Ann, Biologin aus München, flieht vor der Trauer um ihren Mann. Luc, Kommissar aus Marseille, ist auf Dienstreise in Salzburg. Dort treffen sie sich in dem schwindelerregenden Gefühl, alles hinter sich zu lassen: Beruf, Kinder, Familie, die eigene Geschichte. Gemeinsam wagen Ann und Luc einen Ausbruch ins Unbekannte und begegnen doch - vielleicht in Marseille - dem Verdrängt-Bekannten.
Katerina Poladjan erzählt vieldeutig, komisch und filmisch von Menschen, die erkennen müssen, wofür es sich zu kämpfen lohnt - auch gegen den größten Gegner, gegen sich selbst.
Katerina Poladjan erzählt vieldeutig, komisch und filmisch von Menschen, die erkennen müssen, wofür es sich zu kämpfen lohnt - auch gegen den größten Gegner, gegen sich selbst.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.11.2015Subkutan explosiv
Kann man so erzählen, wie Godard filmt? Katerina Poladjans kühner Roman „Vielleicht Marseille“
Warum in Zeiten wie diesen ein Kammerspiel lesen, wie es die Schriftstellerin und Schauspielerin Katerina Poladjan in ihrem zweiten Roman „Vielleicht Marseille“ inszeniert? Berechtigte Frage, denn Bücher, auch so schmale, kosten Lebenszeit, in der man denken und handeln, für ein mit unserer Verfassung vereinbares Asylrecht eintreten und gegen Terrorismus, bürgerlichen Kleinmut und rassistischen Stumpfsinn demonstrieren kann. Poladjans Roman hat mit all dem nichts zu tun. Sein Plot ist mit drei Worten umschrieben: Frau trifft Mann. Zwei Fremde begegnen sich und reden ernsthaft miteinander. So einfach und so utopisch ist die Situation.
„Vielleicht Marseille“ beginnt wie Ibsens Drama „Nora oder ein Puppenheim“ endet: „Ann steht in der Tür, ihren Koffer in der einen, den Schlüssel in der anderen Hand, dann wendet sie sich zum Gehen.“ Ann verlässt ihr Haus, ihren erwachsenen Sohn und ihr bisheriges Leben. „Sie wird sich um nichts mehr kümmern.“ Sie steigt ins Autor, fährt nach Salzburg und trifft dort zufällig den Polizisten Jean-Luc Gaspard. Auslöser für diesen Ab- und Aufbruch ist der Tod von Anns Mann. Sie setzt der Plötzlichkeit des Todes eine eigene Endgültigkeit entgegen. Luc hingegen steht auf andere Weise an einer Schwelle, scheut aber davor zurück, sie zu übertreten: Er soll befördert werden und plant mit seiner Familie den Umzug nach Den Haag.
Dass Luc Anns Auftauchen nutzt, um mit ihr zu verschwinden, scheint noch übertriebener zu sein als Anns Bedürfnis neu anzufangen. Was für ein Stück wird hier aufgeführt? Eines, das nach dem besseren Leben fragt und sich den Aufbruch als reale Möglichkeit vorstellt. Luc hält plötzlich inne. Er muss auf einmal wissen, „wann er gegenwärtig war, wann er über die Ereignisse in seinem Leben hinweggeglitten ist, welche Gedanken kleinlich, welche brauchbar waren.“
Im Hintergrund dieses Textes steht nicht nur Noras revolutionäre Geste, die Poladjan vom Beginn der Moderne ins 21. Jahrhundert transponiert und als ein Heraustreten aus sich automatisch abspulenden Lebensläufen reaktiviert. Man könnte aber auch von Godards heiterer und trostloser Melancholie sprechen. Überhaupt: Hat man einmal Jean-Luc Godard als Paten des Romans erkannt, wird klar, dass die Autorin ihrerseits aus automatisierten Erzählweisen heraustritt. Sie erzeugt Spannung atmosphärisch, zieht die theatrale Inszenierung einem pseudo-authentischen Realismus vor und setzt auf den Verstand, nicht auf Empathie und Identifikation.
Die Distanz, mit der die Figuren sich selbst von außen zu betrachten scheinen, erinnert manchmal an die kühlen Blick- und Sprechweisen in Peter Stamms Erzählungen, die interessanterweise in Deutschland oftmals weniger gut ankommen als in den USA, wo genau diese Form geschätzt wird. Stilistisch könnte man bei „Vielleicht Marseille“ von einem in den Details hyperrealistischen Traumspiel sprechen, das subkutan explosiv wirkt. Poladjans Figuren wühlen Ängste und Wünsche und Gedanken auf, die für alle im Untergrund des Bewusstseins lauern.
Aber nicht nur deswegen ist dieses Buch bemerkenswert. Katerina Poladjan wurde 1971 in Moskau geboren und kam als Kind nach Deutschland. Ihr Debüt „In einer Nacht, woanders“ (2011) handelte zwar noch von Herkunft, Ankunft und den Schwierigkeiten heutiger Identitäten und beruhte wohl auch auf Lebenserfahrungen der Autorin. Aber schon dieser erste Roman verweigerte sich dem Profit, den er aus der Zuordnung „Migrationsliteratur“ hätte schlagen können.
„Vielleicht Marseille“ ist nun noch radikaler im künstlerischen Anspruch, eine feine literarische Etüde, der Auftakt für ein Werk, dessen Umrisse man schon erahnen kann. Dieser Roman steht quer zu den Spannungs-Dramaturgien, dem Authentizitäts-Realismus und den Plotmaschinen des seriellen Erzählens, das derzeit unsere Aufmerksamkeitsmöglichkeiten extrem prägt. Ein Erzählen, das dem Leser Platz lässt und die Freiheit der Entscheidung, ein Erzählen, wie es Jean-Luc Godard im Film perfektioniert hat, ist nicht en vogue.
Das erklärt vielleicht auch die polarisierten Reaktionen der Kritik. Als sich Poladjan mit Auszügen aus „Vielleicht Marseille“ um den Alfred-Döblin-Preis und den Klagenfurter Bachmann-Preis bewarb, gab es gelangweiltes Unverständnis und Irritation über die kühle Künstlichkeit auf der einen, enthusiastische Äußerungen über Poladjans Gespür für existenzielle Situationen auf der anderen Seite. Ihr Versuch, Godards Schnitt-Technik, die „fehlerhaften“ Perspektivwechsel, die Brechung der räumlichen und zeitlichen Kontinuität, ins Literarische zu übertragen, geht auf den ersten Blick nicht hundertprozentig auf. Auf den zweiten erreicht Poladjan genau das, was Godard wichtig war: die Kunst, „das Gemachte“ zu zeigen oder zumindest nicht zu verstecken.
Die Schwächen liegen woanders. Während es der Autorin immer wieder hervorragend gelingt, komplexe Zusammenhänge, zum Beispiel Anns Ehe- und Lebensgeschichte, durch ein einziges beiläufig erwähntes Detail wie eine zerriebene Papierserviette aufscheinen zu lassen, machen sich bei der Erweiterung der Handlungsebenen Probleme bemerkbar. Durch den Raum- und Perspektivwechsel zu Anns Sohn Theo und Lucs Frau Miyu gibt die Autorin ihren Hauptfiguren einen Hintergrund und verankert sie im 21. Jahrhundert, vor allem durch die so sichtbar werdenden Formen des Zusammenlebens.
Dass diese so einfache wie ambitionierte dramaturgische Entscheidung nicht ganz aufgeht, liegt weniger an der Erzähl-Technik als an den beiden Nebenfiguren. Die atmosphärische Spannung zwischen Ann und Luc, die sie tatsächlich wie Figuren der Nouvelle Vague wirken lässt, verfliegt, sobald Poladjan zu Theo und Miyu schwenkt und verflüchtigt sich am Ende völlig. Fraglich, ob die Ausdehnung zum Roman es wert war, die Radikalität zu schwächen, mit der Poladjan den Möglichkeitssinn heutiger Existenzen eines gut situierten Milieus erzählerisch erforscht.
Fraglos hingegen ist, dass „Vielleicht Marseille“ eine Erzählerin zeigt, die ohne große Geste für die Kunst und für eine Lebensbetrachtung aus der Distanz einsteht. Fraglos ist auch, warum es gut ist, ein solches Buch heute zu lesen. In einer Zeit, in der die bürgerliche Mitte sich selbst aus den Augen verliert und die Herkunft von Ängsten und Wünschen sichtlich nicht mehr reflektieren will, braucht es den Verstand noch vor der Empathie. Auch und gerade in der Literatur. Und es braucht solche Bücher, die den Mut haben, die Konsequenzen für die Form ihres Erzählens zu ziehen.
INSA WILKE
Der Roman beginnt wie
Ibsens „Nora“: Eine Frau geht.
Aber sie bleibt nicht allein
Authentisch? Muss nicht sein: Katerina Poladjan setzt auf Distanz.
Foto: Christine Fenzl
Katerina Poladjan: Vielleicht Marseille. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2015. 176 Seiten, 18,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kann man so erzählen, wie Godard filmt? Katerina Poladjans kühner Roman „Vielleicht Marseille“
Warum in Zeiten wie diesen ein Kammerspiel lesen, wie es die Schriftstellerin und Schauspielerin Katerina Poladjan in ihrem zweiten Roman „Vielleicht Marseille“ inszeniert? Berechtigte Frage, denn Bücher, auch so schmale, kosten Lebenszeit, in der man denken und handeln, für ein mit unserer Verfassung vereinbares Asylrecht eintreten und gegen Terrorismus, bürgerlichen Kleinmut und rassistischen Stumpfsinn demonstrieren kann. Poladjans Roman hat mit all dem nichts zu tun. Sein Plot ist mit drei Worten umschrieben: Frau trifft Mann. Zwei Fremde begegnen sich und reden ernsthaft miteinander. So einfach und so utopisch ist die Situation.
„Vielleicht Marseille“ beginnt wie Ibsens Drama „Nora oder ein Puppenheim“ endet: „Ann steht in der Tür, ihren Koffer in der einen, den Schlüssel in der anderen Hand, dann wendet sie sich zum Gehen.“ Ann verlässt ihr Haus, ihren erwachsenen Sohn und ihr bisheriges Leben. „Sie wird sich um nichts mehr kümmern.“ Sie steigt ins Autor, fährt nach Salzburg und trifft dort zufällig den Polizisten Jean-Luc Gaspard. Auslöser für diesen Ab- und Aufbruch ist der Tod von Anns Mann. Sie setzt der Plötzlichkeit des Todes eine eigene Endgültigkeit entgegen. Luc hingegen steht auf andere Weise an einer Schwelle, scheut aber davor zurück, sie zu übertreten: Er soll befördert werden und plant mit seiner Familie den Umzug nach Den Haag.
Dass Luc Anns Auftauchen nutzt, um mit ihr zu verschwinden, scheint noch übertriebener zu sein als Anns Bedürfnis neu anzufangen. Was für ein Stück wird hier aufgeführt? Eines, das nach dem besseren Leben fragt und sich den Aufbruch als reale Möglichkeit vorstellt. Luc hält plötzlich inne. Er muss auf einmal wissen, „wann er gegenwärtig war, wann er über die Ereignisse in seinem Leben hinweggeglitten ist, welche Gedanken kleinlich, welche brauchbar waren.“
Im Hintergrund dieses Textes steht nicht nur Noras revolutionäre Geste, die Poladjan vom Beginn der Moderne ins 21. Jahrhundert transponiert und als ein Heraustreten aus sich automatisch abspulenden Lebensläufen reaktiviert. Man könnte aber auch von Godards heiterer und trostloser Melancholie sprechen. Überhaupt: Hat man einmal Jean-Luc Godard als Paten des Romans erkannt, wird klar, dass die Autorin ihrerseits aus automatisierten Erzählweisen heraustritt. Sie erzeugt Spannung atmosphärisch, zieht die theatrale Inszenierung einem pseudo-authentischen Realismus vor und setzt auf den Verstand, nicht auf Empathie und Identifikation.
Die Distanz, mit der die Figuren sich selbst von außen zu betrachten scheinen, erinnert manchmal an die kühlen Blick- und Sprechweisen in Peter Stamms Erzählungen, die interessanterweise in Deutschland oftmals weniger gut ankommen als in den USA, wo genau diese Form geschätzt wird. Stilistisch könnte man bei „Vielleicht Marseille“ von einem in den Details hyperrealistischen Traumspiel sprechen, das subkutan explosiv wirkt. Poladjans Figuren wühlen Ängste und Wünsche und Gedanken auf, die für alle im Untergrund des Bewusstseins lauern.
Aber nicht nur deswegen ist dieses Buch bemerkenswert. Katerina Poladjan wurde 1971 in Moskau geboren und kam als Kind nach Deutschland. Ihr Debüt „In einer Nacht, woanders“ (2011) handelte zwar noch von Herkunft, Ankunft und den Schwierigkeiten heutiger Identitäten und beruhte wohl auch auf Lebenserfahrungen der Autorin. Aber schon dieser erste Roman verweigerte sich dem Profit, den er aus der Zuordnung „Migrationsliteratur“ hätte schlagen können.
„Vielleicht Marseille“ ist nun noch radikaler im künstlerischen Anspruch, eine feine literarische Etüde, der Auftakt für ein Werk, dessen Umrisse man schon erahnen kann. Dieser Roman steht quer zu den Spannungs-Dramaturgien, dem Authentizitäts-Realismus und den Plotmaschinen des seriellen Erzählens, das derzeit unsere Aufmerksamkeitsmöglichkeiten extrem prägt. Ein Erzählen, das dem Leser Platz lässt und die Freiheit der Entscheidung, ein Erzählen, wie es Jean-Luc Godard im Film perfektioniert hat, ist nicht en vogue.
Das erklärt vielleicht auch die polarisierten Reaktionen der Kritik. Als sich Poladjan mit Auszügen aus „Vielleicht Marseille“ um den Alfred-Döblin-Preis und den Klagenfurter Bachmann-Preis bewarb, gab es gelangweiltes Unverständnis und Irritation über die kühle Künstlichkeit auf der einen, enthusiastische Äußerungen über Poladjans Gespür für existenzielle Situationen auf der anderen Seite. Ihr Versuch, Godards Schnitt-Technik, die „fehlerhaften“ Perspektivwechsel, die Brechung der räumlichen und zeitlichen Kontinuität, ins Literarische zu übertragen, geht auf den ersten Blick nicht hundertprozentig auf. Auf den zweiten erreicht Poladjan genau das, was Godard wichtig war: die Kunst, „das Gemachte“ zu zeigen oder zumindest nicht zu verstecken.
Die Schwächen liegen woanders. Während es der Autorin immer wieder hervorragend gelingt, komplexe Zusammenhänge, zum Beispiel Anns Ehe- und Lebensgeschichte, durch ein einziges beiläufig erwähntes Detail wie eine zerriebene Papierserviette aufscheinen zu lassen, machen sich bei der Erweiterung der Handlungsebenen Probleme bemerkbar. Durch den Raum- und Perspektivwechsel zu Anns Sohn Theo und Lucs Frau Miyu gibt die Autorin ihren Hauptfiguren einen Hintergrund und verankert sie im 21. Jahrhundert, vor allem durch die so sichtbar werdenden Formen des Zusammenlebens.
Dass diese so einfache wie ambitionierte dramaturgische Entscheidung nicht ganz aufgeht, liegt weniger an der Erzähl-Technik als an den beiden Nebenfiguren. Die atmosphärische Spannung zwischen Ann und Luc, die sie tatsächlich wie Figuren der Nouvelle Vague wirken lässt, verfliegt, sobald Poladjan zu Theo und Miyu schwenkt und verflüchtigt sich am Ende völlig. Fraglich, ob die Ausdehnung zum Roman es wert war, die Radikalität zu schwächen, mit der Poladjan den Möglichkeitssinn heutiger Existenzen eines gut situierten Milieus erzählerisch erforscht.
Fraglos hingegen ist, dass „Vielleicht Marseille“ eine Erzählerin zeigt, die ohne große Geste für die Kunst und für eine Lebensbetrachtung aus der Distanz einsteht. Fraglos ist auch, warum es gut ist, ein solches Buch heute zu lesen. In einer Zeit, in der die bürgerliche Mitte sich selbst aus den Augen verliert und die Herkunft von Ängsten und Wünschen sichtlich nicht mehr reflektieren will, braucht es den Verstand noch vor der Empathie. Auch und gerade in der Literatur. Und es braucht solche Bücher, die den Mut haben, die Konsequenzen für die Form ihres Erzählens zu ziehen.
INSA WILKE
Der Roman beginnt wie
Ibsens „Nora“: Eine Frau geht.
Aber sie bleibt nicht allein
Authentisch? Muss nicht sein: Katerina Poladjan setzt auf Distanz.
Foto: Christine Fenzl
Katerina Poladjan: Vielleicht Marseille. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2015. 176 Seiten, 18,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Katerina Poladjans Roman "Vielleicht Marseille" erscheint Wolfgang Schneider ein wenig wie die Mischung aus einem finnischen und einem französischen Film. Denn die in Russland geborene Autorin und Schauspielerin weiß in wunderbar leichten und komischen, filmisch anmutenden und genau beobachteten Szenen von Liebesunglück, Einsamkeit, Verzweiflung, Vergänglichkeit und Tod zu erzählen, schwärmt der Kritiker. Auch wenn Schneider mit dem Schluss dieser Komödie nicht ganz zufrieden ist, hat er diesen ebenso skurrilen wie melancholischen Roman mit viel Vergnügen gelesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2016Kleiner Kontrollverlust
Katerina Poladjans Roman "Vielleicht Marseille"
Die Biologin Annerose hat vor acht Monaten ihren Mann Ed beerdigt. Nun verlässt sie das von Erinnerungen kontaminierte Haus und den zweiundzwanzigjährigen Sohn, setzt sich ins Auto und beginnt eine ziellose Flucht. Im Hotel trifft sie auf einen freundlichen, leicht verkaterten Mann, der sich selbst auf der Schwelle zu einem neuen Leben befindet: Kommissar Luc Gaspard aus Marseille, der in den nächsten Stunden auf einem Europol-Kongress eine Antrittsrede halten soll, um dann auf eine angesehene Position nach Den Haag befördert zu werden. Er ist verheiratet mit einer Japanerin, hat zwei kleine Kinder.
Wer die Vergangenheit hinter sich lassen will, zeigt sich oft empfänglich für den Reiz von Abwegen. Annerose und Luc sind wie geschaffen für einen kleinen gemeinsamen Kontrollverlust, der sich in leicht entrückten Verhaltensweisen ankündigt: Ann lässt ihre Serviette fallen, kriecht unter den Tisch und möchte am liebsten ihre Wange auf den Schuh von Herrn Gaspard legen. Wenige Stunden später - der Kommissar lässt seinen Vortrag sausen - befinden sich die beiden zusammen im Auto, Richtung Südfrankreich. Nach einer Liebesnacht im Berggasthof verschwindet Ann jedoch mit Lucs Auto, das ihn doch nur zurück zu seiner Frau Miyu bringen könnte. Der Kommissar irrt bei Gewitter durch die Berge.
Katerina Poladjan, 1971 in Moskau geboren, ist nicht nur Autorin, sondern auch Schauspielerin. Die filmische Qualität ihres Erzählens zeigt sich in der Anschaulichkeit und Genauigkeit der Beschreibungen, in den Kamerafahrten auf sprechende Details und in der szenischen Präsenz - nicht zufällig ist der Roman auch in der Zeitform des Präsens verfasst. Auch die kurzen Auftritte von Nebenfiguren hat man bei der Lektüre vor sich wie Filmszenen, etwa wenn Luc, dem schönen Schrecken der Berge entronnen, im Schlafwagen nach Marseille auf einen Mann trifft, der über ihm in einem weißen Anzug im Bett liegt und unaufhörlich summt und wimmert. Nur ein Satz definiert die Qualen des Schlaflosen: Er habe viel Geld verloren. "Luc hätte gern mehr über ihn erfahren. Zum Beispiel, wohin er jetzt seinen Ruin tragen wird."
Wohin trägt man seine Niederlagen? Die Welthaltigkeit des kleinen Romans resultiert aus vielen solcher Szenen, die in wenigen Sätzen Lebenssituationen und Schicksale umreißen. So leicht und verspielt Poladjans Erzählen anmutet, es umkreist dunkle Erfahrungen von Liebesunglück, Einsamkeit, Verzweiflung, Tod und Hinfälligkeit: "Vier Monate vorher hatten sie seinen Geburtstag gefeiert, und nun war seine Trauerfeier vorbei, mit den gleichen Schnittchen und dem gleichen Wein und denselben Gästen."
Poladjans Figuren sitzt ein unsichtbarer Schrecken im Nacken, kaum erstaunlich, dass sie neben sich stehen und sich selbst abhanden zu kommen drohen. Der Betrunkene, den Luc unterwegs bei einer skurrilen Pantomime beobachtet, ist deshalb eine symbolische Figur: Er will seine Mütze aufsetzen, findet den Kopf aber nicht. Die Autorin findet ihrerseits keinen ganz überzeugenden Schluss für ihre Komödie der Irrungen. Trotzdem: Nach dem Debütroman "In einer Nacht, woanders" ist dies der zweite Talentbeweis einer Schriftstellerin, die Melancholie und Skurrilität, Lakonie und Seufzerton zu verbinden weiß. Wenn Finnen französische Filme drehen würden, käme dabei womöglich etwas heraus wie "Vielleicht Marseille".
WOLFGANG SCHNEIDER
Katerina Poladjan:
"Vielleicht Marseille".
Roman.
Verlag Rowohlt Berlin,
Berlin 2015. 176 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Katerina Poladjans Roman "Vielleicht Marseille"
Die Biologin Annerose hat vor acht Monaten ihren Mann Ed beerdigt. Nun verlässt sie das von Erinnerungen kontaminierte Haus und den zweiundzwanzigjährigen Sohn, setzt sich ins Auto und beginnt eine ziellose Flucht. Im Hotel trifft sie auf einen freundlichen, leicht verkaterten Mann, der sich selbst auf der Schwelle zu einem neuen Leben befindet: Kommissar Luc Gaspard aus Marseille, der in den nächsten Stunden auf einem Europol-Kongress eine Antrittsrede halten soll, um dann auf eine angesehene Position nach Den Haag befördert zu werden. Er ist verheiratet mit einer Japanerin, hat zwei kleine Kinder.
Wer die Vergangenheit hinter sich lassen will, zeigt sich oft empfänglich für den Reiz von Abwegen. Annerose und Luc sind wie geschaffen für einen kleinen gemeinsamen Kontrollverlust, der sich in leicht entrückten Verhaltensweisen ankündigt: Ann lässt ihre Serviette fallen, kriecht unter den Tisch und möchte am liebsten ihre Wange auf den Schuh von Herrn Gaspard legen. Wenige Stunden später - der Kommissar lässt seinen Vortrag sausen - befinden sich die beiden zusammen im Auto, Richtung Südfrankreich. Nach einer Liebesnacht im Berggasthof verschwindet Ann jedoch mit Lucs Auto, das ihn doch nur zurück zu seiner Frau Miyu bringen könnte. Der Kommissar irrt bei Gewitter durch die Berge.
Katerina Poladjan, 1971 in Moskau geboren, ist nicht nur Autorin, sondern auch Schauspielerin. Die filmische Qualität ihres Erzählens zeigt sich in der Anschaulichkeit und Genauigkeit der Beschreibungen, in den Kamerafahrten auf sprechende Details und in der szenischen Präsenz - nicht zufällig ist der Roman auch in der Zeitform des Präsens verfasst. Auch die kurzen Auftritte von Nebenfiguren hat man bei der Lektüre vor sich wie Filmszenen, etwa wenn Luc, dem schönen Schrecken der Berge entronnen, im Schlafwagen nach Marseille auf einen Mann trifft, der über ihm in einem weißen Anzug im Bett liegt und unaufhörlich summt und wimmert. Nur ein Satz definiert die Qualen des Schlaflosen: Er habe viel Geld verloren. "Luc hätte gern mehr über ihn erfahren. Zum Beispiel, wohin er jetzt seinen Ruin tragen wird."
Wohin trägt man seine Niederlagen? Die Welthaltigkeit des kleinen Romans resultiert aus vielen solcher Szenen, die in wenigen Sätzen Lebenssituationen und Schicksale umreißen. So leicht und verspielt Poladjans Erzählen anmutet, es umkreist dunkle Erfahrungen von Liebesunglück, Einsamkeit, Verzweiflung, Tod und Hinfälligkeit: "Vier Monate vorher hatten sie seinen Geburtstag gefeiert, und nun war seine Trauerfeier vorbei, mit den gleichen Schnittchen und dem gleichen Wein und denselben Gästen."
Poladjans Figuren sitzt ein unsichtbarer Schrecken im Nacken, kaum erstaunlich, dass sie neben sich stehen und sich selbst abhanden zu kommen drohen. Der Betrunkene, den Luc unterwegs bei einer skurrilen Pantomime beobachtet, ist deshalb eine symbolische Figur: Er will seine Mütze aufsetzen, findet den Kopf aber nicht. Die Autorin findet ihrerseits keinen ganz überzeugenden Schluss für ihre Komödie der Irrungen. Trotzdem: Nach dem Debütroman "In einer Nacht, woanders" ist dies der zweite Talentbeweis einer Schriftstellerin, die Melancholie und Skurrilität, Lakonie und Seufzerton zu verbinden weiß. Wenn Finnen französische Filme drehen würden, käme dabei womöglich etwas heraus wie "Vielleicht Marseille".
WOLFGANG SCHNEIDER
Katerina Poladjan:
"Vielleicht Marseille".
Roman.
Verlag Rowohlt Berlin,
Berlin 2015. 176 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Kunststück, in aller stilistischer Gelassenheit von auseinanderkrachenden Existenzen zu erzählen, ist Poladjan gelungen ... Katerina Poladjan kann sehr viel, sie kann in wenigen Sätzen Geschichten erzählen, für die manche andere viele Seiten brauchen. Die Welt