Viegelchen will vor allem eins - frei sein. Doch das ist gar nicht so leicht, denn niemand will Viegelchen so akzeptieren wie es ist - halb Vogel, halb Kind. Auch Warre und Tine staunen nicht schlecht, als sie Viegelchen entdecken. Das gibt es doch gar nicht, ein Mädchen, das sowohl Flügel als auch menschliche Beine hat. Schnell näht Tine einen kleinen blauen Mantel, um Viegelchens Flügel vor anderen zu verbergen. Doch Viegelchen will sich nicht anpassen und fliegt fort. Ein fantasievolles und witziges Buch über die Freiheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999Ich micht Bitterbrit mit Mirmelide
"Viegelchen": Ein Roman vom Fliegen und Fliegen lassen
Wie schön ist es doch, wenn man sich um jemanden kümmern kann. Und wenn dieser Jemand auch noch klein und geheimnisvoll ist und seine Hilfsbedürftigkeit auf ganz bescheidene, aparte Weise zum Ausdruck bringt, dann ist das herzerwärmend. Warre und Tine haben eigentlich nur darauf gewartet, dass ihnen ein Wesen wie Viegelchen ins Haus geflattert kommt, ein Findelvogel, ein Kind mit Flügeln und besonderen Ess- oder besser Pickgewohnheiten, sehr geheimnisvoll, sehr gut zum Kümmern geeignet. Den beiden unbedarften Leutchen, einem etwas verschrobenen, wortkargen Ehepaar, geht das Herz auf, und sie kümmern sich mit Inbrunst. Viegelchen bekommt einen Kinderwagen, einen blauen Umhang, später rote Schühchen, einen speziellen Essapparat und Sprechunterricht. Am besten gelingen Sätze wie "Hier liegt die Fliege", denn die anderen Vokale kann Viegelchen nicht aussprechen, sonst hieße sie ja auch Vögelchen. So lernt sie ihren Lieblingssatz: "Ich micht Bitterbrit mit Mirmelide." Und dann fliegt sie weg.
Der Himmel über der Kinderliteratur wird langsam eng; so viele geflügelte Wesen sammeln sich dort in den letzten Jahren und ziehen ihre Kreise, den Kindern zur Hilfe und zur Erbauung. Nun auch noch dieses Viegelchen. Der Unterschied: "Viegelchen" stammt von der niederländischen Autorin Joke van Leeuwen und ist schon daher vor allzu viel Pathos geschützt. Es ist sogar vollkommen pathosfrei. Der Leser wird hier nicht auf die gängige Weise verzaubert und erbaut, sondern er schaut anderen beim Verzaubert- und Erbautwerden zu, und - das ist das Wichtigste - bei ihrer Rückkehr in den Alltag. Weite Teile des Buches handeln nur davon, wie eine Reihe von Leuten nach der Begegnung mit Viegelchen zurechtkommen. Warre und Tine suchen sie noch lange, aber nur, um sich richtig zu verabschieden, "damit der Satz am Ende einen Punkt hat", wie Tine es ausdrückt. Es geht also auch darum, jemanden wieder wegfliegen lassen zu können. Jemanden, der wie eine Erlösung war, weil man sich um ihn kümmern konnte. Das erleben auch Luzie, ein in ihrer Einsamkeit sehr resolutes Mädchen, und der Retter, der davon erschüttert wird, dass Viegelchen einfach nicht zu retten ist.
Man hat immer eine Wahl. Das Mädchen Luzie, der Retter und vor allem natürlich Viegelchen selbst stehen in dieser Parabel für die immer wiederkehrende Möglichkeit, sich frei zu entscheiden. Das steht nicht so deutlich im Text, dafür umso augenfälliger in den Zeichnungen. Denn die mischen sich wie immer in Joke van Leeuwens Büchern lebhaft in die Geschichte ein, drängeln sich mit Nebenschauplätzen und Rand-Albernheiten dazwischen. Oft sind es Bildsequenzen, kleine Serien, die eine Reihe von Alternativen zeigen. Etwa die verschiedenen Sorten von Gespenstern, vor denen man Angst haben kann. Diese vielen Zeichnungen, die ein ganz unbefangenes Selbstbewusstsein neben dem Text zeigen, halten die Geschichte in der Schwebe. Als Viegelchen laufen lernt, geht das überraschend einfach, weil sie ihre Flügel benutzen kann, um sich aufzufangen. "Ihr Gewicht fiel einfach nicht so ins Gewicht", erklärt der Text den Unterschied zwischen ihr und einem gewöhnlich plumpen Kleinkind. Joke van Leeuwen benutzt die Zeichnungen wie Viegelchen die Flügel und verleiht so ihrer doch recht gewichtigen Geschichte Leichtigkeit. Aber auch die vielen verspielten Wortneufindungen und Querdenkereien tragen dazu bei - erfreulicherweise klingen sie in der deutschen Übersetzung ebenfalls federleicht.
Mit drei Strichen, die eine Landschaft darstellten, fing die Geschichte an. Warre, der Vogelfreund, war mit seinem Fernglas unterwegs. Auf der letzten Seite sehen wir wieder drei Striche, die sich nun voneinander lösen und die Seite hinunterfallen. War da etwas? Nein, es sind nur ein paar Striche. Der kleine Punkt da könnte Viegelchen sein, aber wahrscheinlich ist es nur ein Fussel auf Warres Fernglas. Und in Wirklichkeit ist es bloß ein wenig Druckerschwärze auf weißem Papier in einem Buch.
MONIKA OSBERGHAUS
Joke van Leeuwen: "Viegelchen". Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Hanser Verlag, München 1999. 166 S., geb., 24,80 DM. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Viegelchen": Ein Roman vom Fliegen und Fliegen lassen
Wie schön ist es doch, wenn man sich um jemanden kümmern kann. Und wenn dieser Jemand auch noch klein und geheimnisvoll ist und seine Hilfsbedürftigkeit auf ganz bescheidene, aparte Weise zum Ausdruck bringt, dann ist das herzerwärmend. Warre und Tine haben eigentlich nur darauf gewartet, dass ihnen ein Wesen wie Viegelchen ins Haus geflattert kommt, ein Findelvogel, ein Kind mit Flügeln und besonderen Ess- oder besser Pickgewohnheiten, sehr geheimnisvoll, sehr gut zum Kümmern geeignet. Den beiden unbedarften Leutchen, einem etwas verschrobenen, wortkargen Ehepaar, geht das Herz auf, und sie kümmern sich mit Inbrunst. Viegelchen bekommt einen Kinderwagen, einen blauen Umhang, später rote Schühchen, einen speziellen Essapparat und Sprechunterricht. Am besten gelingen Sätze wie "Hier liegt die Fliege", denn die anderen Vokale kann Viegelchen nicht aussprechen, sonst hieße sie ja auch Vögelchen. So lernt sie ihren Lieblingssatz: "Ich micht Bitterbrit mit Mirmelide." Und dann fliegt sie weg.
Der Himmel über der Kinderliteratur wird langsam eng; so viele geflügelte Wesen sammeln sich dort in den letzten Jahren und ziehen ihre Kreise, den Kindern zur Hilfe und zur Erbauung. Nun auch noch dieses Viegelchen. Der Unterschied: "Viegelchen" stammt von der niederländischen Autorin Joke van Leeuwen und ist schon daher vor allzu viel Pathos geschützt. Es ist sogar vollkommen pathosfrei. Der Leser wird hier nicht auf die gängige Weise verzaubert und erbaut, sondern er schaut anderen beim Verzaubert- und Erbautwerden zu, und - das ist das Wichtigste - bei ihrer Rückkehr in den Alltag. Weite Teile des Buches handeln nur davon, wie eine Reihe von Leuten nach der Begegnung mit Viegelchen zurechtkommen. Warre und Tine suchen sie noch lange, aber nur, um sich richtig zu verabschieden, "damit der Satz am Ende einen Punkt hat", wie Tine es ausdrückt. Es geht also auch darum, jemanden wieder wegfliegen lassen zu können. Jemanden, der wie eine Erlösung war, weil man sich um ihn kümmern konnte. Das erleben auch Luzie, ein in ihrer Einsamkeit sehr resolutes Mädchen, und der Retter, der davon erschüttert wird, dass Viegelchen einfach nicht zu retten ist.
Man hat immer eine Wahl. Das Mädchen Luzie, der Retter und vor allem natürlich Viegelchen selbst stehen in dieser Parabel für die immer wiederkehrende Möglichkeit, sich frei zu entscheiden. Das steht nicht so deutlich im Text, dafür umso augenfälliger in den Zeichnungen. Denn die mischen sich wie immer in Joke van Leeuwens Büchern lebhaft in die Geschichte ein, drängeln sich mit Nebenschauplätzen und Rand-Albernheiten dazwischen. Oft sind es Bildsequenzen, kleine Serien, die eine Reihe von Alternativen zeigen. Etwa die verschiedenen Sorten von Gespenstern, vor denen man Angst haben kann. Diese vielen Zeichnungen, die ein ganz unbefangenes Selbstbewusstsein neben dem Text zeigen, halten die Geschichte in der Schwebe. Als Viegelchen laufen lernt, geht das überraschend einfach, weil sie ihre Flügel benutzen kann, um sich aufzufangen. "Ihr Gewicht fiel einfach nicht so ins Gewicht", erklärt der Text den Unterschied zwischen ihr und einem gewöhnlich plumpen Kleinkind. Joke van Leeuwen benutzt die Zeichnungen wie Viegelchen die Flügel und verleiht so ihrer doch recht gewichtigen Geschichte Leichtigkeit. Aber auch die vielen verspielten Wortneufindungen und Querdenkereien tragen dazu bei - erfreulicherweise klingen sie in der deutschen Übersetzung ebenfalls federleicht.
Mit drei Strichen, die eine Landschaft darstellten, fing die Geschichte an. Warre, der Vogelfreund, war mit seinem Fernglas unterwegs. Auf der letzten Seite sehen wir wieder drei Striche, die sich nun voneinander lösen und die Seite hinunterfallen. War da etwas? Nein, es sind nur ein paar Striche. Der kleine Punkt da könnte Viegelchen sein, aber wahrscheinlich ist es nur ein Fussel auf Warres Fernglas. Und in Wirklichkeit ist es bloß ein wenig Druckerschwärze auf weißem Papier in einem Buch.
MONIKA OSBERGHAUS
Joke van Leeuwen: "Viegelchen". Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Hanser Verlag, München 1999. 166 S., geb., 24,80 DM. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Viegelchen ist halb Vogel, halb Mensch, wird von lieben Menschen gefunden und gepflegt, und fliegt doch wieder fort; immer wieder verabschiedet es sich, keiner kann es festhalten. Ein poetisches Buch, eine Fabel voller Fabeln, schreibt Sybil Gräfin Schönfeldt und ist nicht nur entzückt über den Text, sondern auch über die vieldeutig-simplen Illustrationen, die von der holländischen Autorin selbst stammen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Eine feingesponnene, anrührende Parabel über kindliche Freiheit."
Die Welt, 09.10.1999
Die Welt, 09.10.1999