Diversität spiegelt sich inzwischen auch sprachlich in einer großen Anzahl an Begriffen wider. Aber welche davon werden im Diskurs und in den Medien wirklich verwendet, wenn es um das Thema Diversity geht? Kann man noch "Behinderte" sagen oder ist nur noch "Menschen mit Behinderungen" angemessen? Was wünschen sich die Betroffenen? Wie steht es um "woke", das auf soziale Ungerechtigkeit und Rassismus hinweist, in rechten Kreisen aber fälschlich synonym für links steht? Und welche Begriffe sollten Sie als Fachleute oder Laien wirklich kennen? Dazu gehören "Ableismus", "TERF" und auch "Klassismus". Welche Diversity-Begriffe müssten hingegen eigentlich längst bekannt sein, sind es aber noch nicht? Dazu gehören "queer", "marginalisiert", "Misogynie" und "Inklusion". Die Dudenredaktion lässt 100 namhafte Fachleute, die häufig auch einen persönlichen und/oder beruflichen Bezug zum Thema haben, 100 Wörter erklären. Es schreiben u.a. Ferda Ataman, Raúl Krauthausen, Natascha Strobl, Marina Weisband und Christian Stöcker.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wolfgang Krischke ist erbost über das "andere" Wörterbuch der Dudenredaktion, das in die Begrifflichkeiten von (Gender-)Diversity einführen will. Dabei stört sich der Kritiker offensichtlich schon an den Grundannahmen, die dieser Herausgabe zugrunde liegen, wenn er etwa vom in genderaktivistischen Milieus verbreiteten "Glauben" daran spricht, dass der Diskurs die Realität forme, oder von der "Überzeugung", die geschlechtliche Identität sei weniger biologisch gesetzt als sozial geformt. Konkret auf das Buch und seinen Aufbau bezogen kritisiert er, dass die Artikel mit je einer kurzen Definition und einem Text nicht ernsthaft an Kommunikation bzw. Vermittlung durch Sprache, sondern an Identitätspolitik interessiert seien; er unterstellt dem Band hier "Propaganda" und den Autor*innen, die keinen sprachwissenschaftlichen, sondern etwa einen aktivistischen oder publizistischen Hintergrund haben, eine Unfähigkeit, sich außerhalb ihrer Bubble verständlich zu machen: "Spezialjargon durch Spezialjargon" zu erklären, funktioniere nicht, spöttelt Krischke. Auch mit den im Buch erklärten Konzepten wie "Othering" oder "kritischem Weißsein" kann der Kritiker nichts anfangen und hält mit - zum Teil selbst einigermaßen verdrehten - Beispielen dagegen. Ein die "Vielfalt" nur behauptendes, dabei der "Parteilichkeit" und Identitätspolitik verfallendes Buch und schlicht "untaugliches" Nachschlagewerk, wütet Krischke.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2024Bloß weg mit den Hater*innen
Ein Wörterbuch zum Thema "Vielfalt" möchte mit Diversity-Begriffen bekannt machen
Wissen Sie, was "TERF", "Ableismus", "Bodyneutrality", "Klassismus" oder "FLINTA" bedeutet? Nein? Dann haben Sie dringenden Lernbedarf, denn diese Wörter gehören zu einer langen Reihe von "Diversity-Begriffen", die "Sie als Fachleute oder Laien wirklich kennen" sollten. Das jedenfalls findet der Dudenverlag und bietet zum Füllen der Wissenslücken "das andere Wörterbuch" mit hundert Stichwörtern zum Thema "Vielfalt". Neben Ausdrücken der Alltagssprache wie "Chancengleichheit", "Digitalisierung" oder "Mobilität" stehen viele Wörter, die zum Kernbestand eines Soziolekts gehören, der sich in den vergangenen drei Jahrzehnten in einem Milieu herausgebildet hat, das von Identitätspolitik und Genderaktivismus geprägt ist. Viele dieser Begriffe und die mit ihnen verknüpften Weltanschauungen haben ihren Ursprung im Umfeld amerikanischer Universitäten. So erklärt sich die hohe Zahl an Anglizismen ("Blackfacing", "Othering", "woke") und Lehnübersetzungen ("kritisches Weißsein", "Intersektionalität").
Am Anfang jedes Wörterbucheintrags steht eine Kurzdefinition der Dudenredaktion, dann folgt ein zweiseitiger Text. Die Autoren - jeder Artikel stammt aus einer anderen Feder - sind in den meisten Fällen keine Sprachwissenschaftler, sondern mit den Feldern, über die sie schreiben, beruflich, als Aktivisten, Verbandsvertreter, Lobbyisten oder sympathisierende Publizisten verbunden. Dass die Texte durchgängig gegendert sind und dieser Sprachgebrauch unter dem entsprechenden Stichwort positiv bewertet wird, bedarf angesichts dieser Voreinstellungen kaum noch der Erwähnung.
Schlägt man nun beispielsweise unter "FLINTA" nach, erfährt man, dass es eine Sammelbezeichnung ist "für Frauen, Lesben (auch: FrauenLesben), inter à nicht binäre, à trans* und ageschlechtliche (auch: agender) Menschen". Diese Gruppen würden "in einem patriarchalen und endo-cis-sexistischen System" benachteiligt. Wer sich in dem Akronym nicht richtig enthalten fühle, könne das durch ein Sternchen kompensieren: FLINTA*. Zu bedenken sei auch, dass das L in FLINTA sich "weniger auf eine sexuelle/romantische Orientierung als auf deren gesellschaftliche Verknüpfung mit geschlechtlichen Normen und die daraus folgenden möglichen Auswirkungen auf lesbische Personen" beziehe.
Nicht nur in diesem Wörterbuchartikel wird versucht, den Spezialjargon durch Spezialjargon zu erläutern. Darin zeigt sich nicht nur die mangelnde Fähigkeit der Insider-Autoren, sich Lesern außerhalb ihrer Welt verständlich zu machen. Deutlich wird auch die Hermetik einer Sprache, die nicht auf Kommunikation, sondern auf Präsentation der eigenen Identität und Kleingruppenzugehörigkeit ausgelegt ist. Grundlage der diversitätspolitischen Nomenklatur ist die Überzeugung, dass die geschlechtliche Identität wenig bis nichts mit den Chromosomen zu tun hat, sondern eine soziale Rolle ist, in die man schlüpfen und die man wechseln kann.
Die daraus resultierende "Fluidität" macht nun aber Geschlechtskategorien nicht überflüssig. Sie vervielfacht sie vielmehr, denn angesichts eines sich immer weiter auffächernden Spektrums steigt das Bedürfnis, sich selbst in dieser Unübersichtlichkeit sprachlich zu verorten und die sexuelle Orientierung zum Kernbestandteil der persönlichen Identität zu erheben. Der unter Diversitätsaktivisten verbreitete Glaube, dass "der Diskurs" die Realität forme, verleiht diesen verbalen Konstrukten eine zusätzliche Schlüsselrolle.
Je feiner die Gender-Nuancen werden, desto größer ist auch das Bedürfnis nach sprachlich fixierter Abgrenzung. Manche Begrifflichkeiten erinnern an die Etikettierungen des Stalinismus zur Markierung der unterschiedlichen "Abweichler" von der jeweils gültigen Parteilinie. Ein Beispiel ist das Akronym TERF (Trans-Exclusionary Radical Feminist), eine meistens negativ gemeinte Bezeichnung für "Feminist*innen, die trans* Personen aus ihrem Feminismusverständnis ausschließen".
Die bekannteste als "TERF" angeprangerte Person ist Joanne K. Rowling. Die "Harry Potter"-Autorin hat sich in der Transgenderszene viele Feinde gemacht, weil sie die Bedeutung der Biologie für die Geschlechtszuordnung betont und es ablehnt, "Frauen" durch "menstruierende Menschen" zu ersetzen. Dies auch deshalb, weil sie befürchtet, "Transfrauen", die biologisch Männer seien, würden Frauen in Schutzräumen wie Umkleiden oder Toiletten gefährden. Rowling wurde dafür nicht nur "kritisiert", wie es im betreffenden Wörterbuchartikel heißt, sondern sie erhielt zahlreiche Morddrohungen. Die Autorin des Wörterbucheintrags gibt Rowlings Gegnern indes recht. Die Befürchtung, geschützte Räume für Frauen seien gefährdet, entbehrt ihr zufolge jeder Grundlage. Dafür verweist sie auf eine Studie, die 2019 in Massachusetts zu diesem Thema durchgeführt wurde. Was sie nicht erwähnt, ist, dass diese Studie wegen grundlegender empirischer und methodischer Mängel in der Kritik steht, sodass an ihrer Beweiskraft erhebliche Zweifel angebracht sind.
Die meisten Wörterbuchartikel sind durch solche Parteilichkeit gekennzeichnet. Die Autoren haben nicht die nötige Distanz, um unvoreingenommene Informationen über die politischen Hintergründe und Gebrauchsweisen der Wörter und ihre - oft umstrittenen - weltanschaulichen Voraussetzungen zu liefern. Stattdessen dienen die Stichwörter als Aufhänger, um eine Identitätspolitik zu propagieren, deren Kern ein empfundener Minderheiten- und Opferstatus ist, der vor allem Migranten, Transgenderpersonen, religiöse Minderheiten und andere von Aktivisten der Diversitätspolitik anerkannte Gruppen umfasst.
Eine solche Identität samt Wertekanon ist von jedermann fraglos zu akzeptieren; über sie äußern darf sich aber nur der Identitätseigentümer selbst. Wird er hingegen von einem Mitglied der Mehrheitsgesellschaft nach ihr gefragt - "Woher kommen Sie?" -, liegt ein Fall von "Othering" vor. Dazu erfährt man unter dem entsprechenden Stichwort, dass hierdurch Personen als andere, Fremde "konstruiert und hervorgebracht" und dadurch abgewertet werden. Dass die Frage nach der Herkunft ein Ausdruck von Offenheit, Neugier und interessierter Anteilnahme sein könnte, kommt der Autorin nicht in den Sinn.
Außerhalb diversitätspolitischer Fürsorge steht, wer weiß ist. Er lernt im Eintrag "kritisches Weißsein", dass er als Träger dieser Hautfarbe von Geburt an automatisch "privilegiert" ist. Selbst wenn er besten Willen zeigt - schon durch seine bloße Existenz wirkt er als Unterdrücker, denn "die Gesellschaft" sei "objektiv rassistisch". Es handelt sich also um eine Form der Erbsünde, und was dem frommen Christen die Selbstzerknirschung, ist dem kritisch Weißseienden die Selbstanklage mit dem Ziel, schließlich "seine "weiße Identität . . . zu dekonstruieren". Die deutschstämmig-weiße Supermarkt-Kassiererin muss demzufolge bußfertig ihre Privilegien hinterfragen, nicht aber die chinesischstämmige Zahnärztin, die ihr die Einkäufe auf das Transportband stellt.
Mit der "Vielfalt", die das Wörterbuch auf dem Umschlag verkündet, ist es in seinem Inneren nicht weit her. Viele seiner Autoren möchten die Blumen des Diskurses nur in einem von ihnen selbst bestellten Meinungsbeet blühen lassen. Bezeichnend dafür ist der Artikel zur "Meinungsfreiheit". Mit der soll es nämlich ein Ende haben, sobald sich "Hater*innen" und "Rechtspopulist*innen" - beides wird weder definiert noch differenziert - auf sie berufen, wollen sie damit doch in Wahrheit nur die Demokratie untergraben. Die zahlreichen Bestrebungen aus dem links-diversen Spektrum, unliebsame Positionen aus dem Diskurs zu verbannen, finden hingegen keine Erwähnung.
"Cancel Culture" und die "politische Korrektheit" bezeichnen nach Meinung der Wörterbuchautoren keine Realität, sondern dienen als bloße Kampfvokabeln zur Diskreditierung des Engagements gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Diese Selbstimmunisierung gegen Kritik findet sich auch im Artikel zu "woke". Diente das Wort seit den Sechzigerjahren zur Selbstzuschreibung eines progressiven Bewusstseins, hat es heute einen zunehmend negativen Beiklang, weil die damit verbundene Geisteshaltung von vielen Zeitgenossen als selbstgerecht und illiberal empfunden wird. Für die Autorin spiegelt sich in diesem Bedeutungswandel aber nur eine Abwehrhaltung, "um von gesellschaftlichen Problemen abzulenken". Das Wort "Bias", so erfährt man in diesem "anderen" Wörterbuch, bezeichnet "Denkmuster, die Verzerrungen oder Stereotypen beinhalten". Es ist genau das, was dieses Nachschlagewerk untauglich macht. WOLFGANG KRISCHKE
Sebastian Pertsch (Hrsg.): "Vielfalt".
Das andere Wörterbuch.
Dudenverlag, Berlin 2023. 272 S., Abb., br.,
28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Wörterbuch zum Thema "Vielfalt" möchte mit Diversity-Begriffen bekannt machen
Wissen Sie, was "TERF", "Ableismus", "Bodyneutrality", "Klassismus" oder "FLINTA" bedeutet? Nein? Dann haben Sie dringenden Lernbedarf, denn diese Wörter gehören zu einer langen Reihe von "Diversity-Begriffen", die "Sie als Fachleute oder Laien wirklich kennen" sollten. Das jedenfalls findet der Dudenverlag und bietet zum Füllen der Wissenslücken "das andere Wörterbuch" mit hundert Stichwörtern zum Thema "Vielfalt". Neben Ausdrücken der Alltagssprache wie "Chancengleichheit", "Digitalisierung" oder "Mobilität" stehen viele Wörter, die zum Kernbestand eines Soziolekts gehören, der sich in den vergangenen drei Jahrzehnten in einem Milieu herausgebildet hat, das von Identitätspolitik und Genderaktivismus geprägt ist. Viele dieser Begriffe und die mit ihnen verknüpften Weltanschauungen haben ihren Ursprung im Umfeld amerikanischer Universitäten. So erklärt sich die hohe Zahl an Anglizismen ("Blackfacing", "Othering", "woke") und Lehnübersetzungen ("kritisches Weißsein", "Intersektionalität").
Am Anfang jedes Wörterbucheintrags steht eine Kurzdefinition der Dudenredaktion, dann folgt ein zweiseitiger Text. Die Autoren - jeder Artikel stammt aus einer anderen Feder - sind in den meisten Fällen keine Sprachwissenschaftler, sondern mit den Feldern, über die sie schreiben, beruflich, als Aktivisten, Verbandsvertreter, Lobbyisten oder sympathisierende Publizisten verbunden. Dass die Texte durchgängig gegendert sind und dieser Sprachgebrauch unter dem entsprechenden Stichwort positiv bewertet wird, bedarf angesichts dieser Voreinstellungen kaum noch der Erwähnung.
Schlägt man nun beispielsweise unter "FLINTA" nach, erfährt man, dass es eine Sammelbezeichnung ist "für Frauen, Lesben (auch: FrauenLesben), inter à nicht binäre, à trans* und ageschlechtliche (auch: agender) Menschen". Diese Gruppen würden "in einem patriarchalen und endo-cis-sexistischen System" benachteiligt. Wer sich in dem Akronym nicht richtig enthalten fühle, könne das durch ein Sternchen kompensieren: FLINTA*. Zu bedenken sei auch, dass das L in FLINTA sich "weniger auf eine sexuelle/romantische Orientierung als auf deren gesellschaftliche Verknüpfung mit geschlechtlichen Normen und die daraus folgenden möglichen Auswirkungen auf lesbische Personen" beziehe.
Nicht nur in diesem Wörterbuchartikel wird versucht, den Spezialjargon durch Spezialjargon zu erläutern. Darin zeigt sich nicht nur die mangelnde Fähigkeit der Insider-Autoren, sich Lesern außerhalb ihrer Welt verständlich zu machen. Deutlich wird auch die Hermetik einer Sprache, die nicht auf Kommunikation, sondern auf Präsentation der eigenen Identität und Kleingruppenzugehörigkeit ausgelegt ist. Grundlage der diversitätspolitischen Nomenklatur ist die Überzeugung, dass die geschlechtliche Identität wenig bis nichts mit den Chromosomen zu tun hat, sondern eine soziale Rolle ist, in die man schlüpfen und die man wechseln kann.
Die daraus resultierende "Fluidität" macht nun aber Geschlechtskategorien nicht überflüssig. Sie vervielfacht sie vielmehr, denn angesichts eines sich immer weiter auffächernden Spektrums steigt das Bedürfnis, sich selbst in dieser Unübersichtlichkeit sprachlich zu verorten und die sexuelle Orientierung zum Kernbestandteil der persönlichen Identität zu erheben. Der unter Diversitätsaktivisten verbreitete Glaube, dass "der Diskurs" die Realität forme, verleiht diesen verbalen Konstrukten eine zusätzliche Schlüsselrolle.
Je feiner die Gender-Nuancen werden, desto größer ist auch das Bedürfnis nach sprachlich fixierter Abgrenzung. Manche Begrifflichkeiten erinnern an die Etikettierungen des Stalinismus zur Markierung der unterschiedlichen "Abweichler" von der jeweils gültigen Parteilinie. Ein Beispiel ist das Akronym TERF (Trans-Exclusionary Radical Feminist), eine meistens negativ gemeinte Bezeichnung für "Feminist*innen, die trans* Personen aus ihrem Feminismusverständnis ausschließen".
Die bekannteste als "TERF" angeprangerte Person ist Joanne K. Rowling. Die "Harry Potter"-Autorin hat sich in der Transgenderszene viele Feinde gemacht, weil sie die Bedeutung der Biologie für die Geschlechtszuordnung betont und es ablehnt, "Frauen" durch "menstruierende Menschen" zu ersetzen. Dies auch deshalb, weil sie befürchtet, "Transfrauen", die biologisch Männer seien, würden Frauen in Schutzräumen wie Umkleiden oder Toiletten gefährden. Rowling wurde dafür nicht nur "kritisiert", wie es im betreffenden Wörterbuchartikel heißt, sondern sie erhielt zahlreiche Morddrohungen. Die Autorin des Wörterbucheintrags gibt Rowlings Gegnern indes recht. Die Befürchtung, geschützte Räume für Frauen seien gefährdet, entbehrt ihr zufolge jeder Grundlage. Dafür verweist sie auf eine Studie, die 2019 in Massachusetts zu diesem Thema durchgeführt wurde. Was sie nicht erwähnt, ist, dass diese Studie wegen grundlegender empirischer und methodischer Mängel in der Kritik steht, sodass an ihrer Beweiskraft erhebliche Zweifel angebracht sind.
Die meisten Wörterbuchartikel sind durch solche Parteilichkeit gekennzeichnet. Die Autoren haben nicht die nötige Distanz, um unvoreingenommene Informationen über die politischen Hintergründe und Gebrauchsweisen der Wörter und ihre - oft umstrittenen - weltanschaulichen Voraussetzungen zu liefern. Stattdessen dienen die Stichwörter als Aufhänger, um eine Identitätspolitik zu propagieren, deren Kern ein empfundener Minderheiten- und Opferstatus ist, der vor allem Migranten, Transgenderpersonen, religiöse Minderheiten und andere von Aktivisten der Diversitätspolitik anerkannte Gruppen umfasst.
Eine solche Identität samt Wertekanon ist von jedermann fraglos zu akzeptieren; über sie äußern darf sich aber nur der Identitätseigentümer selbst. Wird er hingegen von einem Mitglied der Mehrheitsgesellschaft nach ihr gefragt - "Woher kommen Sie?" -, liegt ein Fall von "Othering" vor. Dazu erfährt man unter dem entsprechenden Stichwort, dass hierdurch Personen als andere, Fremde "konstruiert und hervorgebracht" und dadurch abgewertet werden. Dass die Frage nach der Herkunft ein Ausdruck von Offenheit, Neugier und interessierter Anteilnahme sein könnte, kommt der Autorin nicht in den Sinn.
Außerhalb diversitätspolitischer Fürsorge steht, wer weiß ist. Er lernt im Eintrag "kritisches Weißsein", dass er als Träger dieser Hautfarbe von Geburt an automatisch "privilegiert" ist. Selbst wenn er besten Willen zeigt - schon durch seine bloße Existenz wirkt er als Unterdrücker, denn "die Gesellschaft" sei "objektiv rassistisch". Es handelt sich also um eine Form der Erbsünde, und was dem frommen Christen die Selbstzerknirschung, ist dem kritisch Weißseienden die Selbstanklage mit dem Ziel, schließlich "seine "weiße Identität . . . zu dekonstruieren". Die deutschstämmig-weiße Supermarkt-Kassiererin muss demzufolge bußfertig ihre Privilegien hinterfragen, nicht aber die chinesischstämmige Zahnärztin, die ihr die Einkäufe auf das Transportband stellt.
Mit der "Vielfalt", die das Wörterbuch auf dem Umschlag verkündet, ist es in seinem Inneren nicht weit her. Viele seiner Autoren möchten die Blumen des Diskurses nur in einem von ihnen selbst bestellten Meinungsbeet blühen lassen. Bezeichnend dafür ist der Artikel zur "Meinungsfreiheit". Mit der soll es nämlich ein Ende haben, sobald sich "Hater*innen" und "Rechtspopulist*innen" - beides wird weder definiert noch differenziert - auf sie berufen, wollen sie damit doch in Wahrheit nur die Demokratie untergraben. Die zahlreichen Bestrebungen aus dem links-diversen Spektrum, unliebsame Positionen aus dem Diskurs zu verbannen, finden hingegen keine Erwähnung.
"Cancel Culture" und die "politische Korrektheit" bezeichnen nach Meinung der Wörterbuchautoren keine Realität, sondern dienen als bloße Kampfvokabeln zur Diskreditierung des Engagements gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Diese Selbstimmunisierung gegen Kritik findet sich auch im Artikel zu "woke". Diente das Wort seit den Sechzigerjahren zur Selbstzuschreibung eines progressiven Bewusstseins, hat es heute einen zunehmend negativen Beiklang, weil die damit verbundene Geisteshaltung von vielen Zeitgenossen als selbstgerecht und illiberal empfunden wird. Für die Autorin spiegelt sich in diesem Bedeutungswandel aber nur eine Abwehrhaltung, "um von gesellschaftlichen Problemen abzulenken". Das Wort "Bias", so erfährt man in diesem "anderen" Wörterbuch, bezeichnet "Denkmuster, die Verzerrungen oder Stereotypen beinhalten". Es ist genau das, was dieses Nachschlagewerk untauglich macht. WOLFGANG KRISCHKE
Sebastian Pertsch (Hrsg.): "Vielfalt".
Das andere Wörterbuch.
Dudenverlag, Berlin 2023. 272 S., Abb., br.,
28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main