Maryse Condé, Bestsellerautorin der Achtzigerjahre, meldet sich mit der Geschichte ihrer Großmutter zurück. Victoire Quidal wächst Ende des 19. Jahrhunderts in einer armen Familie auf Guadeloupe auf. Obwohl sie nie lesen und schreiben lernt und nur kreolisch spricht, legt sie als talentierte Köchin den Grundstein für den sozialen Aufstieg ihrer Nachkommen. Der faszinierende Lebensweg einer Frau in einer rassistischen und machistischen Gesellschaft und ein Sittengemälde der französischen Karibik zur Kolonialzeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.2011Im Rocksaum der Frauen
Maryse Condé und ihre karibische Großmutter
Von Joseph Hanimann
Durch die Stimmenvielfalt, die Gesänge und Geräusche dieses Buchs knallen zweimal die Schläge eines Lederriemens. Beide Male hat ein Vater oder Großvater seinen Gürtel ausgezogen und zieht damit Striemen auf die Haut eines Mädchens, damit sie verrate, wer sie geschwängert hat. Es sind nicht unbedingt schlechte Väter oder Großväter. Sie tun einfach, was normal schien in den Dörfern der karibischen Inseln im späten neunzehnten Jahrhundert, wenn eine Vierzehnjährige einen dicken Bauch bekam, was häufig vorkam. Man wollte wenigstens wissen, von wem das Balg stammt. Maryse Condé erzählt die Geschichte ihrer Großmutter, die sie nur von einem Foto her kannte, aus der einfühlsamen Distanz, die mehr auf Epochenzauber als auf schnelle Urteile setzt.
Die 1937 geborene Autorin hat in ihren Romanen "Kinder der Sonne", "Insel der Vergangenheit" oder im Bestseller "Segu" gezeigt, wie weitmaschig, lebendig und kraftvoll sie Menschen und Situationen schildern kann. Nach ihren ersten Büchern, die noch am afrikanischen Urmythos der karibischen Schwarzen und Mischlinge strickten, fand die Autorin bald zur kreolischen Grundrealität ihrer Herkunft. Dafür ist diese Victoire mit ihrer zu weißen Haut und ihren hellen Augen ein sprechendes Beispiel.
Liegt es am Heranwachsen bei ihrer Großmutter Caldonia nach dem frühen Tod ihrer vierzehnjährigen Mutter in einem Land, wo in den ärmeren Schichten die wenigsten Kinder ihren Vater kannten? Neben ihrer Hautfarbe weckte Victoire auch dadurch Verdacht, dass sie im Glück wie in der Trauer ihre Gefühle nicht zeigte. "Bei uns ist der Tod ein Schauspiel. Stummen Schmerz lässt man nicht gelten", erklärt die Autorin. Victoire hat weder Lesen noch schreiben gelernt und wurde früh Köchin in der kleinen Zuckerrohr-Bourgeoisie, wo ihr Talent Anerkennung fand. "Mizik! Mizik!", hatte sie aber schon als Kleinkind zum Grammophon, zum Klavier oder zur Geige gejubelt, wenn ihre Großmutter Caldonia sie auf Putztour in die vornehmen Familien mitnahm. Und eine extra im Nachbarstädtchen besorgte weißlackierte Spieldose mit der "Habanera" aus Bizets "Carmen" geleitet sie dann aus der kurzen Kindheit ins Leben - "Die Liebe vom Zigeuner stammt . . .".
Bei Victoire ging die Liebe jedoch um 1889 eher auf den armen Bauernsohn Dernier Argilius zurück, einen aufgeweckten Jungen, als erster Inhaber des "brevet colonial" ein Zögling der Republik Frankreich, der für Victoire so schnell da wie auch wieder weg war. Er führte in der Kreisstadt La Pointe die kleinen Leute zum Aufstand und wurde Chef der Zeitung "Le Peuple". Dauerhaft da war für Victoire neun Monate später dann ihre Tochter Jeanne, die Mutter der Autorin. Auch ihr gegenüber zeigte Victoire keine überbordende Zärtlichkeit: "Keine absurden Kosenamen. Keine intimen Spielchen. Sie war ständig mit ihr beschäftigt, aber stumm, wie innerlich gehemmt." An dem Kind vorbei ging ihr eigenes Leben weiter, in einem seltsamen Haushalt zu dritt bei ihren Arbeitgebern, wo statt der Herrin bald sie selbst den Dienst im Ehebett übernahm.
Weiblich ist dieser ganze Lebensbericht bestimmt. In den Falten der "golle", des weit geschnittenen traditionellen Frauenkleids der Antillen, bleiben aber immer auch Episoden der karibischen Emanzipations- und der französischen Kolonialgeschichte hängen, mit launenhaften bretonischen Pfarrern, strammen Schulmeistern, strengen Ärzten. Und schöner noch sind die beiläufig miterzählten Geschichten der Nebenfiguren - die Bürgertochter, die unglücklich in denselben Mann wie Victoire verliebt ist und schließlich ins blasse Paris auswandert, wo sie eine Existenz als Klavierlehrerin fristet, oder der Hauslehrer, den das keusche Seminaristenleben in die Bürgerhäuser unter der karibischen Sonne trieb.
Solche Nebengeschichten brauchte die Autorin schon, weil kaum etwas Fassbares über ihre Großmutter überliefert war. Es mache keinen Unterschied, ob sie sich erinnere oder erfinde, ob sie entlehne oder erdichte, warnt sie vorweg. So mischt sie sich als Erzählerin freizügig ein, streut hier ein gerade passendes Zitat ein, gesteht dort, gern eine pädophile Affäre eines weißen Dreckskerls mit einer schwarzen Dienstmädchentochter einfügen zu wollen, nur entspreche das nicht der Realität. So liest sich ihr Werk unterhaltsam und lehrreich, nicht zuletzt dank eines glänzenden Übersetzers.
Maryse Condé: "Victoire". Ein Frauenleben im kolonialen Guadeloupe.
Aus dem Französischen von Peter Trier. Litradukt, Kehl 2011. 264 S., br., 15,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Maryse Condé und ihre karibische Großmutter
Von Joseph Hanimann
Durch die Stimmenvielfalt, die Gesänge und Geräusche dieses Buchs knallen zweimal die Schläge eines Lederriemens. Beide Male hat ein Vater oder Großvater seinen Gürtel ausgezogen und zieht damit Striemen auf die Haut eines Mädchens, damit sie verrate, wer sie geschwängert hat. Es sind nicht unbedingt schlechte Väter oder Großväter. Sie tun einfach, was normal schien in den Dörfern der karibischen Inseln im späten neunzehnten Jahrhundert, wenn eine Vierzehnjährige einen dicken Bauch bekam, was häufig vorkam. Man wollte wenigstens wissen, von wem das Balg stammt. Maryse Condé erzählt die Geschichte ihrer Großmutter, die sie nur von einem Foto her kannte, aus der einfühlsamen Distanz, die mehr auf Epochenzauber als auf schnelle Urteile setzt.
Die 1937 geborene Autorin hat in ihren Romanen "Kinder der Sonne", "Insel der Vergangenheit" oder im Bestseller "Segu" gezeigt, wie weitmaschig, lebendig und kraftvoll sie Menschen und Situationen schildern kann. Nach ihren ersten Büchern, die noch am afrikanischen Urmythos der karibischen Schwarzen und Mischlinge strickten, fand die Autorin bald zur kreolischen Grundrealität ihrer Herkunft. Dafür ist diese Victoire mit ihrer zu weißen Haut und ihren hellen Augen ein sprechendes Beispiel.
Liegt es am Heranwachsen bei ihrer Großmutter Caldonia nach dem frühen Tod ihrer vierzehnjährigen Mutter in einem Land, wo in den ärmeren Schichten die wenigsten Kinder ihren Vater kannten? Neben ihrer Hautfarbe weckte Victoire auch dadurch Verdacht, dass sie im Glück wie in der Trauer ihre Gefühle nicht zeigte. "Bei uns ist der Tod ein Schauspiel. Stummen Schmerz lässt man nicht gelten", erklärt die Autorin. Victoire hat weder Lesen noch schreiben gelernt und wurde früh Köchin in der kleinen Zuckerrohr-Bourgeoisie, wo ihr Talent Anerkennung fand. "Mizik! Mizik!", hatte sie aber schon als Kleinkind zum Grammophon, zum Klavier oder zur Geige gejubelt, wenn ihre Großmutter Caldonia sie auf Putztour in die vornehmen Familien mitnahm. Und eine extra im Nachbarstädtchen besorgte weißlackierte Spieldose mit der "Habanera" aus Bizets "Carmen" geleitet sie dann aus der kurzen Kindheit ins Leben - "Die Liebe vom Zigeuner stammt . . .".
Bei Victoire ging die Liebe jedoch um 1889 eher auf den armen Bauernsohn Dernier Argilius zurück, einen aufgeweckten Jungen, als erster Inhaber des "brevet colonial" ein Zögling der Republik Frankreich, der für Victoire so schnell da wie auch wieder weg war. Er führte in der Kreisstadt La Pointe die kleinen Leute zum Aufstand und wurde Chef der Zeitung "Le Peuple". Dauerhaft da war für Victoire neun Monate später dann ihre Tochter Jeanne, die Mutter der Autorin. Auch ihr gegenüber zeigte Victoire keine überbordende Zärtlichkeit: "Keine absurden Kosenamen. Keine intimen Spielchen. Sie war ständig mit ihr beschäftigt, aber stumm, wie innerlich gehemmt." An dem Kind vorbei ging ihr eigenes Leben weiter, in einem seltsamen Haushalt zu dritt bei ihren Arbeitgebern, wo statt der Herrin bald sie selbst den Dienst im Ehebett übernahm.
Weiblich ist dieser ganze Lebensbericht bestimmt. In den Falten der "golle", des weit geschnittenen traditionellen Frauenkleids der Antillen, bleiben aber immer auch Episoden der karibischen Emanzipations- und der französischen Kolonialgeschichte hängen, mit launenhaften bretonischen Pfarrern, strammen Schulmeistern, strengen Ärzten. Und schöner noch sind die beiläufig miterzählten Geschichten der Nebenfiguren - die Bürgertochter, die unglücklich in denselben Mann wie Victoire verliebt ist und schließlich ins blasse Paris auswandert, wo sie eine Existenz als Klavierlehrerin fristet, oder der Hauslehrer, den das keusche Seminaristenleben in die Bürgerhäuser unter der karibischen Sonne trieb.
Solche Nebengeschichten brauchte die Autorin schon, weil kaum etwas Fassbares über ihre Großmutter überliefert war. Es mache keinen Unterschied, ob sie sich erinnere oder erfinde, ob sie entlehne oder erdichte, warnt sie vorweg. So mischt sie sich als Erzählerin freizügig ein, streut hier ein gerade passendes Zitat ein, gesteht dort, gern eine pädophile Affäre eines weißen Dreckskerls mit einer schwarzen Dienstmädchentochter einfügen zu wollen, nur entspreche das nicht der Realität. So liest sich ihr Werk unterhaltsam und lehrreich, nicht zuletzt dank eines glänzenden Übersetzers.
Maryse Condé: "Victoire". Ein Frauenleben im kolonialen Guadeloupe.
Aus dem Französischen von Peter Trier. Litradukt, Kehl 2011. 264 S., br., 15,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensent Joseph Hanimann stellt Maryse Conde auch mit "Victoire" wieder einmal unter Beweis, wie "lebendig und kraftvoll" sie über Menschen und Situationen schreiben kann. Auf der Suche nach ihren kreolischen Wurzeln schildere die Autorin das Schicksal ihrer karibischen Großmutter Victoire, die noch in einer Zeit lebte, als Väter ihre Töchter auspeitschten, um zu erfahren, wer sie geschwängert habe. Bewegt liest der Kritiker die Geschichte von Victoire, die ausgegrenzt durch ihre weiße Hautfarbe, früh lernt, ihre Gefühle zu unterdrücken. Auch lehrreich sei Condes Buch, etwa wenn sie Episoden der karibischen Emanzipations- und französischen Kolonialgeschichte erzähle. Und nicht zuletzt hat sich der Rezensent bestens unterhalten gefühlt, wenn die Autorin zahlreiche - frei erfundene - Nebengeschichten in ihre Erzählung einbindet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Glänzend übersetzt, unterhaltsam und lehrreich" (Joseph Hanimann, FAZ)