Luc Gaspard, Kommissar in Marseille, soll eine attraktive Stelle bei Europol antreten, ein Karrieresprung; seine Frau Miyu plant schon den Umzug mit den beiden Kindern nach Den Haag. Aber Luc hat tiefe Zweifel an seiner Ehe, seinem Leben überhaupt. Bei einer Dienstreise nach Salzburg lernt er Ann kennen, die vor acht Monaten ihren Mann verloren hat. Jetzt will sie aus der Trauer ausbrechen, sucht das Unbekannte, Neue. Voneinander angezogen, brechen Luc und Ann auf, beide sehen plötzlich neue Möglichkeiten. Doch nach einer gemeinsam verbrachten Nacht folgt Ann ihren Impulsen bedingungslos und fährt alleine weiter - in Lucs Wagen. Während dieser sich widerwillig nach Hause zu seiner beunruhigten Frau durchschlägt, hat auch Anns erwachsener Sohn, der sich trotz vieler Spannungen um seine Mutter sorgt, die Adresse der Gaspards herausgefunden. In Marseille kreuzen sich die Wege - und die Fragen holen sie ein, denen alle vier lange ausgewichen sind. Katerina Poladjan erzählt wunderbar zart und zugleich kraftvoll von Menschen, denen ihr Leben zu entgleiten droht. In erst zufälligen, bald schicksalhaften Begegnungen müssen sie erkennen, wofür es sich zu kämpfen lohnt - auch gegen den größten Gegner, gegen sich selbst.
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Das Kunststück, in aller stilistischer Gelassenheit von auseinanderkrachenden Existenzen zu erzählen, ist Poladjan gelungen ... Katerina Poladjan kann sehr viel, sie kann in wenigen Sätzen Geschichten erzählen, für die manche andere viele Seiten brauchen. Die Welt
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Katerina Poladjans Roman "Vielleicht Marseille" erscheint Wolfgang Schneider ein wenig wie die Mischung aus einem finnischen und einem französischen Film. Denn die in Russland geborene Autorin und Schauspielerin weiß in wunderbar leichten und komischen, filmisch anmutenden und genau beobachteten Szenen von Liebesunglück, Einsamkeit, Verzweiflung, Vergänglichkeit und Tod zu erzählen, schwärmt der Kritiker. Auch wenn Schneider mit dem Schluss dieser Komödie nicht ganz zufrieden ist, hat er diesen ebenso skurrilen wie melancholischen Roman mit viel Vergnügen gelesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2016Kleiner Kontrollverlust
Katerina Poladjans Roman "Vielleicht Marseille"
Die Biologin Annerose hat vor acht Monaten ihren Mann Ed beerdigt. Nun verlässt sie das von Erinnerungen kontaminierte Haus und den zweiundzwanzigjährigen Sohn, setzt sich ins Auto und beginnt eine ziellose Flucht. Im Hotel trifft sie auf einen freundlichen, leicht verkaterten Mann, der sich selbst auf der Schwelle zu einem neuen Leben befindet: Kommissar Luc Gaspard aus Marseille, der in den nächsten Stunden auf einem Europol-Kongress eine Antrittsrede halten soll, um dann auf eine angesehene Position nach Den Haag befördert zu werden. Er ist verheiratet mit einer Japanerin, hat zwei kleine Kinder.
Wer die Vergangenheit hinter sich lassen will, zeigt sich oft empfänglich für den Reiz von Abwegen. Annerose und Luc sind wie geschaffen für einen kleinen gemeinsamen Kontrollverlust, der sich in leicht entrückten Verhaltensweisen ankündigt: Ann lässt ihre Serviette fallen, kriecht unter den Tisch und möchte am liebsten ihre Wange auf den Schuh von Herrn Gaspard legen. Wenige Stunden später - der Kommissar lässt seinen Vortrag sausen - befinden sich die beiden zusammen im Auto, Richtung Südfrankreich. Nach einer Liebesnacht im Berggasthof verschwindet Ann jedoch mit Lucs Auto, das ihn doch nur zurück zu seiner Frau Miyu bringen könnte. Der Kommissar irrt bei Gewitter durch die Berge.
Katerina Poladjan, 1971 in Moskau geboren, ist nicht nur Autorin, sondern auch Schauspielerin. Die filmische Qualität ihres Erzählens zeigt sich in der Anschaulichkeit und Genauigkeit der Beschreibungen, in den Kamerafahrten auf sprechende Details und in der szenischen Präsenz - nicht zufällig ist der Roman auch in der Zeitform des Präsens verfasst. Auch die kurzen Auftritte von Nebenfiguren hat man bei der Lektüre vor sich wie Filmszenen, etwa wenn Luc, dem schönen Schrecken der Berge entronnen, im Schlafwagen nach Marseille auf einen Mann trifft, der über ihm in einem weißen Anzug im Bett liegt und unaufhörlich summt und wimmert. Nur ein Satz definiert die Qualen des Schlaflosen: Er habe viel Geld verloren. "Luc hätte gern mehr über ihn erfahren. Zum Beispiel, wohin er jetzt seinen Ruin tragen wird."
Wohin trägt man seine Niederlagen? Die Welthaltigkeit des kleinen Romans resultiert aus vielen solcher Szenen, die in wenigen Sätzen Lebenssituationen und Schicksale umreißen. So leicht und verspielt Poladjans Erzählen anmutet, es umkreist dunkle Erfahrungen von Liebesunglück, Einsamkeit, Verzweiflung, Tod und Hinfälligkeit: "Vier Monate vorher hatten sie seinen Geburtstag gefeiert, und nun war seine Trauerfeier vorbei, mit den gleichen Schnittchen und dem gleichen Wein und denselben Gästen."
Poladjans Figuren sitzt ein unsichtbarer Schrecken im Nacken, kaum erstaunlich, dass sie neben sich stehen und sich selbst abhanden zu kommen drohen. Der Betrunkene, den Luc unterwegs bei einer skurrilen Pantomime beobachtet, ist deshalb eine symbolische Figur: Er will seine Mütze aufsetzen, findet den Kopf aber nicht. Die Autorin findet ihrerseits keinen ganz überzeugenden Schluss für ihre Komödie der Irrungen. Trotzdem: Nach dem Debütroman "In einer Nacht, woanders" ist dies der zweite Talentbeweis einer Schriftstellerin, die Melancholie und Skurrilität, Lakonie und Seufzerton zu verbinden weiß. Wenn Finnen französische Filme drehen würden, käme dabei womöglich etwas heraus wie "Vielleicht Marseille".
WOLFGANG SCHNEIDER
Katerina Poladjan:
"Vielleicht Marseille".
Roman.
Verlag Rowohlt Berlin,
Berlin 2015. 176 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Katerina Poladjans Roman "Vielleicht Marseille"
Die Biologin Annerose hat vor acht Monaten ihren Mann Ed beerdigt. Nun verlässt sie das von Erinnerungen kontaminierte Haus und den zweiundzwanzigjährigen Sohn, setzt sich ins Auto und beginnt eine ziellose Flucht. Im Hotel trifft sie auf einen freundlichen, leicht verkaterten Mann, der sich selbst auf der Schwelle zu einem neuen Leben befindet: Kommissar Luc Gaspard aus Marseille, der in den nächsten Stunden auf einem Europol-Kongress eine Antrittsrede halten soll, um dann auf eine angesehene Position nach Den Haag befördert zu werden. Er ist verheiratet mit einer Japanerin, hat zwei kleine Kinder.
Wer die Vergangenheit hinter sich lassen will, zeigt sich oft empfänglich für den Reiz von Abwegen. Annerose und Luc sind wie geschaffen für einen kleinen gemeinsamen Kontrollverlust, der sich in leicht entrückten Verhaltensweisen ankündigt: Ann lässt ihre Serviette fallen, kriecht unter den Tisch und möchte am liebsten ihre Wange auf den Schuh von Herrn Gaspard legen. Wenige Stunden später - der Kommissar lässt seinen Vortrag sausen - befinden sich die beiden zusammen im Auto, Richtung Südfrankreich. Nach einer Liebesnacht im Berggasthof verschwindet Ann jedoch mit Lucs Auto, das ihn doch nur zurück zu seiner Frau Miyu bringen könnte. Der Kommissar irrt bei Gewitter durch die Berge.
Katerina Poladjan, 1971 in Moskau geboren, ist nicht nur Autorin, sondern auch Schauspielerin. Die filmische Qualität ihres Erzählens zeigt sich in der Anschaulichkeit und Genauigkeit der Beschreibungen, in den Kamerafahrten auf sprechende Details und in der szenischen Präsenz - nicht zufällig ist der Roman auch in der Zeitform des Präsens verfasst. Auch die kurzen Auftritte von Nebenfiguren hat man bei der Lektüre vor sich wie Filmszenen, etwa wenn Luc, dem schönen Schrecken der Berge entronnen, im Schlafwagen nach Marseille auf einen Mann trifft, der über ihm in einem weißen Anzug im Bett liegt und unaufhörlich summt und wimmert. Nur ein Satz definiert die Qualen des Schlaflosen: Er habe viel Geld verloren. "Luc hätte gern mehr über ihn erfahren. Zum Beispiel, wohin er jetzt seinen Ruin tragen wird."
Wohin trägt man seine Niederlagen? Die Welthaltigkeit des kleinen Romans resultiert aus vielen solcher Szenen, die in wenigen Sätzen Lebenssituationen und Schicksale umreißen. So leicht und verspielt Poladjans Erzählen anmutet, es umkreist dunkle Erfahrungen von Liebesunglück, Einsamkeit, Verzweiflung, Tod und Hinfälligkeit: "Vier Monate vorher hatten sie seinen Geburtstag gefeiert, und nun war seine Trauerfeier vorbei, mit den gleichen Schnittchen und dem gleichen Wein und denselben Gästen."
Poladjans Figuren sitzt ein unsichtbarer Schrecken im Nacken, kaum erstaunlich, dass sie neben sich stehen und sich selbst abhanden zu kommen drohen. Der Betrunkene, den Luc unterwegs bei einer skurrilen Pantomime beobachtet, ist deshalb eine symbolische Figur: Er will seine Mütze aufsetzen, findet den Kopf aber nicht. Die Autorin findet ihrerseits keinen ganz überzeugenden Schluss für ihre Komödie der Irrungen. Trotzdem: Nach dem Debütroman "In einer Nacht, woanders" ist dies der zweite Talentbeweis einer Schriftstellerin, die Melancholie und Skurrilität, Lakonie und Seufzerton zu verbinden weiß. Wenn Finnen französische Filme drehen würden, käme dabei womöglich etwas heraus wie "Vielleicht Marseille".
WOLFGANG SCHNEIDER
Katerina Poladjan:
"Vielleicht Marseille".
Roman.
Verlag Rowohlt Berlin,
Berlin 2015. 176 S., geb., 18,95 [Euro].
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