Von einer der profiliertesten deutschen Autorinnen der Gegenwart Hamburg in den wilden Zwanzigern: Günther Andreas Johannes Dirks wächst unter der Obhut eines karibischen Kindermädchens auf, das auch dem Vater zu Diensten ist. Der dicke Günther wird Koch in einem Nobelhotel, gelangt mit der Feldküche an die Ostfront, gründet eine Familie und feiert auf Barbados Erfolge als Küchenchef. Doch seit seiner Jugend beherrscht ihn, der selbst missbraucht wurde, der Zwang, zum Äußersten zu gehen. Auch vor seinen Töchtern macht er nicht halt. Als er in der Karibik stirbt, reist seine Tochter dorthin, um ihn zu beerdigen und ihn endgültig loszuwerden. Ein sinnliches, exotisches und ungeheuer lebendiges Buch, in dem eine der profiliertesten deutschen Autorinnen der Gegenwart auf ungewöhnliche Weise mit ihrem Vater abrechnet.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2002Nervöses Knistern
Liane Dirks Roman „Vier Arten
meinen Vater zu beerdigen”
Bevor die Hunde den Strand verlassen und die Fische in tiefere Gewässer ziehen, sind es die Vögel, die einen nahenden Hurrikan ankündigen. Spatzen, Strandläufer und Kolibris flüchten über die Bucht in Richtung Land. Zugleich drücken sich Falter und Glühwürmchen gegen den Boden, damit ihnen der Sturm nicht die Flügel ausreißt. Ein Knistern liegt in der Luft, eine fühlbare Spannung, als würde die Welt innehalten und sich erinnern wollen. An jenen Mann zum Beispiel, dessen Lebensweg Liane Dirks in ihrem dritten Roman nachzuzeichnen sucht. An jenen Mann, der auf der Insel Barbados seine letzten Jahre verbracht haben könnte, und über den es einmal lapidar heißt: „Er hatte einen Vater und er hatte eine Mutter, ein Kindermädchen hatte er und ein Tier.”
Liane Dirks, die 1955 geboren wurde, erzählt in diesem Buch die Geschichte ihres Vaters, eine Geschichte, die im Hamburg der zwanziger Jahre beginnt. Sie zeigt Günther Andreas Johannes Dirks, wie er sich als kleiner Junge im Schönheitssalon der Mutter den Düften hingibt, wie er den sexuellen Eskapaden des Vaters zusehen muss und einzig bei dem karibischen Hausmädchen Nune ein wenig Liebe findet. Später verfolgt sie die Spur des Heranwachsenden während des Zweiten Weltkrieges und die des Familienvaters, immer darauf bedacht, die Erzählung historisch genau zu verorten. Mit knappen Sätzen hält sie jede Körperregung fest und versucht Indizien zu finden für die Verhaltensweisen ihres Protagonisten. Denn der Mann, der auf Barbados irgendwann zum Meisterkoch avanciert, der die feine Gesellschaft mit Pâtés beglückt, mit Saucen, Wachteln und Hirschkeulen, scheint nur auf den ersten Blick ein verträglicher Zeitgenosse zu sein. Immer wieder überkommt ihn ein seltsames Gefühl, als klopfe etwas von innen gegen die Schädeldecke. Ein Drängen spürt er dann in sich, dasselbe nervöse Knistern, wie es vor einem Hurrikan entsteht. Um den Druck loszuwerden, nimmt er seine Töchter mit in den Keller und missbraucht sie.
Liane Dirks hat aus den biografischen Spuren ihres Vaters einen Roman gemacht, eine genau strukturierte Textur, in die auch Zeitungsartikel, Rechenaufgaben und fotografische Bildbeschreibungen eingewoben sind. Der Ton ihrer Recherche allerdings vermag nicht so recht zu überzeugen. Die Erlebte Rede, mit der sie die Wahrnehmungsweise des kleinen Günther nachzubilden versucht, vermittelt zwar einen sinnlichen Weltzugang, lässt an vielen Stellen aber allzu deutlich das narrative Kalkül durchscheinen. Zu gewollt naiv wirken etwa jene Passagen, in denen nur noch kurze Protokolle zu finden sind: „Er rührt sich nicht. Er hat eine Beule in der Hose. Er hat ein Messer gekauft. Günther ist jetzt bewaffnet.” Und allzu oft schieben sich historische Klischees in den Vordergrund, werden zeitgeschichtliche Daten einfach nur abgerufen statt literarisch fruchtbar gemacht. Erst im letzten Drittel des Buches bricht sich eine klar konturierte Ich- Erzählerin Bahn. Hier zeigt sich Liane Dirks als Sprachkünstlerin, die von einer furiosen Bestattung auf Barbados zu berichten weiß und von den leisen Glücksmomenten zwischen den Hurrikans.
NICO BLEUTGE
LIANE DIRKS: Vier Arten meinen Vater zu beerdigen. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2002. 247 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Liane Dirks Roman „Vier Arten
meinen Vater zu beerdigen”
Bevor die Hunde den Strand verlassen und die Fische in tiefere Gewässer ziehen, sind es die Vögel, die einen nahenden Hurrikan ankündigen. Spatzen, Strandläufer und Kolibris flüchten über die Bucht in Richtung Land. Zugleich drücken sich Falter und Glühwürmchen gegen den Boden, damit ihnen der Sturm nicht die Flügel ausreißt. Ein Knistern liegt in der Luft, eine fühlbare Spannung, als würde die Welt innehalten und sich erinnern wollen. An jenen Mann zum Beispiel, dessen Lebensweg Liane Dirks in ihrem dritten Roman nachzuzeichnen sucht. An jenen Mann, der auf der Insel Barbados seine letzten Jahre verbracht haben könnte, und über den es einmal lapidar heißt: „Er hatte einen Vater und er hatte eine Mutter, ein Kindermädchen hatte er und ein Tier.”
Liane Dirks, die 1955 geboren wurde, erzählt in diesem Buch die Geschichte ihres Vaters, eine Geschichte, die im Hamburg der zwanziger Jahre beginnt. Sie zeigt Günther Andreas Johannes Dirks, wie er sich als kleiner Junge im Schönheitssalon der Mutter den Düften hingibt, wie er den sexuellen Eskapaden des Vaters zusehen muss und einzig bei dem karibischen Hausmädchen Nune ein wenig Liebe findet. Später verfolgt sie die Spur des Heranwachsenden während des Zweiten Weltkrieges und die des Familienvaters, immer darauf bedacht, die Erzählung historisch genau zu verorten. Mit knappen Sätzen hält sie jede Körperregung fest und versucht Indizien zu finden für die Verhaltensweisen ihres Protagonisten. Denn der Mann, der auf Barbados irgendwann zum Meisterkoch avanciert, der die feine Gesellschaft mit Pâtés beglückt, mit Saucen, Wachteln und Hirschkeulen, scheint nur auf den ersten Blick ein verträglicher Zeitgenosse zu sein. Immer wieder überkommt ihn ein seltsames Gefühl, als klopfe etwas von innen gegen die Schädeldecke. Ein Drängen spürt er dann in sich, dasselbe nervöse Knistern, wie es vor einem Hurrikan entsteht. Um den Druck loszuwerden, nimmt er seine Töchter mit in den Keller und missbraucht sie.
Liane Dirks hat aus den biografischen Spuren ihres Vaters einen Roman gemacht, eine genau strukturierte Textur, in die auch Zeitungsartikel, Rechenaufgaben und fotografische Bildbeschreibungen eingewoben sind. Der Ton ihrer Recherche allerdings vermag nicht so recht zu überzeugen. Die Erlebte Rede, mit der sie die Wahrnehmungsweise des kleinen Günther nachzubilden versucht, vermittelt zwar einen sinnlichen Weltzugang, lässt an vielen Stellen aber allzu deutlich das narrative Kalkül durchscheinen. Zu gewollt naiv wirken etwa jene Passagen, in denen nur noch kurze Protokolle zu finden sind: „Er rührt sich nicht. Er hat eine Beule in der Hose. Er hat ein Messer gekauft. Günther ist jetzt bewaffnet.” Und allzu oft schieben sich historische Klischees in den Vordergrund, werden zeitgeschichtliche Daten einfach nur abgerufen statt literarisch fruchtbar gemacht. Erst im letzten Drittel des Buches bricht sich eine klar konturierte Ich- Erzählerin Bahn. Hier zeigt sich Liane Dirks als Sprachkünstlerin, die von einer furiosen Bestattung auf Barbados zu berichten weiß und von den leisen Glücksmomenten zwischen den Hurrikans.
NICO BLEUTGE
LIANE DIRKS: Vier Arten meinen Vater zu beerdigen. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2002. 247 Seiten, 19,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2002Existenz zwischen Herd und Abenteuer
Der autoritäre Zug ist abgefahren: Liane Dirks' behutsame Abrechnung mit dem Vater nimmt Anleihen beim Schelmenroman
Der junge Hotelbedienstete wird aufs Zimmer bestellt; man rechnet mit seiner Verschwiegenheit. Wir kennen die Situation aus den "Bekenntnissen" eines gewissen "Hochstaplers". Aber hier liegt das Hotel nicht in Paris und heißt nicht "Saint James and Albany", und der Debütant ist nicht der Liftboy Felix Krull; wir befinden uns im Hamburger Nobelhotel "Vier Jahreszeiten", und der Page ist der zur Ausbildung als Koch angenommene Günther Dirks. Nicht eine Madame Houpflé ruft ihn zu sich, sondern der Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Chef der Deutschen Arbeitsfront Dr. Robert Ley. Und der Page wird nicht als ein junger göttlicher Hermes ins Bett gezogen, sondern muß dem Arbeitsfrontchef für eine Orgie Kondome bringen. Im "Fürstensalon" residiert das Gemeine.
Der spätere Meisterkoch Günther Dirks ist der Vater der Erzählerin Alma Dirks in Liane Dirks' Roman "Vier Arten meinen Vater zu beerdigen". Die Namensgleichheit legt die Fährten aus für einen autobiographischen Roman. Aber wie weit die Übereinstimmungen mit den Verhältnissen der eigenen Familie Liane Dirks' gehen, muß den Leser nicht kümmern. Als Kompaß bieten sich zunächst zwei Romanmuster an, die sogenannte Väterliteratur und der pikarische oder Schelmenroman.
Ein Lieblingsmodell des deutschen Romans um 1970 rechnete mit der Vätergeneration ab. Vielfach gingen die Autoren mit den autoritären Zügen der Väter ins Gericht. Erst in Ludwig Harigs "Ordnung ist das ganze Leben. Roman meines Vaters" (1986) fand keine Ausstoßung im Geiste mehr statt. Liane Dirks' "Vier Arten meinen Vater zu beerdigen" nimmt den Enthüllungsgestus der Väterliteratur von einst wieder auf. Die Anklage lautet: Kindesmißbrauch. Hängt sich die Autorin an die Konjunktur an, die das Thema zur Zeit in den Medien hat? Kaum. Schon in ihrem ersten Roman, "Die liebe Angst" (1986), ist es von einer Eindringlichkeit, die auf unmittelbare Erfahrungen verweist. Die Anklägerin im neuen Roman moralisiert nicht, sie sieht das Delikt als Symptom eines fessellosen Sexualtriebs.
Die Romanfigur Günther Dirks also ein Ungeheuer? Weder wird die Erzählung seiner Tochter Alma zum Gerichts- noch zum Schauerroman. Denn sie ist angesteckt von der Weltoffenheit und Erzähllust des pikarischen oder Schelmenromans, der schon so vielen Romanen der Weltliteratur auf die Sprünge geholfen hat, nicht zuletzt dem "Felix Krull". Bereits in der Kindheit und Jugend Günthers, des Sohns einer Hamburger Kosmetikerin, in deren Salon sich die Schönen noch einmal verschönern lassen und die mit Salben und Parfüms laboriert, locken verführerische Reize. In der Familie schafft Luise mit ihrem Reformeifer ein Biotop aus Freikörper- und musischer Kultur. Sie bewundert die Tänzerin Isidora Duncan, lädt Künstler ein. In dieser kultivierten, sinnlichen Atmosphäre gedeiht im Sohn eine Reizempfindlichkeit, die sich vor allem im Gaumen konzentriert: Er wird ein berühmter Koch. Aber er erbt auch die sexuelle Abenteuerlust des Vaters.
Im Roman "Und die Liebe? frag ich sie" (1998) hat Liane Dirks die Liebesgeschichte einer polnischen Jüdin und eines Deutschen erzählt. In "Vier Arten meinen Vater zu beerdigen" gehört zum mütterlichen Erbe die jüdische Herkunft ihrer - protestantisch getauften - Familie. Noch vor der christlichen Taufe wird der Sohn beschnitten. Das bringt den jungen Mann während des "Dritten Reichs", zumal als die Musterung bevorsteht, in arge Bedrängnis. Doch hatte der Mohel die Beschneidung so halbherzig vorgenommen, daß sie sich jetzt als operative Behandlung einer Phimose erklären läßt. Am Ende des Kriegs besinnt sich Günther auf das körperliche Mal, gibt sich als Jude aus und erschleicht sich die Vorteile der "Displaced Persons". Skrupel waren selten die Sache des Picaros, des Schelms.
Über Belgien kehrt er nach Hamburg zurück, kocht in einer Imbißstube, bis ihn ein Freund aus Jugendtagen, Besitzer eines Hotels, nach Barbados holt. Es ist die Insel, die man "Little England", auch "Klein Eden" nennt, und mit ihrem Naturzauber und ihren Mythen hätte sie tatsächlich ein Garten Eden werden können. Aber die Schlange dieses Paradieses heißt Sexus. Nicht nur der Koch Günther, der hier einen Höhepunkt seiner Berufslaufbahn erreicht, mißbraucht seine Töchter - auch der Freund vergeht sich an seinem eigenen Kind. Und da hat nun Liane Dirks' Roman doch einen Mädchenschänder zuviel.
Mit der Abreise von Barbados beginnt endgültig das Abenteuerleben des Günther Dirks, wechselnd zwischen Berufserfolgen, Alkoholexzessen und einer Gefängnishaft. Von München über Rothenburg ob der Tauber, Berlin und Marokko führt der Weg nach Singapur; dann verliert sich die Spur. Erst mit einem Brief aus Barbados, der die Erzählerin ans Lager des schwerkranken Vaters ruft, stellt sich wieder eine Verbindung her. Die Tochter findet auf der Insel nur noch den toten Vater vor.
Der Roman besitzt in der ersten Hälfte, mit den Kapiteln über die Hamburger Kindheit und Jugend der Hauptfigur, erzählerische Dichte. Eine schnörkellose, sach- und ereignisnahe Sprache vergegenwärtigt, auf dem Hintergrund des zeitgeschichtlichen Wandels, die Biographie eines werdenden Abenteurers. Immer hat die Erzählung Tempo. Mit der Rückkehr der Tochter nach Barbados aber wird sie verhaltener. Die Insel gewinnt für Alma Dirks etwas von der tatsächlichen Aura des "Klein Eden". Landschaft und Küste, die Freundlichkeit der Menschen, die den Toten als besten Koch rühmen, die Aufnahme in die Gottesdienstgemeinschaft der Schwarzen, die rituelle Waschung des Toten durch die Frauen, die Einäscherung, die Feier im Hotel - alles dies gibt dem Toten eine Würde, die er als Lebender nicht besaß. Die Tochter klettert mit der Urne auf einen Felsen und läßt, in einer Aufwallung nie gefühlter Zärtlichkeit, die Asche vom Wind ins Meer tragen.
Vier Arten, sich von einem Toten zu trennen, kennt man auf der Insel. Dreien ist nun Genüge getan: der Wache beim Toten, dem Nachdenken über den Kreislauf von Leben und Tod, dem Verstreuen der Asche im Meer. Die vierte: des Toten Geschichte zu erzählen, erfüllt Liane Dirks im Roman mit erstaunlicher erzählerischer Energie.
Liane Dirks: "Vier Arten meinen Vater zu beerdigen". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 247 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der autoritäre Zug ist abgefahren: Liane Dirks' behutsame Abrechnung mit dem Vater nimmt Anleihen beim Schelmenroman
Der junge Hotelbedienstete wird aufs Zimmer bestellt; man rechnet mit seiner Verschwiegenheit. Wir kennen die Situation aus den "Bekenntnissen" eines gewissen "Hochstaplers". Aber hier liegt das Hotel nicht in Paris und heißt nicht "Saint James and Albany", und der Debütant ist nicht der Liftboy Felix Krull; wir befinden uns im Hamburger Nobelhotel "Vier Jahreszeiten", und der Page ist der zur Ausbildung als Koch angenommene Günther Dirks. Nicht eine Madame Houpflé ruft ihn zu sich, sondern der Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Chef der Deutschen Arbeitsfront Dr. Robert Ley. Und der Page wird nicht als ein junger göttlicher Hermes ins Bett gezogen, sondern muß dem Arbeitsfrontchef für eine Orgie Kondome bringen. Im "Fürstensalon" residiert das Gemeine.
Der spätere Meisterkoch Günther Dirks ist der Vater der Erzählerin Alma Dirks in Liane Dirks' Roman "Vier Arten meinen Vater zu beerdigen". Die Namensgleichheit legt die Fährten aus für einen autobiographischen Roman. Aber wie weit die Übereinstimmungen mit den Verhältnissen der eigenen Familie Liane Dirks' gehen, muß den Leser nicht kümmern. Als Kompaß bieten sich zunächst zwei Romanmuster an, die sogenannte Väterliteratur und der pikarische oder Schelmenroman.
Ein Lieblingsmodell des deutschen Romans um 1970 rechnete mit der Vätergeneration ab. Vielfach gingen die Autoren mit den autoritären Zügen der Väter ins Gericht. Erst in Ludwig Harigs "Ordnung ist das ganze Leben. Roman meines Vaters" (1986) fand keine Ausstoßung im Geiste mehr statt. Liane Dirks' "Vier Arten meinen Vater zu beerdigen" nimmt den Enthüllungsgestus der Väterliteratur von einst wieder auf. Die Anklage lautet: Kindesmißbrauch. Hängt sich die Autorin an die Konjunktur an, die das Thema zur Zeit in den Medien hat? Kaum. Schon in ihrem ersten Roman, "Die liebe Angst" (1986), ist es von einer Eindringlichkeit, die auf unmittelbare Erfahrungen verweist. Die Anklägerin im neuen Roman moralisiert nicht, sie sieht das Delikt als Symptom eines fessellosen Sexualtriebs.
Die Romanfigur Günther Dirks also ein Ungeheuer? Weder wird die Erzählung seiner Tochter Alma zum Gerichts- noch zum Schauerroman. Denn sie ist angesteckt von der Weltoffenheit und Erzähllust des pikarischen oder Schelmenromans, der schon so vielen Romanen der Weltliteratur auf die Sprünge geholfen hat, nicht zuletzt dem "Felix Krull". Bereits in der Kindheit und Jugend Günthers, des Sohns einer Hamburger Kosmetikerin, in deren Salon sich die Schönen noch einmal verschönern lassen und die mit Salben und Parfüms laboriert, locken verführerische Reize. In der Familie schafft Luise mit ihrem Reformeifer ein Biotop aus Freikörper- und musischer Kultur. Sie bewundert die Tänzerin Isidora Duncan, lädt Künstler ein. In dieser kultivierten, sinnlichen Atmosphäre gedeiht im Sohn eine Reizempfindlichkeit, die sich vor allem im Gaumen konzentriert: Er wird ein berühmter Koch. Aber er erbt auch die sexuelle Abenteuerlust des Vaters.
Im Roman "Und die Liebe? frag ich sie" (1998) hat Liane Dirks die Liebesgeschichte einer polnischen Jüdin und eines Deutschen erzählt. In "Vier Arten meinen Vater zu beerdigen" gehört zum mütterlichen Erbe die jüdische Herkunft ihrer - protestantisch getauften - Familie. Noch vor der christlichen Taufe wird der Sohn beschnitten. Das bringt den jungen Mann während des "Dritten Reichs", zumal als die Musterung bevorsteht, in arge Bedrängnis. Doch hatte der Mohel die Beschneidung so halbherzig vorgenommen, daß sie sich jetzt als operative Behandlung einer Phimose erklären läßt. Am Ende des Kriegs besinnt sich Günther auf das körperliche Mal, gibt sich als Jude aus und erschleicht sich die Vorteile der "Displaced Persons". Skrupel waren selten die Sache des Picaros, des Schelms.
Über Belgien kehrt er nach Hamburg zurück, kocht in einer Imbißstube, bis ihn ein Freund aus Jugendtagen, Besitzer eines Hotels, nach Barbados holt. Es ist die Insel, die man "Little England", auch "Klein Eden" nennt, und mit ihrem Naturzauber und ihren Mythen hätte sie tatsächlich ein Garten Eden werden können. Aber die Schlange dieses Paradieses heißt Sexus. Nicht nur der Koch Günther, der hier einen Höhepunkt seiner Berufslaufbahn erreicht, mißbraucht seine Töchter - auch der Freund vergeht sich an seinem eigenen Kind. Und da hat nun Liane Dirks' Roman doch einen Mädchenschänder zuviel.
Mit der Abreise von Barbados beginnt endgültig das Abenteuerleben des Günther Dirks, wechselnd zwischen Berufserfolgen, Alkoholexzessen und einer Gefängnishaft. Von München über Rothenburg ob der Tauber, Berlin und Marokko führt der Weg nach Singapur; dann verliert sich die Spur. Erst mit einem Brief aus Barbados, der die Erzählerin ans Lager des schwerkranken Vaters ruft, stellt sich wieder eine Verbindung her. Die Tochter findet auf der Insel nur noch den toten Vater vor.
Der Roman besitzt in der ersten Hälfte, mit den Kapiteln über die Hamburger Kindheit und Jugend der Hauptfigur, erzählerische Dichte. Eine schnörkellose, sach- und ereignisnahe Sprache vergegenwärtigt, auf dem Hintergrund des zeitgeschichtlichen Wandels, die Biographie eines werdenden Abenteurers. Immer hat die Erzählung Tempo. Mit der Rückkehr der Tochter nach Barbados aber wird sie verhaltener. Die Insel gewinnt für Alma Dirks etwas von der tatsächlichen Aura des "Klein Eden". Landschaft und Küste, die Freundlichkeit der Menschen, die den Toten als besten Koch rühmen, die Aufnahme in die Gottesdienstgemeinschaft der Schwarzen, die rituelle Waschung des Toten durch die Frauen, die Einäscherung, die Feier im Hotel - alles dies gibt dem Toten eine Würde, die er als Lebender nicht besaß. Die Tochter klettert mit der Urne auf einen Felsen und läßt, in einer Aufwallung nie gefühlter Zärtlichkeit, die Asche vom Wind ins Meer tragen.
Vier Arten, sich von einem Toten zu trennen, kennt man auf der Insel. Dreien ist nun Genüge getan: der Wache beim Toten, dem Nachdenken über den Kreislauf von Leben und Tod, dem Verstreuen der Asche im Meer. Die vierte: des Toten Geschichte zu erzählen, erfüllt Liane Dirks im Roman mit erstaunlicher erzählerischer Energie.
Liane Dirks: "Vier Arten meinen Vater zu beerdigen". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 247 S., geb., 19,90 [Euro].
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