Der neue große Roman über Liebe, Macht und die Kraft des Erzählens von Booker-Preisträger Salman Rushdie
Südindien im 14. Jahrhundert: Die neunjährige Waise Pampa Kampana wird von einer Göttin auserkoren, ihre menschliche Hülle und ihr Sprachrohr in die Welt zu sein. In ihrem Namen erschafft Pampa aus einer Handvoll Samen eine Stadt: Bisnaga - Victory City, das Wunder der Welt. All ihr Handeln beruht auf der großen Aufgabe, die ihr die Göttin gestellt hat: den Frauen in einer patriarchalen Welt eine gleichberechtigte Rolle zu geben. Aber die Schöpfungsgeschichte Bisnagas nimmt mehr und mehr ihren eigenen Lauf. Während die Jahre vergehen, Herrscher kommen und gehen, Schlachten gewonnen und verloren werden und sich Loyalitäten verschieben, ist das Leben von Pampa Kampana untrennbar mit dieser Stadt verbunden. Von ihrem Aufstieg zu einem Weltreich bis zu ihrem tragischen Fall.
Salman Rushdie erhielt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)
Südindien im 14. Jahrhundert: Die neunjährige Waise Pampa Kampana wird von einer Göttin auserkoren, ihre menschliche Hülle und ihr Sprachrohr in die Welt zu sein. In ihrem Namen erschafft Pampa aus einer Handvoll Samen eine Stadt: Bisnaga - Victory City, das Wunder der Welt. All ihr Handeln beruht auf der großen Aufgabe, die ihr die Göttin gestellt hat: den Frauen in einer patriarchalen Welt eine gleichberechtigte Rolle zu geben. Aber die Schöpfungsgeschichte Bisnagas nimmt mehr und mehr ihren eigenen Lauf. Während die Jahre vergehen, Herrscher kommen und gehen, Schlachten gewonnen und verloren werden und sich Loyalitäten verschieben, ist das Leben von Pampa Kampana untrennbar mit dieser Stadt verbunden. Von ihrem Aufstieg zu einem Weltreich bis zu ihrem tragischen Fall.
Salman Rushdie erhielt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2023Siegeszug der Parodie
Was bleibt, stiften die Dichter, nicht die Gewaltherrscher: Salman Rushdies Roman "Victory City" auf Deutsch
Am besten, man fängt von hinten an: Auf den letzten Seiten seines neuen Romans "Victory City" versammelt Salman Rushdie einige Quellen, die ihn zu diesem inspiriert haben. Es sind mehrere wissenschaftliche Bücher zur Geschichte Indiens darunter, aber auch essayistische wie V. S. Naipauls "Indien - Eine verwundete Kultur". Außerdem eines, dessen Titel fast identisch mit dem von Rushdies Roman ist: "City of Victory". Gemeint ist Vijayanagara, ein hinduistisches Königreich in Südindien mit gleichnamiger Hauptstadt, das bis zur Schlacht von Talikota im Jahr 1565 Bestand hatte. In dieser wurde es von den islamischen Dekkan-Sultanaten vernichtend geschlagen.
In das historische Setting pflanzt Rushdie eine Erzählung, die wie ein Märchen beginnt und sich bald zur Parodie eines großen Epos auswächst. Zwischen einige historische Figuren setzt er eine erfundene Über-Frau mit dem überkandidelten Namen Pampa Kampana, die, so erfahren wir gleich zu Beginn, 247 Jahre alt geworden sein soll und als "Wundertätige", "Prophetin" und mehrfache Königin beschrieben wird. Auf deren vor fast fünfhundert Jahren in einem Tonkrug versiegeltem, jüngst erst wieder ausgegrabenem "gewaltigen Prosagedicht" über den Aufstieg und Fall ihres südindischen Reiches beruhe der vorliegende Roman - dieser sei allerdings "in schlichter Sprache nacherzählt von einem Autor, der weder Gelehrter ist noch Poet, nur jemand, der gern Fäden spinnt und diese Version zur schlichten Unterhaltung und vielleicht auch zur Erbauung heutiger Leser darbietet".
Das ist natürlich maßlos untertrieben, denn Rushdies Erzähler wird, wie man es von seinen Erzählern gewohnt ist, überaus gelehrt und sehr poetisch zu uns sprechen auf den folgenden vierhundert Seiten - und zwar in der Manier der maßlosen Übertreibung. Bei diesem Gegenteil von ökonomischem Erzählen wird nichts weggelassen, sondern alles maximal ausgeschmückt. Rushdie hat es von seinem Frühwerk an über das Meisterstück der "Satanischen Verse" bis zum Meta-Roman "Quichotte" gepflegt, und auch hier treibt er es sofort wieder auf die Spitze. Wenn sein epischer Erzähler etwa eine Nebenfigur abkanzeln will, genügt es ihm nicht, sie kurz als "zweitklassigen König" zu beschreiben. Sondern sie erhält die folgende Satzkaskade: "Diesem zweitklassigen raja blieb auf seinem drittklassigen Thron gerade mal genügend Zeit, eine viertklassige Burg an den Ufern des Flusses Pampa zu bauen, darin einen fünftklassigen Tempel zu errichten und in den Fels eines steinigen Bergs einige vollmundige Inschriften meißeln zu lassen" - und damit ist der Satz noch immer nicht am Ende.
Man kann dies, statt es zu kritisieren, freilich leicht rechtfertigen, hat es doch seine Funktion in Rushdies postmoderner Ästhetik, in der alles, wirklich alles der Parodie dient. Männer und Frauen, Herrscher und Sklaven, Kultur und Krieg, geschichtlicher Fort- und Rückschritt, sämtliche Religionen und Kulte und nicht zuletzt die historischen Textformen, die all dies beschreiben, werden diesem Autor Zielscheibe des Spottes, der Ironie, der grotesken Verzerrung.
In der milden Variante bezieht sich der Spott etwa auf die teils historischen, teils fiktiven Quellen der Erzählung. Erwähnt wird etwa der Bericht eines portugiesischen Reisenden über das Reich Vijayanagara, der im Roman Domingo Nunes heißt. Er weist Parallelen zu Berichten von Domingo Paes und Fernão Nunes aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert auf, die das unter Rushdies Quellen ebenfalls aufgeführte Werk "A Forgotten Empire" eines britischen Kolonialbeamten namens Robert Sewell maßgeblich stützen. Rushdies Erzähler indes spottet über Nunes: "Er fand es interessant, Banalitäten zu vermerken, die regionalen Produkte zu benennen und das Vieh zu beziffern . . ., als wäre er ein Bauer, dabei hatte er nie auch nur einen einzigen Tag auf einem Bauernhof gearbeitet." Mit einer Spitze gegen den Kolonialismus und seine Literatur heißt es ferner, Nunes beschreibe eine Vielzahl von Themen, für die sich die Ortsansässigen nicht interessierten, da sie ihnen längst bekannt waren.
Aber bei mildem Spott bleibt es nicht. Denn das höchste Ziel von Rushdies Parodie scheint es zu sein, die Drastik, den Horror historischer Epen, den wir aus Antike und Mittelalter kennen, noch zu übertreffen. Das zeigt sich an Formulierungen wie der einer "unbedeutenden Schlacht" oder der Erwähnung abgeschlagener Köpfe als Alltäglichkeit, vor allem aber an der Traumatisierung der Hauptfigur im Kindesalter: Da erlebt sie, wie die Frauen ihres "winzigen besiegten Königreichs" Massenselbstmord in den Flammen begehen, "feierlich und klaglos". Von nun an wird sie "mit aller Kraft dafür sorgen, dass Frauen sich nie wieder auf diese Weise verbrennen und dass Männer lernen, Frauen mit neuem Blick zu sehen".
Was Rushdie dann entwickelt, könnte ein feministischer Ritterroman werden, die Utopie eines moderneren und toleranteren Indiens, als es je existierte. In Kampanas Reich herrscht bald sexuelle Freiheit, sogar die Idee des Pazifismus keimt auf, kolonialistische Affen werden vertrieben, eine Dynastie "magischer Mädchen" scheint zu entstehen, und eine chinesische Superheldin verfeinert die Kampfkünste der Frauen, auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt und fanatische Sekten und Sultane wieder die Oberhand gewinnen. Auch die Sprache gerät dabei wild durcheinander, neben Kronprinzen und falschen Krishnas sieht man "Möchtegern-Revoluzzer" und einen totalitären "Senat Göttlicher Überlegenheit". Es ist Bernhard Robben zu verdanken, den Roman wirklich übertragen zu haben in ein lesbares Deutsch, was bei den letzten Büchern Rushdies nicht immer der Fall war.
Das bittere Ende steht leider früh fest, der Kursus der Pampa Kampana wird schon durch die vier Teile des Buches klar vorgezeichnet: "Geburt - Exil - Ruhm - Untergang". Noch kurz vor Schluss scheint zwar parabelhaft die Möglichkeit auf, dass "Liebe über Hass triumphiert" und die Vernunft siegt, doch die weise Frau weiß schon, dass die Katastrophe naht, und zwar, weil ein Mann "seinem Wesen gemäß handeln" wird. Der Seherin werden am Ende die Augen ausgebrannt: Eine furchtbare Parallele entsteht da zum Schicksal des Autors Rushdie, der bei dem Attentat im vergangenen Jahr, das er nur knapp überlebte, ein Auge verlor (zuletzt F.A.Z. vom 11. Februar). Aber der Roman war schon vor dem Attentat fertig, und seine ihm überdeutlich eingeschriebene Pointe war auch vorher nicht überraschend angesichts eines Autors, der seit 1989, seit der von Fanatikern gegen ihn verhängten Todes-Fatwa, trotzig die Freiheit des Wortes und der Kunst verteidigt.
Diese Pointe lautet, dass von den schlimmsten Gewaltherrschern am Ende nur Erzählungen bleiben, und die könnten immer neu gestaltet werden: "Worte sind die einzigen Sieger." Klingt romantisch, setzt allerdings voraus, dass die Unterdrückten ihre Worte denn hörbar machen können. Als prominente Stimme spricht Rushdie für viele Unbekannte mit, und die Hoffnung auf Heilung der "verwundeten Zivilisation" (Naipaul) reicht weit über Indien und den Roman hinaus. Dass er nach so viel Zynismus mit Pathos endet, wirkt fast wie eine Erlösung. JAN WIELE
Salman Rushdie:
"Victory City". Roman.
Aus dem Englischen
von Bernhard Robben.
Penguin Verlag, München 2023. 414 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was bleibt, stiften die Dichter, nicht die Gewaltherrscher: Salman Rushdies Roman "Victory City" auf Deutsch
Am besten, man fängt von hinten an: Auf den letzten Seiten seines neuen Romans "Victory City" versammelt Salman Rushdie einige Quellen, die ihn zu diesem inspiriert haben. Es sind mehrere wissenschaftliche Bücher zur Geschichte Indiens darunter, aber auch essayistische wie V. S. Naipauls "Indien - Eine verwundete Kultur". Außerdem eines, dessen Titel fast identisch mit dem von Rushdies Roman ist: "City of Victory". Gemeint ist Vijayanagara, ein hinduistisches Königreich in Südindien mit gleichnamiger Hauptstadt, das bis zur Schlacht von Talikota im Jahr 1565 Bestand hatte. In dieser wurde es von den islamischen Dekkan-Sultanaten vernichtend geschlagen.
In das historische Setting pflanzt Rushdie eine Erzählung, die wie ein Märchen beginnt und sich bald zur Parodie eines großen Epos auswächst. Zwischen einige historische Figuren setzt er eine erfundene Über-Frau mit dem überkandidelten Namen Pampa Kampana, die, so erfahren wir gleich zu Beginn, 247 Jahre alt geworden sein soll und als "Wundertätige", "Prophetin" und mehrfache Königin beschrieben wird. Auf deren vor fast fünfhundert Jahren in einem Tonkrug versiegeltem, jüngst erst wieder ausgegrabenem "gewaltigen Prosagedicht" über den Aufstieg und Fall ihres südindischen Reiches beruhe der vorliegende Roman - dieser sei allerdings "in schlichter Sprache nacherzählt von einem Autor, der weder Gelehrter ist noch Poet, nur jemand, der gern Fäden spinnt und diese Version zur schlichten Unterhaltung und vielleicht auch zur Erbauung heutiger Leser darbietet".
Das ist natürlich maßlos untertrieben, denn Rushdies Erzähler wird, wie man es von seinen Erzählern gewohnt ist, überaus gelehrt und sehr poetisch zu uns sprechen auf den folgenden vierhundert Seiten - und zwar in der Manier der maßlosen Übertreibung. Bei diesem Gegenteil von ökonomischem Erzählen wird nichts weggelassen, sondern alles maximal ausgeschmückt. Rushdie hat es von seinem Frühwerk an über das Meisterstück der "Satanischen Verse" bis zum Meta-Roman "Quichotte" gepflegt, und auch hier treibt er es sofort wieder auf die Spitze. Wenn sein epischer Erzähler etwa eine Nebenfigur abkanzeln will, genügt es ihm nicht, sie kurz als "zweitklassigen König" zu beschreiben. Sondern sie erhält die folgende Satzkaskade: "Diesem zweitklassigen raja blieb auf seinem drittklassigen Thron gerade mal genügend Zeit, eine viertklassige Burg an den Ufern des Flusses Pampa zu bauen, darin einen fünftklassigen Tempel zu errichten und in den Fels eines steinigen Bergs einige vollmundige Inschriften meißeln zu lassen" - und damit ist der Satz noch immer nicht am Ende.
Man kann dies, statt es zu kritisieren, freilich leicht rechtfertigen, hat es doch seine Funktion in Rushdies postmoderner Ästhetik, in der alles, wirklich alles der Parodie dient. Männer und Frauen, Herrscher und Sklaven, Kultur und Krieg, geschichtlicher Fort- und Rückschritt, sämtliche Religionen und Kulte und nicht zuletzt die historischen Textformen, die all dies beschreiben, werden diesem Autor Zielscheibe des Spottes, der Ironie, der grotesken Verzerrung.
In der milden Variante bezieht sich der Spott etwa auf die teils historischen, teils fiktiven Quellen der Erzählung. Erwähnt wird etwa der Bericht eines portugiesischen Reisenden über das Reich Vijayanagara, der im Roman Domingo Nunes heißt. Er weist Parallelen zu Berichten von Domingo Paes und Fernão Nunes aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert auf, die das unter Rushdies Quellen ebenfalls aufgeführte Werk "A Forgotten Empire" eines britischen Kolonialbeamten namens Robert Sewell maßgeblich stützen. Rushdies Erzähler indes spottet über Nunes: "Er fand es interessant, Banalitäten zu vermerken, die regionalen Produkte zu benennen und das Vieh zu beziffern . . ., als wäre er ein Bauer, dabei hatte er nie auch nur einen einzigen Tag auf einem Bauernhof gearbeitet." Mit einer Spitze gegen den Kolonialismus und seine Literatur heißt es ferner, Nunes beschreibe eine Vielzahl von Themen, für die sich die Ortsansässigen nicht interessierten, da sie ihnen längst bekannt waren.
Aber bei mildem Spott bleibt es nicht. Denn das höchste Ziel von Rushdies Parodie scheint es zu sein, die Drastik, den Horror historischer Epen, den wir aus Antike und Mittelalter kennen, noch zu übertreffen. Das zeigt sich an Formulierungen wie der einer "unbedeutenden Schlacht" oder der Erwähnung abgeschlagener Köpfe als Alltäglichkeit, vor allem aber an der Traumatisierung der Hauptfigur im Kindesalter: Da erlebt sie, wie die Frauen ihres "winzigen besiegten Königreichs" Massenselbstmord in den Flammen begehen, "feierlich und klaglos". Von nun an wird sie "mit aller Kraft dafür sorgen, dass Frauen sich nie wieder auf diese Weise verbrennen und dass Männer lernen, Frauen mit neuem Blick zu sehen".
Was Rushdie dann entwickelt, könnte ein feministischer Ritterroman werden, die Utopie eines moderneren und toleranteren Indiens, als es je existierte. In Kampanas Reich herrscht bald sexuelle Freiheit, sogar die Idee des Pazifismus keimt auf, kolonialistische Affen werden vertrieben, eine Dynastie "magischer Mädchen" scheint zu entstehen, und eine chinesische Superheldin verfeinert die Kampfkünste der Frauen, auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt und fanatische Sekten und Sultane wieder die Oberhand gewinnen. Auch die Sprache gerät dabei wild durcheinander, neben Kronprinzen und falschen Krishnas sieht man "Möchtegern-Revoluzzer" und einen totalitären "Senat Göttlicher Überlegenheit". Es ist Bernhard Robben zu verdanken, den Roman wirklich übertragen zu haben in ein lesbares Deutsch, was bei den letzten Büchern Rushdies nicht immer der Fall war.
Das bittere Ende steht leider früh fest, der Kursus der Pampa Kampana wird schon durch die vier Teile des Buches klar vorgezeichnet: "Geburt - Exil - Ruhm - Untergang". Noch kurz vor Schluss scheint zwar parabelhaft die Möglichkeit auf, dass "Liebe über Hass triumphiert" und die Vernunft siegt, doch die weise Frau weiß schon, dass die Katastrophe naht, und zwar, weil ein Mann "seinem Wesen gemäß handeln" wird. Der Seherin werden am Ende die Augen ausgebrannt: Eine furchtbare Parallele entsteht da zum Schicksal des Autors Rushdie, der bei dem Attentat im vergangenen Jahr, das er nur knapp überlebte, ein Auge verlor (zuletzt F.A.Z. vom 11. Februar). Aber der Roman war schon vor dem Attentat fertig, und seine ihm überdeutlich eingeschriebene Pointe war auch vorher nicht überraschend angesichts eines Autors, der seit 1989, seit der von Fanatikern gegen ihn verhängten Todes-Fatwa, trotzig die Freiheit des Wortes und der Kunst verteidigt.
Diese Pointe lautet, dass von den schlimmsten Gewaltherrschern am Ende nur Erzählungen bleiben, und die könnten immer neu gestaltet werden: "Worte sind die einzigen Sieger." Klingt romantisch, setzt allerdings voraus, dass die Unterdrückten ihre Worte denn hörbar machen können. Als prominente Stimme spricht Rushdie für viele Unbekannte mit, und die Hoffnung auf Heilung der "verwundeten Zivilisation" (Naipaul) reicht weit über Indien und den Roman hinaus. Dass er nach so viel Zynismus mit Pathos endet, wirkt fast wie eine Erlösung. JAN WIELE
Salman Rushdie:
"Victory City". Roman.
Aus dem Englischen
von Bernhard Robben.
Penguin Verlag, München 2023. 414 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Angesichts der Messerattacke auf Salman Rushdie liest Rezensent Hernán Caro dessen neuen Roman auch als eine Kampfansage: gegen die Gewalt und für die Worte. Das Buch widmet sich zwei Erzählsträngen, erklärt er, auf der einen Seite steht die Entwicklung des historischen Königreichs Bisnaga im Vordergrund, auf der anderen die Geschichte einer göttlich gesegneten Frau names Pampa Kampana. Beide Geschichten werden miteinander verwoben und bewegen sich zwischen Höhenflug und Tragödie hin und her, so der Kritiker. Caro erzählt einen großen Teil der Handlung nach, um zu verdeutlichen, wie intensiv, verspielt und fantasievoll sich Rushdies Erzählkunst hier zeigt, die aber manchmal auch zu sehr auf den Effekt hin geschrieben zu sein scheint. Ein wenig sauer stößt ihm auch das Diktum auf, der Autor habe eine "weibliche Perspektive" einnehmen wollen, werden genau jene doch eher anhand äußerlicher Attribute bemessen. Die intellektuelle und magische Kraft von Pampa Kampana und den Worten, mit denen sie den Bewohnern des Königreichs Leben einhaucht, können den Kritiker aber doch überzeugen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.04.2023Wir überleben
durch Geschichten
Salman Rushdies neuer Roman „Victory City“
ist von einem Hindu-Reich inspiriert, erzählt
aber virtuos von heute: Warum läuft es schief?
VON NILS MINKMAR
Salman Rushdie ist der berühmteste lebende Schriftsteller, aber dieser Ruhm entstand nicht aus seinen Romanen allein. Er selbst war zwar immer der Meinung, dass sein Werk wichtiger sei als seine Biografie, aber, stellte er vor einiger Zeit in einem Gespräch mit David Remnick vom New Yorker fest, die Welt sieht das offenbar anders.
Mit dem Attentat vom vergangenen Sommer, als ein Mann Rushdie mit vielen Messerstichen lebensgefährlich verletzte, veränderte sich auch die Sorge um ihn und gewann eine neue Qualität: Nun ist nicht mehr allein sein symbolischer Status als weltweiter Champion der Kunstfreiheit von Interesse, sondern ganz konkret sein körperliches Befinden: Kann er mit dem verbliebenen Auge noch genug lesen? Kann er die Hände zum Tippen benutzen? Kann er schreiben?
Man hatte bis zu diesem Datum fast schon vergessen, dass Rushdie noch bedroht ist. Das von der iranischen Führung am Valentinstag 1989 verkündete Todesurteil wegen Prophetenbeleidigung wurde schon vor langer Zeit auf diplomatischem Wege von der staatlichen Agenda der iranischen Republik entfernt. Rushdie lebte schon seit Jahren ohne permanenten Personenschutz in New York. Es war seitdem bei jedem neuen Buch, bei jedem neuen Auftritt von ihm wie ein großer Sieg der Freiheit über den Islamismus und die Tyrannei. Irgendwann aber hatte man sich daran gewöhnt. Der tägliche Sieg war einfach der Normalzustand, als würde die Geschichte ein Einsehen haben und sich auf einer vernünftigen Reiseflughöhe einrichten. Als würden die Feinde der Freiheit irgendwann aufgeben.
Noch ist wenig bekannt über die genauen Motive, die Netzwerke oder Ansichten des seinerzeit 24-jährigen Attentäters, aber das wird sich ändern, wenn der Prozess gegen ihn im Laufe des Jahres eröffnet wird. Da er für seine Tat eine ausverkaufte Lesung im Kulturzentrum Chautauqua wählte, gelegen im östlichsten Zipfel des Bundestaats New York, gibt es Hunderte von Belastungszeugen. Der Mordversuch auf offener Bühne wäre beinahe gelungen, hätte nicht Rushdies Freund Henry Reese, der mit ihm auf der Bühne stand und ihm Fragen stellen sollte, den Attentäter an den Beinen von seinem Opfer weggezogen. Er wurde dabei selbst schwer verletzt. Es war knapp. Der Frieden hatte lange gedauert, das Attentat war blitzschnell und ließ die Sorglosigkeit des späten Vormittags wie Naivität erscheinen. Zumal das Thema der Veranstaltung die Rolle der USA als sicherer Zufluchtsort für verfolgte Schriftsteller sein sollte. Rushdie-Leserinnen und Leser wissen: So eine idyllische Kombination ist wie geschaffen dafür, Dämonen aller Art anzuziehen.
Der Roman „Victory City“, der nun in einer deutschen Übersetzung von Bernhard Robben erscheint, war da schon vollendet. Er liest sich wie eine Studie zu den mit der Tat, mit unserer Gegenwart verbundenen moralischen Fragen. Rushdie nimmt sich in diesem Buch der sagenhaften Stadt Hampi an, die früher Vijayanagara hieß und von 1343 bis 1565 als Hauptstadt des gleichnamigen untergegangenen Hindu-Reiches fungierte. Man muss aber keinerlei Vorkenntnisse in indischer Geschichte haben, um in diesen Roman einzusteigen. Es ist vielmehr so, dass sich der Autor diesen Stoff angeschaut hat und dann etwas völlig Eigenes draus macht, wie zuvor schon aus der Geschichte der Araber in Andalusien den Roman „Des Mauren letzter Seufzer“, aus Cervantes’ „Don Quijote“ seinen „Quichotte“, aus der Geschichte des Elsass und von Kaschmir „Shalimar der Narr“ und natürlich aus den Versen, die der Prophet Mohammed, vom bösen Geist verführt, auf drei Göttinnen dichtete, „Die satanischen Verse“. Rushdie streift durch Bibliotheken und Archive wie Karl Lagerfeld oder Vivienne Westwood durch Sammlungen historischer Kostüme und Stoffmusterproben – neugierig, respektvoll, aber auch ziemlich frech.
In dem neuen, von der Geschichte des untergegangenen Hindu-Reichs inspirierten Roman ist es ein weibliches Wesen, das Leserinnen und Leser durch die Jahrhunderte führt: das von der Göttin Pampa beseelte Waisenmädchen Pampa Kampana. Rushdie liebt bekanntlich klingende Namen und diese Kombi aus dem Kindervokal Nummer Eins, dem ersten Buchstaben des Alphabets, und ebenfalls populären Kinderkonsonanten macht ihn schier verrückt. Der Name steht da unzählige Male und ist weniger die Bezeichnung einer Figur als das Mantra des Buchs.
Pampa Kampana hat es, man kann es nicht anders sagen, in sich und irgendwann ist man schon früh darüber, dass sie nicht auch noch dem Text entsteigt und, während man das Buch noch friedlich in Händen hält, das eigene Leben auf den Kopf stellt. Die ganze Sache beginnt damit, dass die göttlich beseelte Frau sich zwei Brüder aussucht, die zu Herrschern einer neuen Stadt werden sollen. Die muss aber nicht erst umständlich gebaut werden, sondern wächst nach Aussaat magischer Samen aus dem Boden des indischen Subkontinents. Dem lesenden Publikum ist solches Instant-Wachstum aus dem Asterix-Klassiker „Die Trabantenstadt“ bekannt, da konnten unsere tapferen Gallier per in Sekundenschnelle wachsender Eichen die durch römische Bauarbeiten entstandenen Forstschäden ausgleichen. Rushdie weitet das Prinzip aus, bei ihm und Pampa Kampana sind es auch die Menschen, die aus dem Boden wachsen. Zunächst ist aber nicht viel los mit ihnen: Sie sind nicht stubenrein, schlurfen ziellos durch die Gassen und checken nichts. Nun kommt die eigentliche Zauberkraft der von ihrem Autor vergötterten Frau zur Geltung: Sie vermag es, Menschen eine Geschichte einzuflüstern, die sie fortan für die ihre, für die Wahrheit halten. Von hier aus entwickeln sich Aufstieg und Fall der Stadt Bisnaga, der dort residierenden Könige und der angrenzenden Reiche.
Eine genauere Wiedergabe des folgenden Inhalts von „Victory City“ ist möglich, aber witzlos. Man stelle sich eine Schar hochbegabter zwölfjähriger Kinder vor, die einen Tag und eine Nacht lang Filme zur indischen Geschichte der frühen Neuzeit schauen dürfen, dabei fortwährend Cola trinken, und dann nimmt man auf, wie sie das Ganze wiedergeben – das ist ungefähr die literarische Energie, mit der man es hier zu tun hat. Man lernt sehr viel, staunt und lacht, aber dann und wann braucht man auch wieder eine Pause. Allein, um zu notieren, mit welchen Formulierungen Rushdie hier seine Virtuosität demonstriert: Eine Figur kehrt nicht ratlos aus einer verlorenen Schlacht zurück, sondern wird „von einem ganzen Schwarm Fragezeichen“ umflattert.
Das der ganzen Sache zugrundeliegende Thema ist dabei ganz einfach: Alles begann so verheißungsvoll in der schönen Stadt Bisnaga, alle Ressourcen standen bereit, und alle wollten nur das Beste – warum ging es schief? Warum kann die Freude an der Freiheit, an Schönheit und Sex, die von Pampa Kampana propagiert wird, nicht ewig dauern? Was ist so anziehend an religiösen Dogmen, an der Trennung von Männern und Frauen und der strengen Ordnung, die die Tyrannei anzubieten hat?
In „Victory City“ erörtert Salman Rushdie kein entlegenes Kapitel aus dem Leben einer heutigen Touristenattraktion, sondern die Geschichte unserer Gegenwart seit dem Fall der Mauer. Mit der Überwindung des Kalten Krieges und dem Ende des Warschauer Pakts begann ein neues Kapitel der Weltgeschichte. Für Rushdie allerdings kündigte sich die Ära der Globalisierung mit einer Fatwa aus Teheran an, die weltweite Freiheit war bedroht, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Durch welche familiären Rivalitäten, welche Eifersucht und Engstirnigkeit wurde der Zauber des Anfangs vertrieben? Am treffendsten ist die Analogie der Geschichte des versunkenen Reiches von Vijayanagara zu Rushdies Wahlheimat, den Vereinigten Staaten seit Beginn des globalen Zeitalters und der Digitalisierung: Wachsender Reichtum, enorme Freiheit, aber die Lage spitzt sich auch zu. Aber auch die Entwicklung der europäischen Union, der Überfall Russlands auf die Ukraine und das Verhältnis zu China könnten Stoff sein für solche Geschichten über entsetzliche Abwärtsbewegungen nach hoffnungsvollem Beginn. Niederlagen sind eine Prüfung des menschlichen Charakters, lernen wir in „Victory City“, aber glänzende Siege eben auch.
Das Heil findet sich jenseits der Dialektik der Geschichte allein in einer dritten, übergeordneten Position, jener des Erzählers. Denn eine Geschichte geht immer weiter, auch wenn ihre Figuren wechseln. In diesem Roman gewöhnt man sich an ein Auf und Ab der Erzählung, als wäre es eine ewige literarische Achterbahnfahrt, aber der daraus resultierende Schwindel macht den Kopf frei und klar. Rushdie begründet in diesem Buch die Weltmacht der Literatur. Alle sind hilflos ohne Geschichten. Darum ist die Kultur kein Subsystem wie Wirtschaft, Verwaltung oder Politik, sondern die Macht, die allem Sinn verleiht. Pampa Kampana – Rushdie hat sie nicht unsterblich, aber doch extrem langlebig, dabei jahrhundertelang superschön und sexy ersonnen – dichtet die Moral der Geschichte: „Worte sind die einzigen Sieger.“
Es liest sich, als habe Salman Rushdie vorbeugen wollen.
Durch die Erzählung führt das
von einer Göttin beseelte
Waisenmädchen Pampa Kampana
Rushdie begründet
in diesem Buch die
Weltmacht der Literatur
Salman Rushdie:
Victory City. Roman.
Penguin Verlag, München 2023. 416 Seiten, 26 Euro.
Salman Rushdie im März dieses Jahres in New York. Nach einer Messerattacke im August 2022 ist er auf einem Auge erblindet. Foto: Patrick McMullan/Getty Image
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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durch Geschichten
Salman Rushdies neuer Roman „Victory City“
ist von einem Hindu-Reich inspiriert, erzählt
aber virtuos von heute: Warum läuft es schief?
VON NILS MINKMAR
Salman Rushdie ist der berühmteste lebende Schriftsteller, aber dieser Ruhm entstand nicht aus seinen Romanen allein. Er selbst war zwar immer der Meinung, dass sein Werk wichtiger sei als seine Biografie, aber, stellte er vor einiger Zeit in einem Gespräch mit David Remnick vom New Yorker fest, die Welt sieht das offenbar anders.
Mit dem Attentat vom vergangenen Sommer, als ein Mann Rushdie mit vielen Messerstichen lebensgefährlich verletzte, veränderte sich auch die Sorge um ihn und gewann eine neue Qualität: Nun ist nicht mehr allein sein symbolischer Status als weltweiter Champion der Kunstfreiheit von Interesse, sondern ganz konkret sein körperliches Befinden: Kann er mit dem verbliebenen Auge noch genug lesen? Kann er die Hände zum Tippen benutzen? Kann er schreiben?
Man hatte bis zu diesem Datum fast schon vergessen, dass Rushdie noch bedroht ist. Das von der iranischen Führung am Valentinstag 1989 verkündete Todesurteil wegen Prophetenbeleidigung wurde schon vor langer Zeit auf diplomatischem Wege von der staatlichen Agenda der iranischen Republik entfernt. Rushdie lebte schon seit Jahren ohne permanenten Personenschutz in New York. Es war seitdem bei jedem neuen Buch, bei jedem neuen Auftritt von ihm wie ein großer Sieg der Freiheit über den Islamismus und die Tyrannei. Irgendwann aber hatte man sich daran gewöhnt. Der tägliche Sieg war einfach der Normalzustand, als würde die Geschichte ein Einsehen haben und sich auf einer vernünftigen Reiseflughöhe einrichten. Als würden die Feinde der Freiheit irgendwann aufgeben.
Noch ist wenig bekannt über die genauen Motive, die Netzwerke oder Ansichten des seinerzeit 24-jährigen Attentäters, aber das wird sich ändern, wenn der Prozess gegen ihn im Laufe des Jahres eröffnet wird. Da er für seine Tat eine ausverkaufte Lesung im Kulturzentrum Chautauqua wählte, gelegen im östlichsten Zipfel des Bundestaats New York, gibt es Hunderte von Belastungszeugen. Der Mordversuch auf offener Bühne wäre beinahe gelungen, hätte nicht Rushdies Freund Henry Reese, der mit ihm auf der Bühne stand und ihm Fragen stellen sollte, den Attentäter an den Beinen von seinem Opfer weggezogen. Er wurde dabei selbst schwer verletzt. Es war knapp. Der Frieden hatte lange gedauert, das Attentat war blitzschnell und ließ die Sorglosigkeit des späten Vormittags wie Naivität erscheinen. Zumal das Thema der Veranstaltung die Rolle der USA als sicherer Zufluchtsort für verfolgte Schriftsteller sein sollte. Rushdie-Leserinnen und Leser wissen: So eine idyllische Kombination ist wie geschaffen dafür, Dämonen aller Art anzuziehen.
Der Roman „Victory City“, der nun in einer deutschen Übersetzung von Bernhard Robben erscheint, war da schon vollendet. Er liest sich wie eine Studie zu den mit der Tat, mit unserer Gegenwart verbundenen moralischen Fragen. Rushdie nimmt sich in diesem Buch der sagenhaften Stadt Hampi an, die früher Vijayanagara hieß und von 1343 bis 1565 als Hauptstadt des gleichnamigen untergegangenen Hindu-Reiches fungierte. Man muss aber keinerlei Vorkenntnisse in indischer Geschichte haben, um in diesen Roman einzusteigen. Es ist vielmehr so, dass sich der Autor diesen Stoff angeschaut hat und dann etwas völlig Eigenes draus macht, wie zuvor schon aus der Geschichte der Araber in Andalusien den Roman „Des Mauren letzter Seufzer“, aus Cervantes’ „Don Quijote“ seinen „Quichotte“, aus der Geschichte des Elsass und von Kaschmir „Shalimar der Narr“ und natürlich aus den Versen, die der Prophet Mohammed, vom bösen Geist verführt, auf drei Göttinnen dichtete, „Die satanischen Verse“. Rushdie streift durch Bibliotheken und Archive wie Karl Lagerfeld oder Vivienne Westwood durch Sammlungen historischer Kostüme und Stoffmusterproben – neugierig, respektvoll, aber auch ziemlich frech.
In dem neuen, von der Geschichte des untergegangenen Hindu-Reichs inspirierten Roman ist es ein weibliches Wesen, das Leserinnen und Leser durch die Jahrhunderte führt: das von der Göttin Pampa beseelte Waisenmädchen Pampa Kampana. Rushdie liebt bekanntlich klingende Namen und diese Kombi aus dem Kindervokal Nummer Eins, dem ersten Buchstaben des Alphabets, und ebenfalls populären Kinderkonsonanten macht ihn schier verrückt. Der Name steht da unzählige Male und ist weniger die Bezeichnung einer Figur als das Mantra des Buchs.
Pampa Kampana hat es, man kann es nicht anders sagen, in sich und irgendwann ist man schon früh darüber, dass sie nicht auch noch dem Text entsteigt und, während man das Buch noch friedlich in Händen hält, das eigene Leben auf den Kopf stellt. Die ganze Sache beginnt damit, dass die göttlich beseelte Frau sich zwei Brüder aussucht, die zu Herrschern einer neuen Stadt werden sollen. Die muss aber nicht erst umständlich gebaut werden, sondern wächst nach Aussaat magischer Samen aus dem Boden des indischen Subkontinents. Dem lesenden Publikum ist solches Instant-Wachstum aus dem Asterix-Klassiker „Die Trabantenstadt“ bekannt, da konnten unsere tapferen Gallier per in Sekundenschnelle wachsender Eichen die durch römische Bauarbeiten entstandenen Forstschäden ausgleichen. Rushdie weitet das Prinzip aus, bei ihm und Pampa Kampana sind es auch die Menschen, die aus dem Boden wachsen. Zunächst ist aber nicht viel los mit ihnen: Sie sind nicht stubenrein, schlurfen ziellos durch die Gassen und checken nichts. Nun kommt die eigentliche Zauberkraft der von ihrem Autor vergötterten Frau zur Geltung: Sie vermag es, Menschen eine Geschichte einzuflüstern, die sie fortan für die ihre, für die Wahrheit halten. Von hier aus entwickeln sich Aufstieg und Fall der Stadt Bisnaga, der dort residierenden Könige und der angrenzenden Reiche.
Eine genauere Wiedergabe des folgenden Inhalts von „Victory City“ ist möglich, aber witzlos. Man stelle sich eine Schar hochbegabter zwölfjähriger Kinder vor, die einen Tag und eine Nacht lang Filme zur indischen Geschichte der frühen Neuzeit schauen dürfen, dabei fortwährend Cola trinken, und dann nimmt man auf, wie sie das Ganze wiedergeben – das ist ungefähr die literarische Energie, mit der man es hier zu tun hat. Man lernt sehr viel, staunt und lacht, aber dann und wann braucht man auch wieder eine Pause. Allein, um zu notieren, mit welchen Formulierungen Rushdie hier seine Virtuosität demonstriert: Eine Figur kehrt nicht ratlos aus einer verlorenen Schlacht zurück, sondern wird „von einem ganzen Schwarm Fragezeichen“ umflattert.
Das der ganzen Sache zugrundeliegende Thema ist dabei ganz einfach: Alles begann so verheißungsvoll in der schönen Stadt Bisnaga, alle Ressourcen standen bereit, und alle wollten nur das Beste – warum ging es schief? Warum kann die Freude an der Freiheit, an Schönheit und Sex, die von Pampa Kampana propagiert wird, nicht ewig dauern? Was ist so anziehend an religiösen Dogmen, an der Trennung von Männern und Frauen und der strengen Ordnung, die die Tyrannei anzubieten hat?
In „Victory City“ erörtert Salman Rushdie kein entlegenes Kapitel aus dem Leben einer heutigen Touristenattraktion, sondern die Geschichte unserer Gegenwart seit dem Fall der Mauer. Mit der Überwindung des Kalten Krieges und dem Ende des Warschauer Pakts begann ein neues Kapitel der Weltgeschichte. Für Rushdie allerdings kündigte sich die Ära der Globalisierung mit einer Fatwa aus Teheran an, die weltweite Freiheit war bedroht, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Durch welche familiären Rivalitäten, welche Eifersucht und Engstirnigkeit wurde der Zauber des Anfangs vertrieben? Am treffendsten ist die Analogie der Geschichte des versunkenen Reiches von Vijayanagara zu Rushdies Wahlheimat, den Vereinigten Staaten seit Beginn des globalen Zeitalters und der Digitalisierung: Wachsender Reichtum, enorme Freiheit, aber die Lage spitzt sich auch zu. Aber auch die Entwicklung der europäischen Union, der Überfall Russlands auf die Ukraine und das Verhältnis zu China könnten Stoff sein für solche Geschichten über entsetzliche Abwärtsbewegungen nach hoffnungsvollem Beginn. Niederlagen sind eine Prüfung des menschlichen Charakters, lernen wir in „Victory City“, aber glänzende Siege eben auch.
Das Heil findet sich jenseits der Dialektik der Geschichte allein in einer dritten, übergeordneten Position, jener des Erzählers. Denn eine Geschichte geht immer weiter, auch wenn ihre Figuren wechseln. In diesem Roman gewöhnt man sich an ein Auf und Ab der Erzählung, als wäre es eine ewige literarische Achterbahnfahrt, aber der daraus resultierende Schwindel macht den Kopf frei und klar. Rushdie begründet in diesem Buch die Weltmacht der Literatur. Alle sind hilflos ohne Geschichten. Darum ist die Kultur kein Subsystem wie Wirtschaft, Verwaltung oder Politik, sondern die Macht, die allem Sinn verleiht. Pampa Kampana – Rushdie hat sie nicht unsterblich, aber doch extrem langlebig, dabei jahrhundertelang superschön und sexy ersonnen – dichtet die Moral der Geschichte: „Worte sind die einzigen Sieger.“
Es liest sich, als habe Salman Rushdie vorbeugen wollen.
Durch die Erzählung führt das
von einer Göttin beseelte
Waisenmädchen Pampa Kampana
Rushdie begründet
in diesem Buch die
Weltmacht der Literatur
Salman Rushdie:
Victory City. Roman.
Penguin Verlag, München 2023. 416 Seiten, 26 Euro.
Salman Rushdie im März dieses Jahres in New York. Nach einer Messerattacke im August 2022 ist er auf einem Auge erblindet. Foto: Patrick McMullan/Getty Image
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»Eine zum Nägelkauen spannende, an exotischer Buntheit unüberbietbare Geschichte. Eine Parabel über Macht und Machtmissbrauch und eine Erzählung von Liebe und Tod.« Denis Scheck in ARD »druckfrisch«