung Jacomet zu einfacher Internierung. Entgegen der Ankündigung Pétains, die ganze Wahrheit über die Niederlage ans Licht zu bringen, beschränkte sich die Prozessführung dann auf die Suche nach Teilwahrheiten. Sie klammerte die militärische Verantwortung aus, damit nur ja nicht "die Ehre der Armee" - gemeint waren damit der Marschall selbst und die Stützen seines Regimes - Schaden nehme.
Vor so viel Einäugigkeit mochten sich die angeklagten Politiker der Dritten Republik nicht zu alleinigen Sündenböcken für die Niederlage machen lassen. Namentlich die früheren Ministerpräsidenten Edouard Daladier und Léon Blum verteidigten sich mit Mut, Eloquenz und Überzeugungskraft gegen die Anklage. Es gelang ihnen immer wieder, Fehlplanungen und Fehlentscheidungen der Militärs, auch Pétains, zur Sprache zu bringen, so dass aus den Anklägern unversehens Angeklagte wurden. Dabei kamen erstaunliche Details ans Licht. 2500 moderne Kampfflugzeuge und fünfhundert Angriffspanzer hatten nicht in die Kämpfe eingegriffen. Ein überalterter Generalstab hatte Frankreich sicher gewähnt hinter der Maginotlinie und war taub für selbständig operierende Panzerdivisionen und Luftwaffenverbände - wie sie Vordenker der französischen Armee bereits in den zwanziger Jahren gefordert hatten. Eine Forderung, die die deutsche Wehrmacht aufgriff und mit durchschlagendem Erfolg auf dem französischen Schlachtfeld verwirklichte. Daladier wies auf solche Fehlleistungen der Armeeführung hin und zeigte Lücken im Defensivsystem auf, die zum Teil auf Fehleinschätzungen Pétains direkt zurückgingen. Solchermaßen bloßgestellt, wurde der Prozess für seine Initiatoren zunehmend zur Blamage und für die deutsche Besatzungsmacht zur Enttäuschung. Auf ihren Druck hin vertagte sich das Gericht am 14. April 1942, um nie mehr zusammenzutreten.
Die Autorin zeichnet die großen Linien des Prozesses von Riom verlässlich nach und zeigt die Folgen auf: Prestigeverlust von Pétains Regime und wachsende Abhängigkeit von den Deutschen bei gleichzeitigem Erstarken der Résistance. Sie beschränkt ihre Darstellung auf die Ergebnisse der französischen Forschung. Auch wenn sie nicht mit neuen Erkenntnissen aufwartet, hat ihr Buch das Verdienst, die erste deutschsprachige Abhandlung dieses hierzulande wenig bekannten Prozesses zu sein. Gerade deshalb hätte man sich freilich eine ausführlichere Darstellung gewünscht, die das Versagen der französischen Armee noch deutlicher hervorhebt, etwa in den gravierenden Fehleinschätzungen der Generäle Huntziger und Vuillemin, die bei Frau Bokelmann nur am Rande vorkommen. Auch dem Dokumentenanhang und den Kurzbiographien der handelnden Personen hätte mehr Ausführlichkeit gutgetan.
PETER HÖLZLE
Elisabeth Bokelmann: Vichy contra Dritte Republik. Der Prozess von Riom 1942. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2006. 183 S., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie Vichy mit der Dritten Republik abrechnen wollte
Vom Bumerang ist bekannt, dass er den trifft, der ihn unsachgemäß wirft. Der Prozess von Riom (1942) war ein solcher Bumerang. Initiiert wurde er von Philippe Pétain, inspiriert von Adolf Hitler. Treffen wollten beide Frankreichs Dritte Republik in Gestalt einiger ihrer Regierungschefs, Minister und hoher Beamter. Sie sollten schuld gewesen sein an der Niederlage im Blitzkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland 1940 (Pétain), mehr noch am Krieg überhaupt (Hitler). Für den deutschen Diktator wie den französischen Marschall wäre ein in ihrem Sinn gefälltes Urteil von Vorteil gewesen. Der Aggressor Hitler hätte sich als Unschuldslamm präsentieren können. Dem Staatschef Pétain, der seit der Niederlage vom Badeort Vichy aus einen südfranzösischen Satellitenstaat von des "Führers" Gnaden regierte, wäre der Schuldspruch willkommen gewesen, um mit seiner Hilfe "Desorganisation" und "Demoralisierung" des demokratischen Vorgängerregimes zu brandmarken. Von der "abgewirtschafteten" Dritten Republik sollte sich die "neue" autoritäre "Ordnung" des pétainistischen Frankreich positiv abheben.
Diese Hoffnungen machte der Prozess von Riom zunichte. Wie ein Bumerang traf er seine Drahtzieher. Die Zeithistorikerin Elisabeth Bokelmann beschreibt Aktion und Reaktion der Prozessteilnehmer wie das durch sie ausgelöste Medienecho. Dabei arbeitet sie sowohl die dilettantische Prozessvorbereitung von Seiten der Anklage wie die Prozesswillkür heraus. Noch vor Eröffnung des Verfahrens verurteilte Pétain auf deutschen Druck und gestützt auf einen "Rat für politische Justiz", aber gegen fundamentale Rechtsgrundsätze die ehemaligen Ministerpräsidenten Daladier, Blum und Reynaud, ferner den früheren Innenminister Mandel und General Gamelin, bis Mai 1940 Oberkommandierender der Armee, zu Festungshaft, den ehemaligen Luftfahrtminister La Chambre und den früheren Generalsekretär im Ministerium für nationale Verteidigung Jacomet zu einfacher Internierung. Entgegen der Ankündigung Pétains, die ganze Wahrheit über die Niederlage ans Licht zu bringen, beschränkte sich die Prozessführung dann auf die Suche nach Teilwahrheiten. Sie klammerte die militärische Verantwortung aus, damit nur ja nicht "die Ehre der Armee" - gemeint waren damit der Marschall selbst und die Stützen seines Regimes - Schaden nehme.
Vor so viel Einäugigkeit mochten sich die angeklagten Politiker der Dritten Republik nicht zu alleinigen Sündenböcken für die Niederlage machen lassen. Namentlich die früheren Ministerpräsidenten Edouard Daladier und Léon Blum verteidigten sich mit Mut, Eloquenz und Überzeugungskraft gegen die Anklage. Es gelang ihnen immer wieder, Fehlplanungen und Fehlentscheidungen der Militärs, auch Pétains, zur Sprache zu bringen, so dass aus den Anklägern unversehens Angeklagte wurden. Dabei kamen erstaunliche Details ans Licht. 2500 moderne Kampfflugzeuge und fünfhundert Angriffspanzer hatten nicht in die Kämpfe eingegriffen. Ein überalterter Generalstab hatte Frankreich sicher gewähnt hinter der Maginotlinie und war taub für selbständig operierende Panzerdivisionen und Luftwaffenverbände - wie sie Vordenker der französischen Armee bereits in den zwanziger Jahren gefordert hatten. Eine Forderung, die die deutsche Wehrmacht aufgriff und mit durchschlagendem Erfolg auf dem französischen Schlachtfeld verwirklichte. Daladier wies auf solche Fehlleistungen der Armeeführung hin und zeigte Lücken im Defensivsystem auf, die zum Teil auf Fehleinschätzungen Pétains direkt zurückgingen. Solchermaßen bloßgestellt, wurde der Prozess für seine Initiatoren zunehmend zur Blamage und für die deutsche Besatzungsmacht zur Enttäuschung. Auf ihren Druck hin vertagte sich das Gericht am 14. April 1942, um nie mehr zusammenzutreten.
Die Autorin zeichnet die großen Linien des Prozesses von Riom verlässlich nach und zeigt die Folgen auf: Prestigeverlust von Pétains Regime und wachsende Abhängigkeit von den Deutschen bei gleichzeitigem Erstarken der Résistance. Sie beschränkt ihre Darstellung auf die Ergebnisse der französischen Forschung. Auch wenn sie nicht mit neuen Erkenntnissen aufwartet, hat ihr Buch das Verdienst, die erste deutschsprachige Abhandlung dieses hierzulande wenig bekannten Prozesses zu sein. Gerade deshalb hätte man sich freilich eine ausführlichere Darstellung gewünscht, die das Versagen der französischen Armee noch deutlicher hervorhebt, etwa in den gravierenden Fehleinschätzungen der Generäle Huntziger und Vuillemin, die bei Frau Bokelmann nur am Rande vorkommen. Auch dem Dokumentenanhang und den Kurzbiographien der handelnden Personen hätte mehr Ausführlichkeit gutgetan.
PETER HÖLZLE
Elisabeth Bokelmann: Vichy contra Dritte Republik. Der Prozess von Riom 1942. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2006. 183 S., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Peter Hölzle begrüßt dieses Buch über den Prozess von Riom 1942, das Elisabeth Bokelmann vorgelegt hat. Neue Erkenntnisse über diesen Schauprozess, den das Vichy-Regime unter Philippe Petain gegen hochrangige Vertreter der Dritten Republik angestrengt hatte, die beschuldigt wurden für die Niederlage gegen die Deutschen verantwortlich zu sein, findet er darin zwar nicht. Aber die Rekonstruktion des Prozesses und die Schilderung seiner Folgen scheinen ihm dennoch überaus verdienstvoll, vor allem, weil das Buch die erste deutschsprachige Arbeit über diesen in Deutschland kaum bekannten Prozess ist. Gerade deshalb hätte sich Hölzle allerdings die Darstellung, den Dokumentenanhang und die Kurzbiografien der beteiligten Personen doch etwas ausführlicher gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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