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Rezension:
Hartung, Jan-Peter: Viele Wege und ein Ziel. Leben und Wirken von Sayyid Abû l-Hasan 'Alî al-Hasanî Nadwîa, 1914-1999 (= Kultur, Recht und Politik in muslimischen Gesellschaften 6). Würzburg: Ergon Verlag 2004.
ISBN 3-89913-377-3; 521 S.; EUR 59,00.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Stephan Conermann, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Universität Bonn
E-Mail:
Die Biographie eines muslimischen Intellektuellen des 19. oder 20.
Jahrhunderts zu schreiben, klingt angesichts des scharf umrissenen Gegenstandes erst einmal leicht, entpuppt sich jedoch im
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Produktbeschreibung
Rezension:
Hartung, Jan-Peter: Viele Wege und ein Ziel. Leben und Wirken von Sayyid Abû l-Hasan 'Alî al-Hasanî Nadwîa, 1914-1999 (= Kultur, Recht und Politik in muslimischen Gesellschaften 6). Würzburg: Ergon Verlag 2004.
ISBN 3-89913-377-3; 521 S.; EUR 59,00.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Stephan Conermann, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Universität Bonn
E-Mail:

Die Biographie eines muslimischen Intellektuellen des 19. oder 20.
Jahrhunderts zu schreiben, klingt angesichts des scharf umrissenen Gegenstandes erst einmal leicht, entpuppt sich jedoch im Laufe der Arbeit am Subjekt bisweilen als ein recht sperriges und schwieriges Vorhaben. Schnell wird das Material unübersichtlich, und die eben noch klaren Konturen der Zielperson verschwimmen so sehr, dass man meint, überhaupt kein Individuum mehr ausmachen zu können. Aus diesem Grund ist die hier zu besprechende Arbeit, die am fakultätsähnlichen Max-Weber-Kolleg der Uni Erfurt im Sommersemester 2003 als Dissertation angenommen wurde, wirklich ausgesprochen lobenswert. Jan-Peter Hartung gelingt es nämlich sehr gut, dem Leser den nordindischen Gelehrten Sayyid Abu l-Hasan Ali al-Hasani Nadwi (1914-1999) näher zu bringen.
Nadwi, der beinahe vier Jahrzehnte dem 1897 gegründeten „(Nationalen) Rat der muslimischen Gelehrten“ (Nadwat al-`Ulama´) in Indien vorstand, galt auf dem Subkontinent lange Zeit als wichtigste Integrationsfigur für gebildete Muslime. Seine Kontakte reichten von der islamistischen Jama`at-i Islami bis zu der vorgeblich apolitischen Missionsbewegung Tablighi Jama`at. Aber auch außerhalb Indiens war er unter muslimischen Gelehrten hoch angesehen. Er unterhielt sehr gute Beziehungen zur Azhar, zu wahhabitischen Zirkeln und zu einer Reihe von prominenten Muslimbrüdern. Schließlich war er auch noch Gründungsmitglied der in Mekka ansässigen Islamischen Weltliga und wurde seit den 1960er Jahren in viele transnationale Foren und Gremien berufen.

Wie bekommt man nun Leben und Werk eines gesellschaftspolitisch derart rührigen und darüber hinaus als Autor enorm produktiven Mannes in den Griff, ohne der Versuchung zu erliegen, in ermüdender Weise und langatmig bloß seine Aktivitäten und Schriften chronologisch nachzuerzählen? J.-P. H. hat dieses Grundproblem biographischer Ansätze m.E. sehr überzeugend gelöst, indem er eine Kombination aus Werk- und sozialhistorischer Kontextanalyse gewählt hat. Dies hat auch den großen Vorteil, die typischen werkimmanenten Inkohärenzen nicht als Widersprüchlichkeiten, sondern als Reaktionen auf Veränderungen der zeitlichen und auch räumlichen Umstände zu betrachten. Um den zur Verfügung stehenden großen Quellenreichtum vor diesem Hintergrund besser strukturieren zu können, greift der Vf. die Ansätze der Netzwerkanalyse sowie der Bourdieuschen Feld- und der Foucaultschen Diskurstheorie auf.
(S. 19-31)

In einem ersten Schritt geht es dann um die Beschreibung von vier innermuslimischen Diskursen, mit denen Nadwis Schaffen unmittelbar und untrennbar verwoben war: 1. den Aufbau eines zeitgemäßen islamischen Bildungswesens; 2. die Bedeutung der Sufik für das Leben der Muslime; 3.
das Verhältnis von normativem islamischem Gemeinwesen und religiöser Lebensführung; und 4. die muslimische Positionierung zu den ‚kommunalistischen’ Tendenzen in Indien. (S. 45-196) Aus den vielen hochinteressanten Beobachtungen, die Jan-Peter Hartung zu diesen die Debatten muslimischer Gelehrter im 20. Jahrhundert nachhaltig prägenden repräsentativen Diskursen anstellt, möchte ich nur einige wenige herausgreifen, die Nadwis Denken entscheidend bestimmt haben. Einen wichtigen Diskussionsgegenstand stellte die Frage dar, welchen Stellenwert man der Vernunft im Erkenntnisprozeß zubilligen müsse.
Sollte der Glaube (iman) oder das Wissen (´ilm) die Grundlage für das menschliche Handeln bilden? Gelehrte wie Nadwi, die ein besonderes Augenmerk auf eine bedeutendere Rolle der Sufik im Leben des Gläubigen hatten, postulierten, wie der Vf. zeigt, dass "Wissen nicht mehr Produkt rationaler Überlegungen [ist], sondern einer tiefen emotionalen Gottesschau, die aus einem unbedingten Glauben erwächst." (S. 183) Hartung weiter: "Diese Art des Wissens (ma`rifa) kann synonym zu Glaube gebraucht werden und begründet so die traditionalistische Option, ohne
den Wissensbegriff verabschieden zu müssen." (Ibid.)

Hervorzuheben ist vielleicht auch, dass hinter allen muslimischen Diskursen, die man im 20. (und zu Beginn des 21.) Jahrhundert(s) ausmachen kann, stets der Metadiskurs der 'Etablierung der (richtigen) Religion' auf Erden (iqamat-i din) als Ziel religiös bewussten muslimischen Handelns steht. Allerdings war (und ist) man sich über die Wege, eine solche rechtgeleitete Gesellschaft zu errichten, völlig uneins. Einem herrschaftsorientierten nonkonformistischen Aktivismus steht unversöhnlich, so Jan-Peter Hartung treffend, eine gesinnungsethisch orientierte konformistische Handlungsoption gegenüber.
Auch wenn sich Nadwis Position zur iqamat-i din im Laufe der Zeit wandelt, spricht er sich grundsätzlich für einen konformistischen Aktivismus aus. Letzten Endes ist er, wie Jan-Peter Hartung schreibt, davon überzeugt, dass diese Haltung den konkret vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen in der Indischen Union angemessener sei, als ein Versuch, als religiöse Minderheit in aktiver Konfrontation zur religiösen Mehrheit innerhalb der Bevölkerung zu treten. Als die Organisation, die dieses Ziel am besten verfolgt, sieht er die Tablighi Jama`at an.

Nadwis Grundgedanken entbehren nicht einer gewissen Ambivalenz: Während der bekannten Auseinandersetzungen um die Babur-Moschee in Ayodhya und um die Anwendung des islamischen Personenstandsrechtes in Indien verfolgt er einerseits eine politisch pragmatische Position für eine säkulare Verfassung der Indischen Union, andererseits weist er ebendiese Verfassung deutlich in ihre Grenzen und betont die Überlegenheit des geoffenbarten Gesetzes über die von Menschen geschaffenen Regeln.
Allerdings möchte Nadwi die Staatsverfassung nicht kategorisch zurückweisen. Vielmehr müssten Interferenzen als nicht den Grundsätzen der Verfassung gemäß begründet werden.

Dieser Konflikt zwischen dem Anspruch der universalen und zeitlich unwandelbaren Gültigkeit der Scharia und den explizit menschlichen ethischen und rechtlichen Normen verweist auf einen weiteren Metadiskurs, nämlich auf die Frage "um die Begründung eines zeitgemäßen muslimischen Selbstverständnisses". J.-P. Hartung formuliert dies so:
"Gegenüber den politischen und technologischen Erfolgen der europäischen Kolonialmächte, die auf deren positivistischen Wissenschaftsbegriff beruhten, galt es den muslimischen Bildungseliten die stete Aktualität der religiösen Traditionswissenschaften des Islams, der manqulat, zu begründen und sich somit ihre distinkte kulturelle Identität zu bewahren, zu der auch ganz zentral die von Nadwi unermüdlich betonte axiomatische Führungsrolle der Muslime gehörte. Den muslimischen Bildungseliten oblag es, Koranexegese, hadith-Wissenschaften sowie Recht [fiqh] und Rechtsmethodik [usul al-fiqh] derart zu reformulieren, dass sie in der Auseinandersetzung insbesondere mit dem westlichen Wissenschaftsparadigma 'wettbewerbsfähig' bleiben konnten." (S. 186)

In dem nun folgenden Kapitel skizziert der Vf. sehr anschaulich und einfühlsam vier sogenannte 'geschlossene' Felder seines Heldens, nämlich dessen Familie, dessen Lehrer-Schüler-Beziehungen, die sufischen Gemeinschaften, denen er angehörte bzw. denen er sich zugehörig fühlte, und den bereits erwähnten nationale Gelehrtenrat, dessen Vorsitz er von
1961 bis 1999 innehatte. (S. 197-294) Jan-Peter Hartung kann hier nicht nur Nadwis weit verzweigtes und umfangreiches persönliches Netzwerk sichtbar machen. Vielmehr wird auch deutlich, dass der indische Gelehrte seinen Tatendrang aus sehr muslimischen Motivationsquellen bezog.
Zunächst einmal stammte er von dem Propheten ab, was in ihm ein wohlbegründetes Bedürfnis nach der Erhaltung eines höchstmöglichen Grades an "Charisma qua Deszendenz (sharafa)" (S. 289) erzeugte. Hinzu kam die in der islamischen Welt hochgehaltene Tradition der engen Verbindung zwischen Lehrer und Schüler. Zum einen repräsentiert dieses Band natürlich der Stellenwert, den religiöses Wissen für die Stiftung und Bewahrung kultureller Identität innerhalb muslimischer Gesellschaften besitzt, zum anderen ist damit aber auch, wie Herr Hartung es so schön ausdrückt, "das Bestreben verbunden, in einer so direkt und so kurz als möglichen Transmissionslinie zum Propheten Muhammad und seinen Gefährten, den sahaba, zu stehen, um auf diese Weise das religiöse Wissen so authentisch als nur möglich zu erwerben und zu tradieren." (Ibid.) Hinzu kommt schließlich noch eine deutliche sufische Komponente. Auf dieser Ebene erhält Nadwi ein „Charisma qua spiritueller Genealogie (baraka)“ (S. 293), das seine ohnehin schon hervorgehobene Stellung innerhalb der muslimischen Gelehrtenelite noch zusätzlich
betont.

Nachdem von Jan-Peter Hartung somit die wichtigsten zeitspezifischen muslimischen Diskurse und die unmittelbaren persönlichen Beziehungsgeflechte des nordindischen Intellektuellen beschrieben worden sind, sehen wir Nadwi in dem letzten großen Kapitel der Studie als Akteur in "halboffenen" und "offenen" Feldern. (S. 295-452) Gemeint sind damit einmal seine mannigfaltigen Kontakte zu muslimischen Gruppierungen wie der Jama´at-i Islami, der Tablighi Jama´at, den Ahl-i hadith und der Muslimbruderschaft und zu vielen Kairiner Gelehrten und Literaten sowie zu wahhabitischen Geistesgrößen in Saudi-Arabien. Des Weiteren war Nadwi aber auch eingebunden in die indische Politik. Aus diesem Grund bringt der Vf. auch Nadwis Auseinandersetzungen mit dem Indian National Congreß, der Janata Party und der BJP in gebührender Weise zur Geltung.

Überregional versuchte Nadwi seine politischen Ziele durch verstärkte Aktivitäten vor allem in zwei Gremien durchzusetzen: Im AIMPLB (All-India Muslim Personal Law Board) sah er ein Instrument, aus einer theologischen Perspektive gegen eine politischen Diskriminierung der Muslime vorzugehen, die er in den Versuchen der Regierung und hindu-kommunalistischer Kräfte sah, grundlegende muslimische Institutionen zu zerstören oder wenigstens auszuhöhlen. Und in der von ihm selbst begründeten und angeführten interkonfessionellen Bewegung Payam-i Insaniyat besaß er ein Forum, um kommunale Harmonie und die Gleichberechtigung aller religiösen Gemeinschaften im nominell säkularen Gemeinwesen der Indischen Union zu propagieren.

Nadwis Lebensthema, dem er sich mit ganzem Engagement in seinen Büchern und in seinem öffentlichen Wirken widmete, wird von J.-P. Hartung an einer Stelle sehr schön auf den Punkt gebracht: Es war "die Idee einer geeinten Gemeinschaft der Gläubigen, der umma al-wahida, die eben nicht durch Zugehörigkeit zu einem bestimmten Territorium und zu damit verknüpften Traditionen und Praktiken gekennzeichnet ist, sondern einzig und allein durch das Glaubensbekenntnis der Muslime." (S. 401) Die "Anerkenntnis seiner eignen Eingebundenheit in einen konkreten lokalen Kontext“ verband er mit der "Forderung nach einer normative begründeten, universal gültigen islamischen Lebensführung, die auf einer transnationalen Ebene zu gewährleisten sei und als deren Hüter die muslimische Intelligentsia, zuoberst aber die 'ulama' als die traditionellen Sachwalter religiösen Wissens, zu fungieren hätte." (S.
402)

Letzten Endes sei Nadwi allerdings, so das Fazit des Vf., mit seinen Vorstellungen gescheitert. Räumlich, zeitlich und auch sozial spezifische Interessen von Gruppen und deren Mitgliedern scheint er nicht wahrgenommen oder ihnen zumindest keine adäquate Bedeutung beigemessen zu haben. Payam-i Insaniyat, Rabitat al-Adab al-Islami oder das Oxford Centre for Islamic Studies waren zu schwach, um ein Gegengewicht zu den etablierten Institutionen wie der Islamischen Weltliga zu bilden. Und auch in Indien sei es ihm nicht gelungen, das Vakuum politischer Repräsentation der muslimischen Gemeinschaften auszufüllen. Die Bemühungen Nadwis um eine Öffentlichwirksamkeit der Arbeit von Payam im interkonfessionellen Dialog hatten keinen dauerhaften Erfolg.

Jan-Peter Hartung hat eine hervorragend strukturierte und nicht zuletzt auch dadurch sehr gut lesbare Biographie eines wichtigen repräsentativen muslimischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts vorgelegt, die jedem, der sich für die traditionalistische islamische Denkweise interessiert, wärmstens empfohlen werden kann.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Astrid Meier

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