Produktdetails
- Verlag: Unionsverlag
- Originaltitel: Sishi tongtang
- 1998.
- Seitenzahl: 1101
- Deutsch
- Abmessung: 215mm
- Gewicht: 960g
- ISBN-13: 9783293002579
- ISBN-10: 3293002579
- Artikelnr.: 07645071
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.1999Höllensturz in Peking
Lao She versammelt vier Generationen unter einem Dach
Erst später legte er sich den Schriftstellernamen Lao She zu. Ursprünglich hieß er Shu Qingchun. Seine Sippe gehörte dem Mandschu-Volk an, das im siebzehnten Jahrhundert in China eindrang und die Macht übernahm. Längst aber war die Familie ins städtische Proletariat abgesunken. Sein Vater - ein einfacher Wächter in der verbotenen Kaiserstadt - starb während des Boxeraufstandes im Kampf gegen die westlichen Truppen, als der Sohn gerade ein Jahr alt war. Die angespannte materielle Lage seiner Kindheit mag dazu beigetragen haben, daß er sich zeitlebens den Blick für die einfachen Leute in China bewahrte. Seine Berufswahl war durch ein Stipendium bestimmt worden, das die kostenlose Ausbildung zum Lehrer ermöglichte. 1924 ging er nach England, wo er an der London School of Oriental Studies Chinesisch unterrichtete. Dort kam er in Kontakt mit der westlichen Literatur. Bekannt wurde er durch seinen 1936 erschienener Roman "Der Rikschakuli" über das Leben eines einfachen Mannes im Kampf gegen eine korrupte Gesellschaft.
Lao She begrüßte den Sieg der Kommunisten und kehrte 1949, wenige Wochen nach Ausrufung der Volksrepublik, nach Peking zurück. Dort entwickelte er durch sein erzählerisches und dramatisches Werk, das einem volkspädagogischen Anspruch diente, eine ungeheure Popularität. Weil er wertvolle Gemälde, Bücher und Antiquitäten besaß und über zahlreiche Kontakte zum europäischen und amerikanischen Ausland verfügte, geriet er während der Kulturrevolution in Verdacht, "Konterrevolutionär" zu sein. Er wurde verhaftet, verhört, wieder auf freien Fuß gesetzt und am 24. August 1966 unweit der alten Stadtmauern tot aufgefunden. Ob Mord oder Selbstmord, diese Frage konnte nie geklärt werden.
Lao Shes Roman "Vier Generationen unter einem Dach", der nun in deutscher Übersetzung vorliegt, handelt von der Besetzung Nordchinas durch die Japaner von 1937 bis 1945. Er schrieb ihn während seines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten von 1946 bis 1949. Lao She hatte in der Besatzungszeit dem Widerstand angehört. Man darf sich daher nicht wundern, daß der Roman eine antijapanische Tendenz aufweist und die Greueltaten der Besatzer in aller Deutlichkeit schildert. Wer weiß, wie die Japaner in jener Zeit nicht nur in China, sondern in vielen Gegenden Asiens gewütet haben, wird dies nicht vorschnell als Propaganda abtun.
Der Titel des Werks ist programmatisch: Im Zentrum steht das Haus der Familie Qi, unter dessen Dach sich vier Generationen versammeln. Lao She erweitert das Blickfeld, in dem die Nachbarschaft, die Stadt Peking, letztendlich ganz China ins Visier genommen wird. Der Roman ist nicht nur eine Familiensaga, sondern anhand der Gestalten, die das kleine Viertel der Qis bewohnen, werden die unterschiedlichen Haltungen vorgeführt, die unter dem Druck der japanischen Herrschaft möglich waren. Die Skala reicht vom Heldentypus des Widerstandskämpfers an der Front über die Grauabstufungen der Menschen, die aufgrund beruflicher und familiärer Notwendigkeiten mitspielen müssen, bis zum Verräter an der chinesischen Sache. Lao She ging es im Kosmos seines Werks um Vielfalt und um das Detail so entsteht auf elfhundert Seiten ein Sittenspiegel des Landes.
Der Autor erweist sich in seinem Werk ganz als Romancier westlichen Zuschnitts in der Tradition der großen Realisten. Insbesondere der Einfluß Dickens ist überdeutlich, man spürt dies vor allem an der humoristischen Ausgestaltung der Szenen, in denen die Darstellung der Opportunistenzirkel ins Zentrum rückt. Hier wird keine Gemeinheit gemieden, um sich bei den neuen Herren beliebt zu machen. Aber auch Anklänge an Balzac, Flaubert, Zola sind bemerkbar.
Lao She gestaltet die Erfahrung der Besatzungszeit und des Krieges als einen Höllensturz. Gewaltsamer Tod, Mangel und Armut brechen zunehmend in die Wirklichkeit ein, überall beginnen sich die Reihen zu lichten. Der aufrechte Bürger, der scharwenzelnde Lakai, der hochgemute Europäer, der brutale japanische Herrenmensch, sie alle werden von der Gewalt des Geschehens erfasst und müssen am Ende bittere Opfer bringen. Der heroisierende Grundton des Romans will es, daß nur unterschieden wird zwischen denen, die aufrecht und im Bewußtsein der guten Sache sterben, und denen, die in Feigheit und Verblendung dem Untergang entgegengehen. Trotz der Unerbittlichkeit und Grausamkeit des Geschehens scheint der Geschichtsoptimismus Lao Shes unzerstörbar: Sein Glaube an den endgültigen Triumph von Gerechtigkeit und Frieden, an die Erziehbarkeit und Lernfähigkeit des Menschen ist unerschütterlich. KLAUS GAUGER
Lao She: "Vier Generationen unter einem Dach". Herausgegeben und aus dem Chinesischen übersetzt von Irmtraud Fessen-Henjes. Unionsverlag, Zürich 1998. 1104 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lao She versammelt vier Generationen unter einem Dach
Erst später legte er sich den Schriftstellernamen Lao She zu. Ursprünglich hieß er Shu Qingchun. Seine Sippe gehörte dem Mandschu-Volk an, das im siebzehnten Jahrhundert in China eindrang und die Macht übernahm. Längst aber war die Familie ins städtische Proletariat abgesunken. Sein Vater - ein einfacher Wächter in der verbotenen Kaiserstadt - starb während des Boxeraufstandes im Kampf gegen die westlichen Truppen, als der Sohn gerade ein Jahr alt war. Die angespannte materielle Lage seiner Kindheit mag dazu beigetragen haben, daß er sich zeitlebens den Blick für die einfachen Leute in China bewahrte. Seine Berufswahl war durch ein Stipendium bestimmt worden, das die kostenlose Ausbildung zum Lehrer ermöglichte. 1924 ging er nach England, wo er an der London School of Oriental Studies Chinesisch unterrichtete. Dort kam er in Kontakt mit der westlichen Literatur. Bekannt wurde er durch seinen 1936 erschienener Roman "Der Rikschakuli" über das Leben eines einfachen Mannes im Kampf gegen eine korrupte Gesellschaft.
Lao She begrüßte den Sieg der Kommunisten und kehrte 1949, wenige Wochen nach Ausrufung der Volksrepublik, nach Peking zurück. Dort entwickelte er durch sein erzählerisches und dramatisches Werk, das einem volkspädagogischen Anspruch diente, eine ungeheure Popularität. Weil er wertvolle Gemälde, Bücher und Antiquitäten besaß und über zahlreiche Kontakte zum europäischen und amerikanischen Ausland verfügte, geriet er während der Kulturrevolution in Verdacht, "Konterrevolutionär" zu sein. Er wurde verhaftet, verhört, wieder auf freien Fuß gesetzt und am 24. August 1966 unweit der alten Stadtmauern tot aufgefunden. Ob Mord oder Selbstmord, diese Frage konnte nie geklärt werden.
Lao Shes Roman "Vier Generationen unter einem Dach", der nun in deutscher Übersetzung vorliegt, handelt von der Besetzung Nordchinas durch die Japaner von 1937 bis 1945. Er schrieb ihn während seines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten von 1946 bis 1949. Lao She hatte in der Besatzungszeit dem Widerstand angehört. Man darf sich daher nicht wundern, daß der Roman eine antijapanische Tendenz aufweist und die Greueltaten der Besatzer in aller Deutlichkeit schildert. Wer weiß, wie die Japaner in jener Zeit nicht nur in China, sondern in vielen Gegenden Asiens gewütet haben, wird dies nicht vorschnell als Propaganda abtun.
Der Titel des Werks ist programmatisch: Im Zentrum steht das Haus der Familie Qi, unter dessen Dach sich vier Generationen versammeln. Lao She erweitert das Blickfeld, in dem die Nachbarschaft, die Stadt Peking, letztendlich ganz China ins Visier genommen wird. Der Roman ist nicht nur eine Familiensaga, sondern anhand der Gestalten, die das kleine Viertel der Qis bewohnen, werden die unterschiedlichen Haltungen vorgeführt, die unter dem Druck der japanischen Herrschaft möglich waren. Die Skala reicht vom Heldentypus des Widerstandskämpfers an der Front über die Grauabstufungen der Menschen, die aufgrund beruflicher und familiärer Notwendigkeiten mitspielen müssen, bis zum Verräter an der chinesischen Sache. Lao She ging es im Kosmos seines Werks um Vielfalt und um das Detail so entsteht auf elfhundert Seiten ein Sittenspiegel des Landes.
Der Autor erweist sich in seinem Werk ganz als Romancier westlichen Zuschnitts in der Tradition der großen Realisten. Insbesondere der Einfluß Dickens ist überdeutlich, man spürt dies vor allem an der humoristischen Ausgestaltung der Szenen, in denen die Darstellung der Opportunistenzirkel ins Zentrum rückt. Hier wird keine Gemeinheit gemieden, um sich bei den neuen Herren beliebt zu machen. Aber auch Anklänge an Balzac, Flaubert, Zola sind bemerkbar.
Lao She gestaltet die Erfahrung der Besatzungszeit und des Krieges als einen Höllensturz. Gewaltsamer Tod, Mangel und Armut brechen zunehmend in die Wirklichkeit ein, überall beginnen sich die Reihen zu lichten. Der aufrechte Bürger, der scharwenzelnde Lakai, der hochgemute Europäer, der brutale japanische Herrenmensch, sie alle werden von der Gewalt des Geschehens erfasst und müssen am Ende bittere Opfer bringen. Der heroisierende Grundton des Romans will es, daß nur unterschieden wird zwischen denen, die aufrecht und im Bewußtsein der guten Sache sterben, und denen, die in Feigheit und Verblendung dem Untergang entgegengehen. Trotz der Unerbittlichkeit und Grausamkeit des Geschehens scheint der Geschichtsoptimismus Lao Shes unzerstörbar: Sein Glaube an den endgültigen Triumph von Gerechtigkeit und Frieden, an die Erziehbarkeit und Lernfähigkeit des Menschen ist unerschütterlich. KLAUS GAUGER
Lao She: "Vier Generationen unter einem Dach". Herausgegeben und aus dem Chinesischen übersetzt von Irmtraud Fessen-Henjes. Unionsverlag, Zürich 1998. 1104 S., geb., 68,- DM.
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