Die Volksrepublik China ist kein so homogener Einheitsstaat wie es der Öffentlichkeit bisweilen erscheinen mag. 56 offiziell anerkannte nationale Minderheiten machen zwar nur acht Prozent der Bevölkerung aus, doch sie bewohnen mehr als die Hälfte des Staatsgebietes - und sie stellen etwa 100 Millionen Menschen. Wie geht China mit diesen Minderheiten um? Welche Traditionen werden gepflegt und wie sieht die politische Teilhabe in China aus? Es zeigt sich, das die Politik der chinesischen Zentralgewalt höchst unterschiedlich ausfällt: sie reicht von "positiver Diskriminierung", d.h. Außerkraftsetzen z.B. des Gebots der Ein-Kind-Familie, bis hin zu militärischer Unterdrückung, z.B. gegenüber Tibetern und Uiguren. In dem Buch wird das "andere China" kompakt und auf dem aktuellen Stand vorgestellt. Ein zentraler Beitrag zum Verständnis Chinas.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.10.2009Hightech-Diktatur und Raubtier-Kapitalismus
Nicht nur die Regimegegner attackieren die chinesische Führung – innerhalb der KP tobt ein Kampf um die Seele der Partei
Als Mark Leonard in der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (Cass) in Peking vorsprach, war er sehr überzeugt von seiner Bedeutung: Direktor für Internationale Politik am Centre for European Reform in London, 20 Mitarbeiter, 25 politische Studien pro Jahr, 50 Seminare, ein wichtiger Think Tank. Wang Luolin, Vizedirektor der Cass, konterte: 50 Forschungszentren, 4000 hauptberufliche Forscher, Chinas hochrangigste akademische Forschungseinrichtung für Philosophie und Sozialwissenschaften. „Ich konnte spüren, wie ich in meinem riesigen Stuhl zusammenschrumpfte”, schreibt Leonard.
Doch in den folgenden Monaten ließ er sich von den Versuchen seiner chinesischen Gegenüber, ihm „die Luft herauszulassen”, nicht abschrecken. Leonard fand als „Zufallssinologe”, wie er sich selbst nennt, Zugang zu einer „verborgenen Welt”, deren Denken die Politik der künftigen Weltmacht China entscheidend beeinflusst. Heraus kam ein Buch, das – obwohl bereits vor einem Jahr in Englisch publiziert – immer noch eine der prickelndsten Neuerscheinungen in diesem „chinesischen Buchherbst” ist.
Leonard beschreibt anschaulich die vielen Experimente, die China in den vergangenen 30 Jahren unternommen hat, um das Land zu modernisieren. Dabei behauptet er nicht, die Vielfalt der Meinungen von 1,4 Milliarden Chinesen zu vertreten, geschweige denn jene der Intellektuellen, die inhaftiert, eingeschüchtert oder ins Exil getrieben und zum Schweigen gebracht wurden. „Die in diesem Buch vertretenen Denker sind Insider. Sie haben sich dafür entschieden, auf dem chinesischen Festland zu leben. Sie wollen das System von innen heraus verändern”, sagt Leonard. Oberste Maxime bleibe, dass das Machtmonopol der KP nicht gefährdet werde. Innerhalb dieses Rahmens jedoch tobe „ein zunehmend erbitterter Kampf um die Seele der Partei”, stellt Leonard fest. So steht die „Neue Rechte” für Chinas hemmungslosen „Gelben-Fluss-Kapitalismus”; die „Neue Linke” propagiert eine sanftere, gerechtere Form der Wirtschaftsentwicklung; und die „Neokomms” wollen Chinas Macht in der Welt durch Aufrüstung und geschickte internationale Diplomatie ausbauen.
Die interessantesten Einblicke gewähren jene Politologen, die sich mit der möglichen Demokratisierung des Landes beschäftigen. Pan Wei meint, durch Wahlen könnten die Probleme nicht gelöst werden. Der Wissenschaftler am Institut für internationale Beziehungen an der Peking-Universität will die Demokratie entmythologisieren. Traumatisiert von der Anarchie, die während der Kulturrevolution herrschte, wolle Pan Wei „eine Art Hightech-Diktatur, in der es keine Wahlen gibt, aber die Entscheidungen von einer aufgeschlossenen, dem Gesetz unterworfenen Regierung getroffen werden, die über die Wünsche ihrer Bevölkerung Bescheid weiß”, schreibt Leonard.
Es sei nicht überraschend, dass die kommunistischen Autoritäten derlei mit Wohlgefallen zur Kenntnis nähmen. Denn allen politischen Reformen zum Trotz habe die KP ihre Macht noch vergrößern können. Ein Grund, warum Chinas Entwicklungsmodell mit seinem Versprechen, die Kontrolle des Staates aufrechtzuerhalten und trotzdem ein schnelles Wirtschaftswachstum zu erzielen, von Entwicklungsländern auf der ganzen Welt kopiert wird.
Erdacht wurde der fernöstliche Raubtierkapitalismus von Menschen wie Zhang Weiying. Mit kubanischen Zigarren empfängt Chinas berühmtester Volkswirtschaftler seinen Besucher. Zhang hat 1984 das zweigleisige Preissystem erfunden, das es ermöglichte, Reformen in bestimmten Produktsegmenten auszutesten – „typisch für die Kombination von Pragmatismus und schrittweisem Vorgehen, mit der die chinesischen Reformer Hindernisse umgehen konnten, anstatt sie direkt zu überwinden”, schreibt Leonard. Zhang sieht auch heute keine Alternative zu seinen Theorien. Doch seine Macht ist mit dem Aufstieg von Staatspräsident Hu Jintao erheblich geschrumpft.
Denn die Neue Rechte wird von der Neuen Linken arg bedrängt, als deren Hauptprotagonisten Leonard den Wissenschaftler Wang Hui vorstellt. Wang Hui hatte an den Studenten-Protesten von 1989 lebhaften Anteil genommen und musste bitter dafür büßen. 2008 setzte das US-Magazin Foreign Policy ihn auf die Liste der 100 führenden Intellektuellen der Welt. Wang Hui lehnt ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts auf Kosten der Arbeiterrechte und der Umwelt ab. Andere Vertreter der Neuen Linken wie der Ökonom Hu Angang bemängeln, dass die Zentralregierung eine despotische und keine verwaltende Macht ist. Außerdem betonen die Neuen Linken die Kosten der Privatisierung – vor allem die sozialen Unruhen und die Umweltprobleme.
Was Leonard immer wieder auffiel ist, dass die meisten Wissenschaftler, mit denen er sich unterhielt, „geradezu zwanghaft alte chinesische Denker studiert hatten”. Mit Rückgriff auf die Vergangenheit Chinas Gegenwart zu erklären, ist auch im Westen beliebt. Michael Weiers’ akademisch anmutender „Geschichte Chinas” bleibt nichts anderes übrig. Andere jedoch verlieren sich in der Historie, wenn sie wie Helwig Schmidt-Glinzer die „kulturellen Tiefenstrukturen des Großreiches” analysieren, um, so sein Buchtitel, „Chinas Angst vor der Freiheit – der lange Weg in die Moderne” erklären zu wollen.
Wesentlich unprätentiöser kommt „China – Gesellschaft und Umbruch daher”. Karin Aschenbrücker und Hansjörg Bisle-Müller kompilieren darin Beiträge einer Vortragsreihe an der Universität Augsburg, die von Untersuchungen zum Daoismus und Konfuzianismus über Reflexionen zum deutsch-chinesischen Miteinander bis hin zu kritischen Bestandsaufnahmen des Reformprozesses reichen. Kurz und klar schildern darin auch Praktiker ihre Erfahrungen mit China.
Klemens Ludwig schließlich widmet sich in seinem Buch den nationalen Minderheiten des Landes, die zwar nur acht Prozent der Bevölkerung darstellen; bei einem 1,4-Milliarden-Volk macht das aber 106 Millionen Menschen aus. Der brutale Umgang der Machthaber mit Tibetern wie Uiguren, jenen Minderheiten, die Pekings Machtanspruch in Frage stellen, „ist eine Quelle ständiger Kritik für Peking, und das liegt nicht im Interesse der Machthaber”, schreibt Ludwig, der Bezug nimmt auf die Niederschlagung der jüngsten Proteste sowohl in Tibet als auch in Xinjiang. Und ist sich in seiner Bewertung mit Leonard und mit Schmidt-Glinzer einig, der schreibt: „Ohne Veränderungsschübe und die Beteiligung gro-
ßer Teile der Öffentlichkeit wird der Veränderungsprozess in China nicht beginnen”. EDELTRAUD RATTENHUBER
MARK LEONARD: Was denkt China? Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2009. 200 Seiten, 13,90 Euro.
HELWIG SCHMIDT-GLINZER: Chinas Angst vor der Freiheit. Der lange Weg in die Moderne. Verlag C.H. Beck, München 2009. 150 Seiten, 10,95 Euro.
MICHAEL WEIERS: Geschichte Chinas. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2009. 270 Seiten, 29,80 Euro.
KARIN ASCHENBRÜCKER, HANSJÖRG BISLE-MÜLLER (Hrsg.): China – Gesellschaft und Wirtschaft im Umbruch. Wißner-Verlag, Augsburg 2009. 225 Seiten, 18,80 Euro.
KLEMENS LUDWIG: Vielvölkerstaat China. Die nationalen Minderheiten im Reich der Mitte. Verlag C.H. Beck, München 2009. 192 Seiten, 12,95 Euro.
Aufbruch und Stillstand: Ein chinesischer Arbeiter fegt den Boden in der Nähe eines der von großen Wirtschaftsunternehmen geprägten Stadtteile Pekings. Foto: AP
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Nicht nur die Regimegegner attackieren die chinesische Führung – innerhalb der KP tobt ein Kampf um die Seele der Partei
Als Mark Leonard in der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (Cass) in Peking vorsprach, war er sehr überzeugt von seiner Bedeutung: Direktor für Internationale Politik am Centre for European Reform in London, 20 Mitarbeiter, 25 politische Studien pro Jahr, 50 Seminare, ein wichtiger Think Tank. Wang Luolin, Vizedirektor der Cass, konterte: 50 Forschungszentren, 4000 hauptberufliche Forscher, Chinas hochrangigste akademische Forschungseinrichtung für Philosophie und Sozialwissenschaften. „Ich konnte spüren, wie ich in meinem riesigen Stuhl zusammenschrumpfte”, schreibt Leonard.
Doch in den folgenden Monaten ließ er sich von den Versuchen seiner chinesischen Gegenüber, ihm „die Luft herauszulassen”, nicht abschrecken. Leonard fand als „Zufallssinologe”, wie er sich selbst nennt, Zugang zu einer „verborgenen Welt”, deren Denken die Politik der künftigen Weltmacht China entscheidend beeinflusst. Heraus kam ein Buch, das – obwohl bereits vor einem Jahr in Englisch publiziert – immer noch eine der prickelndsten Neuerscheinungen in diesem „chinesischen Buchherbst” ist.
Leonard beschreibt anschaulich die vielen Experimente, die China in den vergangenen 30 Jahren unternommen hat, um das Land zu modernisieren. Dabei behauptet er nicht, die Vielfalt der Meinungen von 1,4 Milliarden Chinesen zu vertreten, geschweige denn jene der Intellektuellen, die inhaftiert, eingeschüchtert oder ins Exil getrieben und zum Schweigen gebracht wurden. „Die in diesem Buch vertretenen Denker sind Insider. Sie haben sich dafür entschieden, auf dem chinesischen Festland zu leben. Sie wollen das System von innen heraus verändern”, sagt Leonard. Oberste Maxime bleibe, dass das Machtmonopol der KP nicht gefährdet werde. Innerhalb dieses Rahmens jedoch tobe „ein zunehmend erbitterter Kampf um die Seele der Partei”, stellt Leonard fest. So steht die „Neue Rechte” für Chinas hemmungslosen „Gelben-Fluss-Kapitalismus”; die „Neue Linke” propagiert eine sanftere, gerechtere Form der Wirtschaftsentwicklung; und die „Neokomms” wollen Chinas Macht in der Welt durch Aufrüstung und geschickte internationale Diplomatie ausbauen.
Die interessantesten Einblicke gewähren jene Politologen, die sich mit der möglichen Demokratisierung des Landes beschäftigen. Pan Wei meint, durch Wahlen könnten die Probleme nicht gelöst werden. Der Wissenschaftler am Institut für internationale Beziehungen an der Peking-Universität will die Demokratie entmythologisieren. Traumatisiert von der Anarchie, die während der Kulturrevolution herrschte, wolle Pan Wei „eine Art Hightech-Diktatur, in der es keine Wahlen gibt, aber die Entscheidungen von einer aufgeschlossenen, dem Gesetz unterworfenen Regierung getroffen werden, die über die Wünsche ihrer Bevölkerung Bescheid weiß”, schreibt Leonard.
Es sei nicht überraschend, dass die kommunistischen Autoritäten derlei mit Wohlgefallen zur Kenntnis nähmen. Denn allen politischen Reformen zum Trotz habe die KP ihre Macht noch vergrößern können. Ein Grund, warum Chinas Entwicklungsmodell mit seinem Versprechen, die Kontrolle des Staates aufrechtzuerhalten und trotzdem ein schnelles Wirtschaftswachstum zu erzielen, von Entwicklungsländern auf der ganzen Welt kopiert wird.
Erdacht wurde der fernöstliche Raubtierkapitalismus von Menschen wie Zhang Weiying. Mit kubanischen Zigarren empfängt Chinas berühmtester Volkswirtschaftler seinen Besucher. Zhang hat 1984 das zweigleisige Preissystem erfunden, das es ermöglichte, Reformen in bestimmten Produktsegmenten auszutesten – „typisch für die Kombination von Pragmatismus und schrittweisem Vorgehen, mit der die chinesischen Reformer Hindernisse umgehen konnten, anstatt sie direkt zu überwinden”, schreibt Leonard. Zhang sieht auch heute keine Alternative zu seinen Theorien. Doch seine Macht ist mit dem Aufstieg von Staatspräsident Hu Jintao erheblich geschrumpft.
Denn die Neue Rechte wird von der Neuen Linken arg bedrängt, als deren Hauptprotagonisten Leonard den Wissenschaftler Wang Hui vorstellt. Wang Hui hatte an den Studenten-Protesten von 1989 lebhaften Anteil genommen und musste bitter dafür büßen. 2008 setzte das US-Magazin Foreign Policy ihn auf die Liste der 100 führenden Intellektuellen der Welt. Wang Hui lehnt ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts auf Kosten der Arbeiterrechte und der Umwelt ab. Andere Vertreter der Neuen Linken wie der Ökonom Hu Angang bemängeln, dass die Zentralregierung eine despotische und keine verwaltende Macht ist. Außerdem betonen die Neuen Linken die Kosten der Privatisierung – vor allem die sozialen Unruhen und die Umweltprobleme.
Was Leonard immer wieder auffiel ist, dass die meisten Wissenschaftler, mit denen er sich unterhielt, „geradezu zwanghaft alte chinesische Denker studiert hatten”. Mit Rückgriff auf die Vergangenheit Chinas Gegenwart zu erklären, ist auch im Westen beliebt. Michael Weiers’ akademisch anmutender „Geschichte Chinas” bleibt nichts anderes übrig. Andere jedoch verlieren sich in der Historie, wenn sie wie Helwig Schmidt-Glinzer die „kulturellen Tiefenstrukturen des Großreiches” analysieren, um, so sein Buchtitel, „Chinas Angst vor der Freiheit – der lange Weg in die Moderne” erklären zu wollen.
Wesentlich unprätentiöser kommt „China – Gesellschaft und Umbruch daher”. Karin Aschenbrücker und Hansjörg Bisle-Müller kompilieren darin Beiträge einer Vortragsreihe an der Universität Augsburg, die von Untersuchungen zum Daoismus und Konfuzianismus über Reflexionen zum deutsch-chinesischen Miteinander bis hin zu kritischen Bestandsaufnahmen des Reformprozesses reichen. Kurz und klar schildern darin auch Praktiker ihre Erfahrungen mit China.
Klemens Ludwig schließlich widmet sich in seinem Buch den nationalen Minderheiten des Landes, die zwar nur acht Prozent der Bevölkerung darstellen; bei einem 1,4-Milliarden-Volk macht das aber 106 Millionen Menschen aus. Der brutale Umgang der Machthaber mit Tibetern wie Uiguren, jenen Minderheiten, die Pekings Machtanspruch in Frage stellen, „ist eine Quelle ständiger Kritik für Peking, und das liegt nicht im Interesse der Machthaber”, schreibt Ludwig, der Bezug nimmt auf die Niederschlagung der jüngsten Proteste sowohl in Tibet als auch in Xinjiang. Und ist sich in seiner Bewertung mit Leonard und mit Schmidt-Glinzer einig, der schreibt: „Ohne Veränderungsschübe und die Beteiligung gro-
ßer Teile der Öffentlichkeit wird der Veränderungsprozess in China nicht beginnen”. EDELTRAUD RATTENHUBER
MARK LEONARD: Was denkt China? Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2009. 200 Seiten, 13,90 Euro.
HELWIG SCHMIDT-GLINZER: Chinas Angst vor der Freiheit. Der lange Weg in die Moderne. Verlag C.H. Beck, München 2009. 150 Seiten, 10,95 Euro.
MICHAEL WEIERS: Geschichte Chinas. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2009. 270 Seiten, 29,80 Euro.
KARIN ASCHENBRÜCKER, HANSJÖRG BISLE-MÜLLER (Hrsg.): China – Gesellschaft und Wirtschaft im Umbruch. Wißner-Verlag, Augsburg 2009. 225 Seiten, 18,80 Euro.
KLEMENS LUDWIG: Vielvölkerstaat China. Die nationalen Minderheiten im Reich der Mitte. Verlag C.H. Beck, München 2009. 192 Seiten, 12,95 Euro.
Aufbruch und Stillstand: Ein chinesischer Arbeiter fegt den Boden in der Nähe eines der von großen Wirtschaftsunternehmen geprägten Stadtteile Pekings. Foto: AP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2009Schreckgespenst Freiheit
Sechzig Jahre nach der Gründung besteht die Volksrepublik China auf dem Recht, alle Fehler, die andere Länder im Lauf der Weltgeschichte schon begangen haben, auch einmal zu machen.
Von Peter Sturm
Vielleicht ist es eine Folge der Gobalisierung, dass Menschen sich nur noch selten mit einem Thema, einem Land vertieft beschäftigen. Minütlich stürzen so viele Informationen und solche, die es gerne wären, auf uns ein, dass es großer Anstrengungen bedarf, auch nur die Übersicht über die Schlagzeilen zu behalten. Dies steigert wohl die Bedeutung von Jahrestagen. Die Volksrepublik China feiert in diesem Jahr den 60. Jahrestag ihrer Gründung. Und weil das Land auch noch "Ehrengast" der Frankfurter Buchmesse ist, reagieren die Verlage entsprechend. Ob das alles marktgerecht ist, muss Außenstehende zwar nicht interessieren, ist aber trotzdem eine interessante Frage.
Es gibt Bücher, die (ein weiteres Mal) endgültige Antworten auf Fragen geben wollen, die vielen im Zusammenhang mit China durch den Kopf gehen. Dann gibt es Erfahrungsberichte aus dem Alltag in China. Es gibt wissenschaftliche Werke. Und es gibt Publikationen, die ohne große rhetorische Girlanden wichtige Fakten über das große und vielgestaltige Land liefern. Mit einem für die Regierung in Peking potentiell heiklen Thema befasst sich Klemens Ludwig. In der Volksrepublik leben 55 ethnische Minderheiten. Die machen zwar weniger als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Aber da sie zum großen Teil in Grenzregionen leben, sind sie aus Sicht einer notorisch misstrauischen Führung Quellen potentieller Instabilität. Ernsthafte Schwierigkeiten hat Peking allerdings nur mit zwei Völkern innerhalb des "chinesischen Volkes", mit Tibetern und Uiguren. Weil deren Aufbegehren gegen - wie viele es dort empfinden - die chinesische Besetzung im Ausland viel Aufmerksamkeit findet, sucht die chinesische Propaganda die Ursache für die Konflikte auch gerne im Ausland. Erleichtert wird ihr das durch die Existenz einer nennenswerten und politisch aktiven Exilgemeinde beider Völker.
Im Selbstverständnis der Herrschenden können Autonomiebestrebungen der Minderheitenvölker bestenfalls Ausfluss großer Undankbarkeit sein, gilt doch die Herrschaft Chinas als quasi naturgegeben. Die geographischen Grenzen dieser Herrscherauffassung sind, wie Ludwig herausarbeitet, fließend. Dass dies bei Nachbarvölkern nicht zu Begeisterungsstürmen führt, ist an sich klar. Aber wenn man sich für berufen hält, über andere zu herrschen, fehlt für solche Feinheiten wahrscheinlich das Gefühl. Qualitativ hat das Buch das Zeug zum Nachschlagewerk. Wie viele entsprechende Versuche Umschlag und Heftung zulassen, wäre ein interessanter Test, dessen Ergebnis man dem offenbar sehr kostenbewussten Verlag mitteilen sollte.
Der Gegenentwurf der Eliten zum europäisch-amerikanischen Modell.
Mit den tieferen Ursachen des Verhaltens der chinesischen Regierung - nicht nur gegenüber nationalen Minderheiten - befasst sich Helwig Schmidt-Glintzer. Er versucht Verständnis für chinesische Denkweisen zu vermitteln, ohne dabei freilich der Pekinger Regierung in allen Lebenslagen argumentativ nach dem Mund zu reden. China, beziehungsweise seine Regierung, hat also Angst vor der Freiheit. Wie das die Bewohner des Landes sehen, hat bislang weder die Führung ausprobieren wollen, noch das Ausland nachprüfen können. Klar dürfte sein, dass auch ein freiheitlich verfasstes China nicht das bloße Abbild eines europäischen oder anderen westlichen Landes wäre. Nationale kulturelle Traditionen lassen sich nicht verleugnen. Die lassen sich konstruktiv gebrauchen. Die kann man aber auch missbrauchen. Die Außenwelt muss in jedem Einzelfall entscheiden, was gerade vorliegt, und ihre Reaktion daran ausrichten. Das wird vor allem bei der Führung selten auf große Gegenliebe stoßen. Das Streben nach allerhöchstem (Pekinger) Wohlwollen kann aber eigentlich keine Kategorie internationaler Politik sein, auch wenn das Verhalten mancher einen anderen Schluss zulässt.
Dass "Freiheit", wie Schmidt-Glintzer herausarbeitet, mit Chaos und Zügellosigkeit gleichgesetzt wird (ob von den Menschen oder von der Führung, bleibt unklar), muss man nicht auf Anhieb verstehen. Allerdings wird man es zur Kenntnis nehmen müssen. Dass Freiheit immer dort ihre Grenzen hat, wo die Freiheit des Nächsten beginnt, ist in Europa Allgemeingut. Also könnte China vielleicht doch in und von Europa etwas lernen. Da China ja energisch auf dem Recht besteht, alle Fehler, die andere im Lauf der Weltgeschichte gemacht haben, auch einmal machen zu dürfen, sind solche Ratschläge dort vermutlich nicht erwünscht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Pekings plumper Umgang mit kleinen Freiheitsbestrebungen im Ergebnis zu dem Chaos führt, das man energisch verhindern will, ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen.
Während Chinas Führer ängstlich auf ihr Land blicken, ist ihr Umgang mit der Außenwelt von zunehmendem Selbstbewusstsein, das zuweilen in die bekannte Arroganz des Neureichen umschlägt, geprägt. Dieses Selbstbewusstsein gründet sich mittlerweile, wie Mark Leonard ausführlich darlegt, längst nicht mehr nur auf wirtschaftliche Macht. Chinas Eliten sind dabei, ein eigenes Modell der Globalisierung zu entwickeln, das auf andere Weltgegenden abfärbt und als Gegenentwurf zum europäisch-amerikanischen Modell gesehen wird. Man beklagt, dass China viel zu lange danach gestrebt habe, ausländische Modelle und Ideen zu kopieren, anstatt sich auf die eigene Kraft zu verlassen. Wie weit dieses Streben nach intellektueller Autarkie der heutigen und künftigen Welt gerecht wird, bleibt abzuwarten. Ignorieren darf man es nicht.
Leonard arbeitet heraus, dass die (systemkonformen) Denker innerhalb der Führungsstruktur die Funktionen ausüben, die in westlichen Systemen Parteien und gesellschaftliche Gruppen haben. Insofern ist auch das "neue China" strukturell durchaus von dieser Welt. Und die nicht zu bestreitende Attraktivität der chinesischen Ideen zum Beispiel in Afrika resultiert nicht zwangsläufig daraus, dass sie die Lösung vieler Probleme bedeuteten. Westlich-demokratische Ideologie ist in gewisser Weise eine Ansammlung von Zumutungen, zumindest für Regierende anderer Systeme. Dass man sich da gerne andere Partner sucht, ist naheliegend. Die Qualitätsprobe der Ideen steht freilich noch aus.
In China werden allerlei Experimente gemacht. Diese orientieren sich an den unterschiedlichsten Ideen. Das könnte zu einem produktiven Wettbewerb führen. Aber in einem Einparteienstaat siegt eben nicht mit größter Wahrscheinlichkeit die beste/erfolgreichste Idee. Vielmehr gewinnt die, mit der man zur richtigen Zeit das Ohr des richtigen Herrschers erreicht. Die Propagierung der anderen Ideen wird dann im schlimmsten Fall zum lebensgefährlichen Experiment.
Das war zwar in Europa vor 200 Jahren auch nicht anders. Damals war jedoch die Welt eine ganz andere. Welche unerfreulichen Auswirkungen die offizielle Propaganda gegen aufbegehrende nationale Minderheiten haben kann, schildert die österreichische Fernsehkorrespondentin Cornelia Vospernik in ihrem an sich sehr kurzweiligen Buch mit Erlebnissen aus dem Alltag in China. Mehrfach und an unterschiedlichen Orten wird sie gefragt, ob sie ein "Xinjiang-Mensch" sei. Einfach strukturierte Menschen (nur sie?) stellen sich die zu Monstern stilisierten, angeblich immer terroristischen Uiguren so vor, wie Europäer aussehen. Frau Vosperniks Hinweis auf ihre wahre Herkunft lässt das Misstrauen nicht unbedingt sinken. Denn sie sagt das alles in flüssigem Chinesisch. Und welcher Europäer, so Volkes Meinung in China, kann das schon? Vielleicht, so denken manche, ist sie eben doch ein "Xinjiang-Mensch". Und ein solcher kann kein guter sein.
Der Marsch durch das Jahrhundert mit Hilfe von fünf Leitbegriffen.
Das in einem angenehmen Plauderton und nicht ohne Selbstironie geschriebene Buch weckt beim Durchschnittseuropäer wahrscheinlich nicht den Wunsch, demnächst nach China umzuziehen. Dabei verkneift sich die Autorin jede überflüssige Häme. Missstände werden allerdings als solche benannt. Jedes Land hat eben seine Eigenheiten. Die muss man nicht mögen. Aber man muss sie akzeptieren.
Inmitten der unzähligen Bücher über das gegenwärtige und mögliche künftige China tut es gut, zur Abwechslung einmal ein Stück solide Geschichtswissenschaft in die Hand zu bekommen. Und wie so manches andere Stück solider Wissenschaft ist auch Sabine Dabringhaus' Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert nichts für Leser mit wenigen oder gar keinen Vorkenntnissen. Wer zumindest ein Ereignisraster im Kopf hat, wird souverän durch die Wirren dieses Jahrhunderts geführt. An dessen Beginn war China das, was man einen Spielball ausländischer Mächte nannte. An seinem Ende schickte es sich an, viele auf der Welt das Fürchten zu lehren. Die Autorin bewerkstelligt den Marsch durch das Jahrhundert mit Hilfe von fünf Leitbegriffen: Konfuzianismus, Nationalismus, Kommunismus, Demokratisierung und Kapitalismus. Das Spannungsverhältnis zwischen dem, was chinesische Traditionen genannt wird, und westlichen Ideen und Vorstellungen durchzieht das ganze Werk. Zu Beginn des Jahrhunderts sahen viele Chinesen die einzige Rettung für ihr Land in der unkritischen Übernahme alles Westlichen. Heute werden Methoden des Wirtschaftens, die in Europa oder Amerika entwickelt wurden, gerne übernommen. Politisch ist der Westen jedoch nach Meinung der Führung, die vorgibt, genau zu wissen, was gut ist für "ihr" Volk, Gift.
Mit solchen Widersprüchen muss nicht nur die chinesische Regierung leben. Die Außenwelt wird sich in vielen Fragen an diesem Land und seinen Führern noch oft die Zähne ausbeißen. Falls es gut läuft, wird sich China in die globalisierte Welt des 21. Jahrhundert einfügen als wichtiges Land, das freilich bereit ist, die Regeln einer internationalen Gemeinschaft auch auf sich anzuwenden. Nicht alles, was aus dem heutigen China zu hören ist, lässt dieses angenehme Szenario wahrscheinlich erscheinen.
Klemens Ludwig: Vielvölkerstaat China. Die nationalen Minderheiten im Reich der Mitte. C. H. Beck Verlag, München 2009. 190 S., 12,95 [Euro].
Helwig Schmidt-Glintzer: Chinas Angst vor der Freiheit. Der lange Weg in die Moderne. C. H. Beck Verlag, München 2009. 149 S., 10,95 [Euro].
Mark Leonard: Was denkt China? Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009. 197 S., 14,90 [Euro].
Cornelia Vospernik: In China. Reportagen abseits der Schlagzeilen. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2009. 159 S., 19,90 [Euro].
Sabine Dabringhaus: Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert. C. H. Beck Verlag, München 2009. 293 S., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sechzig Jahre nach der Gründung besteht die Volksrepublik China auf dem Recht, alle Fehler, die andere Länder im Lauf der Weltgeschichte schon begangen haben, auch einmal zu machen.
Von Peter Sturm
Vielleicht ist es eine Folge der Gobalisierung, dass Menschen sich nur noch selten mit einem Thema, einem Land vertieft beschäftigen. Minütlich stürzen so viele Informationen und solche, die es gerne wären, auf uns ein, dass es großer Anstrengungen bedarf, auch nur die Übersicht über die Schlagzeilen zu behalten. Dies steigert wohl die Bedeutung von Jahrestagen. Die Volksrepublik China feiert in diesem Jahr den 60. Jahrestag ihrer Gründung. Und weil das Land auch noch "Ehrengast" der Frankfurter Buchmesse ist, reagieren die Verlage entsprechend. Ob das alles marktgerecht ist, muss Außenstehende zwar nicht interessieren, ist aber trotzdem eine interessante Frage.
Es gibt Bücher, die (ein weiteres Mal) endgültige Antworten auf Fragen geben wollen, die vielen im Zusammenhang mit China durch den Kopf gehen. Dann gibt es Erfahrungsberichte aus dem Alltag in China. Es gibt wissenschaftliche Werke. Und es gibt Publikationen, die ohne große rhetorische Girlanden wichtige Fakten über das große und vielgestaltige Land liefern. Mit einem für die Regierung in Peking potentiell heiklen Thema befasst sich Klemens Ludwig. In der Volksrepublik leben 55 ethnische Minderheiten. Die machen zwar weniger als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Aber da sie zum großen Teil in Grenzregionen leben, sind sie aus Sicht einer notorisch misstrauischen Führung Quellen potentieller Instabilität. Ernsthafte Schwierigkeiten hat Peking allerdings nur mit zwei Völkern innerhalb des "chinesischen Volkes", mit Tibetern und Uiguren. Weil deren Aufbegehren gegen - wie viele es dort empfinden - die chinesische Besetzung im Ausland viel Aufmerksamkeit findet, sucht die chinesische Propaganda die Ursache für die Konflikte auch gerne im Ausland. Erleichtert wird ihr das durch die Existenz einer nennenswerten und politisch aktiven Exilgemeinde beider Völker.
Im Selbstverständnis der Herrschenden können Autonomiebestrebungen der Minderheitenvölker bestenfalls Ausfluss großer Undankbarkeit sein, gilt doch die Herrschaft Chinas als quasi naturgegeben. Die geographischen Grenzen dieser Herrscherauffassung sind, wie Ludwig herausarbeitet, fließend. Dass dies bei Nachbarvölkern nicht zu Begeisterungsstürmen führt, ist an sich klar. Aber wenn man sich für berufen hält, über andere zu herrschen, fehlt für solche Feinheiten wahrscheinlich das Gefühl. Qualitativ hat das Buch das Zeug zum Nachschlagewerk. Wie viele entsprechende Versuche Umschlag und Heftung zulassen, wäre ein interessanter Test, dessen Ergebnis man dem offenbar sehr kostenbewussten Verlag mitteilen sollte.
Der Gegenentwurf der Eliten zum europäisch-amerikanischen Modell.
Mit den tieferen Ursachen des Verhaltens der chinesischen Regierung - nicht nur gegenüber nationalen Minderheiten - befasst sich Helwig Schmidt-Glintzer. Er versucht Verständnis für chinesische Denkweisen zu vermitteln, ohne dabei freilich der Pekinger Regierung in allen Lebenslagen argumentativ nach dem Mund zu reden. China, beziehungsweise seine Regierung, hat also Angst vor der Freiheit. Wie das die Bewohner des Landes sehen, hat bislang weder die Führung ausprobieren wollen, noch das Ausland nachprüfen können. Klar dürfte sein, dass auch ein freiheitlich verfasstes China nicht das bloße Abbild eines europäischen oder anderen westlichen Landes wäre. Nationale kulturelle Traditionen lassen sich nicht verleugnen. Die lassen sich konstruktiv gebrauchen. Die kann man aber auch missbrauchen. Die Außenwelt muss in jedem Einzelfall entscheiden, was gerade vorliegt, und ihre Reaktion daran ausrichten. Das wird vor allem bei der Führung selten auf große Gegenliebe stoßen. Das Streben nach allerhöchstem (Pekinger) Wohlwollen kann aber eigentlich keine Kategorie internationaler Politik sein, auch wenn das Verhalten mancher einen anderen Schluss zulässt.
Dass "Freiheit", wie Schmidt-Glintzer herausarbeitet, mit Chaos und Zügellosigkeit gleichgesetzt wird (ob von den Menschen oder von der Führung, bleibt unklar), muss man nicht auf Anhieb verstehen. Allerdings wird man es zur Kenntnis nehmen müssen. Dass Freiheit immer dort ihre Grenzen hat, wo die Freiheit des Nächsten beginnt, ist in Europa Allgemeingut. Also könnte China vielleicht doch in und von Europa etwas lernen. Da China ja energisch auf dem Recht besteht, alle Fehler, die andere im Lauf der Weltgeschichte gemacht haben, auch einmal machen zu dürfen, sind solche Ratschläge dort vermutlich nicht erwünscht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Pekings plumper Umgang mit kleinen Freiheitsbestrebungen im Ergebnis zu dem Chaos führt, das man energisch verhindern will, ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen.
Während Chinas Führer ängstlich auf ihr Land blicken, ist ihr Umgang mit der Außenwelt von zunehmendem Selbstbewusstsein, das zuweilen in die bekannte Arroganz des Neureichen umschlägt, geprägt. Dieses Selbstbewusstsein gründet sich mittlerweile, wie Mark Leonard ausführlich darlegt, längst nicht mehr nur auf wirtschaftliche Macht. Chinas Eliten sind dabei, ein eigenes Modell der Globalisierung zu entwickeln, das auf andere Weltgegenden abfärbt und als Gegenentwurf zum europäisch-amerikanischen Modell gesehen wird. Man beklagt, dass China viel zu lange danach gestrebt habe, ausländische Modelle und Ideen zu kopieren, anstatt sich auf die eigene Kraft zu verlassen. Wie weit dieses Streben nach intellektueller Autarkie der heutigen und künftigen Welt gerecht wird, bleibt abzuwarten. Ignorieren darf man es nicht.
Leonard arbeitet heraus, dass die (systemkonformen) Denker innerhalb der Führungsstruktur die Funktionen ausüben, die in westlichen Systemen Parteien und gesellschaftliche Gruppen haben. Insofern ist auch das "neue China" strukturell durchaus von dieser Welt. Und die nicht zu bestreitende Attraktivität der chinesischen Ideen zum Beispiel in Afrika resultiert nicht zwangsläufig daraus, dass sie die Lösung vieler Probleme bedeuteten. Westlich-demokratische Ideologie ist in gewisser Weise eine Ansammlung von Zumutungen, zumindest für Regierende anderer Systeme. Dass man sich da gerne andere Partner sucht, ist naheliegend. Die Qualitätsprobe der Ideen steht freilich noch aus.
In China werden allerlei Experimente gemacht. Diese orientieren sich an den unterschiedlichsten Ideen. Das könnte zu einem produktiven Wettbewerb führen. Aber in einem Einparteienstaat siegt eben nicht mit größter Wahrscheinlichkeit die beste/erfolgreichste Idee. Vielmehr gewinnt die, mit der man zur richtigen Zeit das Ohr des richtigen Herrschers erreicht. Die Propagierung der anderen Ideen wird dann im schlimmsten Fall zum lebensgefährlichen Experiment.
Das war zwar in Europa vor 200 Jahren auch nicht anders. Damals war jedoch die Welt eine ganz andere. Welche unerfreulichen Auswirkungen die offizielle Propaganda gegen aufbegehrende nationale Minderheiten haben kann, schildert die österreichische Fernsehkorrespondentin Cornelia Vospernik in ihrem an sich sehr kurzweiligen Buch mit Erlebnissen aus dem Alltag in China. Mehrfach und an unterschiedlichen Orten wird sie gefragt, ob sie ein "Xinjiang-Mensch" sei. Einfach strukturierte Menschen (nur sie?) stellen sich die zu Monstern stilisierten, angeblich immer terroristischen Uiguren so vor, wie Europäer aussehen. Frau Vosperniks Hinweis auf ihre wahre Herkunft lässt das Misstrauen nicht unbedingt sinken. Denn sie sagt das alles in flüssigem Chinesisch. Und welcher Europäer, so Volkes Meinung in China, kann das schon? Vielleicht, so denken manche, ist sie eben doch ein "Xinjiang-Mensch". Und ein solcher kann kein guter sein.
Der Marsch durch das Jahrhundert mit Hilfe von fünf Leitbegriffen.
Das in einem angenehmen Plauderton und nicht ohne Selbstironie geschriebene Buch weckt beim Durchschnittseuropäer wahrscheinlich nicht den Wunsch, demnächst nach China umzuziehen. Dabei verkneift sich die Autorin jede überflüssige Häme. Missstände werden allerdings als solche benannt. Jedes Land hat eben seine Eigenheiten. Die muss man nicht mögen. Aber man muss sie akzeptieren.
Inmitten der unzähligen Bücher über das gegenwärtige und mögliche künftige China tut es gut, zur Abwechslung einmal ein Stück solide Geschichtswissenschaft in die Hand zu bekommen. Und wie so manches andere Stück solider Wissenschaft ist auch Sabine Dabringhaus' Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert nichts für Leser mit wenigen oder gar keinen Vorkenntnissen. Wer zumindest ein Ereignisraster im Kopf hat, wird souverän durch die Wirren dieses Jahrhunderts geführt. An dessen Beginn war China das, was man einen Spielball ausländischer Mächte nannte. An seinem Ende schickte es sich an, viele auf der Welt das Fürchten zu lehren. Die Autorin bewerkstelligt den Marsch durch das Jahrhundert mit Hilfe von fünf Leitbegriffen: Konfuzianismus, Nationalismus, Kommunismus, Demokratisierung und Kapitalismus. Das Spannungsverhältnis zwischen dem, was chinesische Traditionen genannt wird, und westlichen Ideen und Vorstellungen durchzieht das ganze Werk. Zu Beginn des Jahrhunderts sahen viele Chinesen die einzige Rettung für ihr Land in der unkritischen Übernahme alles Westlichen. Heute werden Methoden des Wirtschaftens, die in Europa oder Amerika entwickelt wurden, gerne übernommen. Politisch ist der Westen jedoch nach Meinung der Führung, die vorgibt, genau zu wissen, was gut ist für "ihr" Volk, Gift.
Mit solchen Widersprüchen muss nicht nur die chinesische Regierung leben. Die Außenwelt wird sich in vielen Fragen an diesem Land und seinen Führern noch oft die Zähne ausbeißen. Falls es gut läuft, wird sich China in die globalisierte Welt des 21. Jahrhundert einfügen als wichtiges Land, das freilich bereit ist, die Regeln einer internationalen Gemeinschaft auch auf sich anzuwenden. Nicht alles, was aus dem heutigen China zu hören ist, lässt dieses angenehme Szenario wahrscheinlich erscheinen.
Klemens Ludwig: Vielvölkerstaat China. Die nationalen Minderheiten im Reich der Mitte. C. H. Beck Verlag, München 2009. 190 S., 12,95 [Euro].
Helwig Schmidt-Glintzer: Chinas Angst vor der Freiheit. Der lange Weg in die Moderne. C. H. Beck Verlag, München 2009. 149 S., 10,95 [Euro].
Mark Leonard: Was denkt China? Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009. 197 S., 14,90 [Euro].
Cornelia Vospernik: In China. Reportagen abseits der Schlagzeilen. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2009. 159 S., 19,90 [Euro].
Sabine Dabringhaus: Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert. C. H. Beck Verlag, München 2009. 293 S., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Instruktiv findet Rezensent Peter Sturm dieses Buch über ethnische Minderheiten im Vielvölkerstaat China, das er im Rahmen seiner Sammelrezension von Büchern, die anlässlich des 60. Jahrestages des Landes erschienen sind, bespricht. Das Thema von von Klemens Ludwigs Buch scheint ihm potentiell heikel für die misstrauische Regierung in Peking, besonders wenn es um die Tibeter und die Uiguren geht. Sturm weist darauf hin, dass deren Autonomiebestrebungen im Selbstverständnis der Herrschenden im besten Fall als "Ausfluss großer Undankbarkeit" gilt, betrachten sie die Herrschaft Chinas doch gleichsam als naturgegeben. Der Autor arbeitet für ihn deutlich heraus, dass die geografischen Grenzen dieser Herrschaftsauffassung fließend sind, was den Nachbarn natürlich nicht gefällt. Das Buch eignet sich nach Ansicht des Rezensenten gut als "Nachschlagewerk". Allerdings hätte er sich eine bessere Verarbeitung im Blick auf Umschlag und Heftung gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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