Was weiß ein Mensch über die eigenen Abgründe?
Wer liebt Ines? Von all ihren Männern keiner so wie Elias. Bloß dass der ihr Bruder ist. Jeden ihrer Liebhaber hat er an sich gezogen und wieder weggestoßen. Als alle zu Hause bleiben sollen und die Welt kurz wie eingefroren ist, besucht Carl, der wie Elias als Flugbegleiter arbeitet, die Geschwister. Zwischen den dreien nimmt ein alles mit sich reißendes, weit in die Welt ausgreifendes Kammerspiel seinen unaufhaltsamen Lauf. »Vier Tage, drei Nächte« ist ein aufwühlender Roman über Geschwisterliebe, Begehren und Rassismus - voller Schönheit und Provokation, Spannung und Trauer.
»Ein kunstvoller, politisch hochbrisanter Text« SWR2
Wer liebt Ines? Von all ihren Männern keiner so wie Elias. Bloß dass der ihr Bruder ist. Jeden ihrer Liebhaber hat er an sich gezogen und wieder weggestoßen. Als alle zu Hause bleiben sollen und die Welt kurz wie eingefroren ist, besucht Carl, der wie Elias als Flugbegleiter arbeitet, die Geschwister. Zwischen den dreien nimmt ein alles mit sich reißendes, weit in die Welt ausgreifendes Kammerspiel seinen unaufhaltsamen Lauf. »Vier Tage, drei Nächte« ist ein aufwühlender Roman über Geschwisterliebe, Begehren und Rassismus - voller Schönheit und Provokation, Spannung und Trauer.
»Ein kunstvoller, politisch hochbrisanter Text« SWR2
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Norbert Gstrein ist gut darin, Ambivalenzen und Abgründe zu sezieren und dabei nicht Klarheit, sondern Verwirrung zu stiften, stellt Rezensent Christoph Schröder fest. So überrascht ihn auch nicht, dass der neue Roman "Vier Tage, drei Nächte" sich auf diese Weise einem ebenfalls schon bekannten Thema widmet: Familien- und Liebesbeziehungen, die sich um Macht- und Schuldfragen drehen. Hier stehe nun das Halbgeschwisterpaar Elias und Ines im Zentrum, das wohl auch inzestuös miteinander verbunden ist. Beide, wie auch der sehr spezielle Vater, verhielten sich durchgängig toxisch, was von Gstrein in allen Nuancen perfekt und spannungsreich ausgestellt wird und daneben heutige Identitätsdebatten beleuchtet, freut sich der Rezensent. Er ist froh, dass der Autor es wagt, sich auch menschlichen und Beziehungsabgründen zu widmen und sieht ihn damit absolut am Puls der Zeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.08.2022Du traust
dich nicht
Die Welt ist nichts als Fiktion? Allmählich spinnt
sich der Schriftsteller Norbert Gstrein völlig
in Selbstbezüglichkeit ein. Womöglich auch ein
Symptom der Gegenwart
VON HUBERT WINKELS
Keine Angst, der will ja nur spielen“, möchte man den Lesern der jüngsten Romane von Norbert Gstrein zurufen. Die Texte tanzen über Abgründe, sind mit meist weiblichen Leichen ornamentiert, vermischen schlimmen Zufall mit böser Absicht und rufen ins grausige Getöse immer mal wieder einen fröhlichen Disclaimer hinein, so etwas wie: Das ist ja nur ein Diskurseffekt, von einer Figur erzählt, unterstellt, übertrieben.
Man neigt dazu, die Kautelen der ewigen Ich-Erzähler in Gstreins Büchern zu akzeptieren, ja sie literarisch zu nobilitieren beim Lesen: Was da aufregt und erklärend besänftigt wird auf jeder Seite, sei nur Effekt eines sich steigernden und verzweigenden Missverstehens, einer überspannten Sprach- und Erzählreflexion, die mit einer bekannten Realität zu verwechseln gar nicht erst nahegelegt wird. So kennen wir Norbert Gstrein schon immer, manchmal war trotzdem der historische Stoff interessant, wie in den „Englischen Jahren“ zum Beispiel über eine gestohlene jüdische Biografie im und nach dem Zweiten Weltkrieg oder in seinen Romanen zu den jugoslawischen Zerfallskriegen. Spätestens mit den jüngsten Büchern „Als ich jung war“ und „Der zweite Jakob“ hat Norbert Gstrein die sprachliche Effektproduktion merklich gesteigert. Im neuen Roman „Vier Tage, drei Nächte“ erzeugt ein dauerkommunizierendes Ensemble dreier vom sexuellen Begehren schwer versehrter Spielfiguren einen alles umfassenden Raum semantischer Uneindeutigkeiten. Es gibt keine Tatsachen, nur Gerede. Wahrscheinlich gibt es überhaupt nur einen Redefluss, der mehrere psychosexuelle Abspaltungen mit Eigennamen produziert.
Der Erzähler Elias, ein noch junger Nichtsnutz, bringt seine lebenslange Fantasiegeliebte Ines hervor und macht sie gleich zu seiner Schwester, sodass wir es mit einem Inzestroman zu tun haben. Um sich zu vergnügen, rekrutieren beide dritte Mitspieler, deren Begehren sie herausfordern, um sie in toxischer Abhängigkeit foltern zu können. Oder sie zu doppelten Liebhabern zu machen. Oder sie umzubringen.
Doch so klar ist das nie. Tatsachen sind nämlich nur Fiktionen mit geheimem Bauplan, und Romane sind Systeme zur Erzeugung von Uneindeutigkeit; womit sie die allgemeine kommunikative Praxis spiegeln sollen, die sich mittels Systemen des Falschverstehens verständigt. Das ist jedenfalls das ästhetische Programm von Norbert Gstrein. Nehmen wir ein einfaches Beispiel, einen frühen, na ja, Mord. Der pubertäre Marcel Fichtner reist mit seinen Eltern ins Skihotel des reichen Vaters der Geschwister. Er begehrt Ines, teilt mit ihr den Sesselliftbügel, wie es der eifersüchtige Elias erzählt. Der räsoniert nach Marcels tödlichem Unfall: „Wir hatten damals an der steilsten Stelle der Piste, direkt entlang der Lifttrasse eine Schussstrecke für unsere Abfahrten gehabt, zweihundert Meter, bretthart präpariert, die einen beim kleinsten Fehler zerreißen konnte, und es war gar kein so großes Rätsel, warum der junge Fichtner geglaubt hatte, es uns nachtun und sich dort hinunterstürzen zu müssen, obwohl er keine acht Tage auf Skiern im Jahr hatte. Ich hatte in Ines’ Gegenwart zu ihm gesagt ‚Du traust dich nicht‘, sie hatte herausfordernd gelacht, und er hatte…es dann allein versucht.“ Noch könnte das der Beginn einer „Natural Born Killers“-Geschichte sein. Doch die Erzeugung von Liebhabern und Opfern wird immer subtiler, die Undurchsichtigkeit des Tathergangs stärker, weil die psychologische Distanzierung mehr und mehr in eine sprachliche übergeht.
Es häufen sich die Konjunktive und Passivkonstruktionen, Modalwörter und komplexe Zeitformen wie das Futur zwei. In solchen Satzkonstruktionen geht alle semantische Stabilität und psychologische Gewissheit verloren. Schon in den beiden Vorgängerromanen war zwischen einem Fotografieren am Abgrund und dem Herbeiführen eines tödlichen Absturzes nicht zu unterscheiden. Die sprachlichen Elaborate, die sich über das wölben, was man das factum brutum nennen möchte, nämlich den toten menschlichen Körper, werden jetzt immer waghalsiger. Das Reale löst sich in einem Konstrukt der Zeichen auf.
Man spielt Scrabble im Roman, liest historische Liebesbriefe von unbekannten Lyrikern aus den Fünfzigerjahren, stilisiert sich – in Corona-Zeiten – zur Gruppe nobler Pestfliehender in Boccaccios „Decamerone“. Eine schreibt einen Roman, liest draus vor, bis das Wiedererkennen in Hass mündet; einer veröffentlicht eine Kurzgeschichte, die die anderen tödlich aufbringt; man lässt intime Telefonate mithören, reicht den Hörer weiter und manchmal damit auch gleich den Liebhaber, und wie zum Hohn schlägt man einem mit Kieferbruch stumm gemachten Verehrer vor dessen kleinen Kindern noch einmal heftig ins Gesicht (will da einer aussteigen aus dem Liebes- und Redespiel?).
Am Ende dieser Kette des perversen Begehrens wird man lesend nur noch über das Zeichenspiel räsonieren; von plausibler Handlung kann so wenig die Rede sein wie von greifbaren Akteuren. Norbert Gstrein schreibt endgültig eine kommunikationstheoretische Abhandlung in Romanform, die als schöne Literatur betrachtet, wenn überhaupt, durch ihre Überinszenierung und trotzige Redundanz beeindruckt.
Dem langjährigen Leser Gstreins kommt es manchmal vor, als ob dieser sich in einer paradoxen Intervention aus dem Zwang der Selbstbezüglichkeit befreien wolle: nicht indem er zu einem halbwegs nachvollziehbaren Plot zurückkommt, sondern indem er die Selbstreferenz steigert, die Romanwelt endogam abschließt, sie inzestuös verdichtet – inhaltlich gespiegelt in lauter inzestuösen Beziehungen. Inzest ist Ausschluss. Er geht also nicht hinaus in die Welt, sondern verdichtet sie mittels sprachlich-sexueller Anziehungskraft zu einem Punkt, an dem idealerweise alles mit allem zusammenfällt.
Elias und insbesondere Ines neigen dazu, weitere Liebespartner anzulocken, sie mit der Macht der intellektuellen Arroganz abhängig zu machen, und der Leser wird das Gefühl nicht los, seine Deutungsanstrengungen seien bereits Teil dieses sado-masochistischen Settings. Vor allem Elias schraubt sich jeweils in den Nebenbuhler hinein und teilt mit ihm vollständig alle Neurosen und Sehnsüchte; oder er übernimmt ihn gleich als Liebhaber von der Schwester, die das still genießen kann.
So haben wir zum Beispiel in Moritz und Carl zwei starke bipolare Liebhaber, in Ulrich und dem ‚schockverliebten Schriftsteller‘ zwei sadistisch malträtierte Schwächlinge, die seelisch und physisch vom entrückten Paar gefoltert werden. Es gibt keinen Ausweg. Doch da alle Figuren zwanghaft alles erzählen, lesen wir auch von einer stummen weiteren Halbschwester des inzestuösen Paares namens Emma, die „drüben,
jenseits der Grenze“ lebt; gemeint ist das „welsche“ Italien jenseits Tirols, doch wir übersetzen: außerhalb des Romans. Man kann eine Reminiszenz an den sprachlosen, doch viel besprochenen Jakob darin sehen, die zentrale Figur in Norbert Gstreins Erstling „Einer“ von 1988, der, während man noch von ihm spricht, schon in die Psychiatrie verbracht wird.
So viele Selbstreferenzen hat es in Norbert Gstreins gutem Dutzend Romanen und langen Erzählungen noch nicht gegeben. Man sollte einen Gstrein-Grundkurs hinter sich haben, um Vergnügen an der Lektüre zu finden. Doch selbst dann wird man sich an der Indifferenz stören, die aus der Gleichförmigkeit der Mittel folgt.
Nur ganz am Ende des Romans lauert ein kurzer irritierender Absturz in den trivialen Diskurs. Da rückt Gstrein plötzlich Homophobie und Rassismus in ihren zeitgenössischen Verdachtsgestalten in den Mittelpunkt. Diese rumpelnd modische Auseinandersetzung mit der Gegenwart ist so heikel, dass ein Kurzkapitel auf Englisch verfasst ist. Man fühlt sich kurz gefoppt ob der gespielten Tragik in der wohlfeilen Empörung. Doch schon springen die Betroffenen wieder nackt gemeinsam ins Wasser. Es schließt sich über ihren Körpern – ein Schlussbild der fortdauernden Gleichgültigkeit.
Zum Schluss rumpelt modisch
der Bezug auf Homophobie und
Rassismus in den Roman
Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte.
Roman. Hanser,
München 2022.
352 Seiten, 26 Euro.
Es häufen sich Konjunktive, Passivkonstruktionen, komplexe Zeitformen: Der in Tirol geborene Schriftsteller Norbert Gstrein.
Foto: Sebastian Gollnow/dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
dich nicht
Die Welt ist nichts als Fiktion? Allmählich spinnt
sich der Schriftsteller Norbert Gstrein völlig
in Selbstbezüglichkeit ein. Womöglich auch ein
Symptom der Gegenwart
VON HUBERT WINKELS
Keine Angst, der will ja nur spielen“, möchte man den Lesern der jüngsten Romane von Norbert Gstrein zurufen. Die Texte tanzen über Abgründe, sind mit meist weiblichen Leichen ornamentiert, vermischen schlimmen Zufall mit böser Absicht und rufen ins grausige Getöse immer mal wieder einen fröhlichen Disclaimer hinein, so etwas wie: Das ist ja nur ein Diskurseffekt, von einer Figur erzählt, unterstellt, übertrieben.
Man neigt dazu, die Kautelen der ewigen Ich-Erzähler in Gstreins Büchern zu akzeptieren, ja sie literarisch zu nobilitieren beim Lesen: Was da aufregt und erklärend besänftigt wird auf jeder Seite, sei nur Effekt eines sich steigernden und verzweigenden Missverstehens, einer überspannten Sprach- und Erzählreflexion, die mit einer bekannten Realität zu verwechseln gar nicht erst nahegelegt wird. So kennen wir Norbert Gstrein schon immer, manchmal war trotzdem der historische Stoff interessant, wie in den „Englischen Jahren“ zum Beispiel über eine gestohlene jüdische Biografie im und nach dem Zweiten Weltkrieg oder in seinen Romanen zu den jugoslawischen Zerfallskriegen. Spätestens mit den jüngsten Büchern „Als ich jung war“ und „Der zweite Jakob“ hat Norbert Gstrein die sprachliche Effektproduktion merklich gesteigert. Im neuen Roman „Vier Tage, drei Nächte“ erzeugt ein dauerkommunizierendes Ensemble dreier vom sexuellen Begehren schwer versehrter Spielfiguren einen alles umfassenden Raum semantischer Uneindeutigkeiten. Es gibt keine Tatsachen, nur Gerede. Wahrscheinlich gibt es überhaupt nur einen Redefluss, der mehrere psychosexuelle Abspaltungen mit Eigennamen produziert.
Der Erzähler Elias, ein noch junger Nichtsnutz, bringt seine lebenslange Fantasiegeliebte Ines hervor und macht sie gleich zu seiner Schwester, sodass wir es mit einem Inzestroman zu tun haben. Um sich zu vergnügen, rekrutieren beide dritte Mitspieler, deren Begehren sie herausfordern, um sie in toxischer Abhängigkeit foltern zu können. Oder sie zu doppelten Liebhabern zu machen. Oder sie umzubringen.
Doch so klar ist das nie. Tatsachen sind nämlich nur Fiktionen mit geheimem Bauplan, und Romane sind Systeme zur Erzeugung von Uneindeutigkeit; womit sie die allgemeine kommunikative Praxis spiegeln sollen, die sich mittels Systemen des Falschverstehens verständigt. Das ist jedenfalls das ästhetische Programm von Norbert Gstrein. Nehmen wir ein einfaches Beispiel, einen frühen, na ja, Mord. Der pubertäre Marcel Fichtner reist mit seinen Eltern ins Skihotel des reichen Vaters der Geschwister. Er begehrt Ines, teilt mit ihr den Sesselliftbügel, wie es der eifersüchtige Elias erzählt. Der räsoniert nach Marcels tödlichem Unfall: „Wir hatten damals an der steilsten Stelle der Piste, direkt entlang der Lifttrasse eine Schussstrecke für unsere Abfahrten gehabt, zweihundert Meter, bretthart präpariert, die einen beim kleinsten Fehler zerreißen konnte, und es war gar kein so großes Rätsel, warum der junge Fichtner geglaubt hatte, es uns nachtun und sich dort hinunterstürzen zu müssen, obwohl er keine acht Tage auf Skiern im Jahr hatte. Ich hatte in Ines’ Gegenwart zu ihm gesagt ‚Du traust dich nicht‘, sie hatte herausfordernd gelacht, und er hatte…es dann allein versucht.“ Noch könnte das der Beginn einer „Natural Born Killers“-Geschichte sein. Doch die Erzeugung von Liebhabern und Opfern wird immer subtiler, die Undurchsichtigkeit des Tathergangs stärker, weil die psychologische Distanzierung mehr und mehr in eine sprachliche übergeht.
Es häufen sich die Konjunktive und Passivkonstruktionen, Modalwörter und komplexe Zeitformen wie das Futur zwei. In solchen Satzkonstruktionen geht alle semantische Stabilität und psychologische Gewissheit verloren. Schon in den beiden Vorgängerromanen war zwischen einem Fotografieren am Abgrund und dem Herbeiführen eines tödlichen Absturzes nicht zu unterscheiden. Die sprachlichen Elaborate, die sich über das wölben, was man das factum brutum nennen möchte, nämlich den toten menschlichen Körper, werden jetzt immer waghalsiger. Das Reale löst sich in einem Konstrukt der Zeichen auf.
Man spielt Scrabble im Roman, liest historische Liebesbriefe von unbekannten Lyrikern aus den Fünfzigerjahren, stilisiert sich – in Corona-Zeiten – zur Gruppe nobler Pestfliehender in Boccaccios „Decamerone“. Eine schreibt einen Roman, liest draus vor, bis das Wiedererkennen in Hass mündet; einer veröffentlicht eine Kurzgeschichte, die die anderen tödlich aufbringt; man lässt intime Telefonate mithören, reicht den Hörer weiter und manchmal damit auch gleich den Liebhaber, und wie zum Hohn schlägt man einem mit Kieferbruch stumm gemachten Verehrer vor dessen kleinen Kindern noch einmal heftig ins Gesicht (will da einer aussteigen aus dem Liebes- und Redespiel?).
Am Ende dieser Kette des perversen Begehrens wird man lesend nur noch über das Zeichenspiel räsonieren; von plausibler Handlung kann so wenig die Rede sein wie von greifbaren Akteuren. Norbert Gstrein schreibt endgültig eine kommunikationstheoretische Abhandlung in Romanform, die als schöne Literatur betrachtet, wenn überhaupt, durch ihre Überinszenierung und trotzige Redundanz beeindruckt.
Dem langjährigen Leser Gstreins kommt es manchmal vor, als ob dieser sich in einer paradoxen Intervention aus dem Zwang der Selbstbezüglichkeit befreien wolle: nicht indem er zu einem halbwegs nachvollziehbaren Plot zurückkommt, sondern indem er die Selbstreferenz steigert, die Romanwelt endogam abschließt, sie inzestuös verdichtet – inhaltlich gespiegelt in lauter inzestuösen Beziehungen. Inzest ist Ausschluss. Er geht also nicht hinaus in die Welt, sondern verdichtet sie mittels sprachlich-sexueller Anziehungskraft zu einem Punkt, an dem idealerweise alles mit allem zusammenfällt.
Elias und insbesondere Ines neigen dazu, weitere Liebespartner anzulocken, sie mit der Macht der intellektuellen Arroganz abhängig zu machen, und der Leser wird das Gefühl nicht los, seine Deutungsanstrengungen seien bereits Teil dieses sado-masochistischen Settings. Vor allem Elias schraubt sich jeweils in den Nebenbuhler hinein und teilt mit ihm vollständig alle Neurosen und Sehnsüchte; oder er übernimmt ihn gleich als Liebhaber von der Schwester, die das still genießen kann.
So haben wir zum Beispiel in Moritz und Carl zwei starke bipolare Liebhaber, in Ulrich und dem ‚schockverliebten Schriftsteller‘ zwei sadistisch malträtierte Schwächlinge, die seelisch und physisch vom entrückten Paar gefoltert werden. Es gibt keinen Ausweg. Doch da alle Figuren zwanghaft alles erzählen, lesen wir auch von einer stummen weiteren Halbschwester des inzestuösen Paares namens Emma, die „drüben,
jenseits der Grenze“ lebt; gemeint ist das „welsche“ Italien jenseits Tirols, doch wir übersetzen: außerhalb des Romans. Man kann eine Reminiszenz an den sprachlosen, doch viel besprochenen Jakob darin sehen, die zentrale Figur in Norbert Gstreins Erstling „Einer“ von 1988, der, während man noch von ihm spricht, schon in die Psychiatrie verbracht wird.
So viele Selbstreferenzen hat es in Norbert Gstreins gutem Dutzend Romanen und langen Erzählungen noch nicht gegeben. Man sollte einen Gstrein-Grundkurs hinter sich haben, um Vergnügen an der Lektüre zu finden. Doch selbst dann wird man sich an der Indifferenz stören, die aus der Gleichförmigkeit der Mittel folgt.
Nur ganz am Ende des Romans lauert ein kurzer irritierender Absturz in den trivialen Diskurs. Da rückt Gstrein plötzlich Homophobie und Rassismus in ihren zeitgenössischen Verdachtsgestalten in den Mittelpunkt. Diese rumpelnd modische Auseinandersetzung mit der Gegenwart ist so heikel, dass ein Kurzkapitel auf Englisch verfasst ist. Man fühlt sich kurz gefoppt ob der gespielten Tragik in der wohlfeilen Empörung. Doch schon springen die Betroffenen wieder nackt gemeinsam ins Wasser. Es schließt sich über ihren Körpern – ein Schlussbild der fortdauernden Gleichgültigkeit.
Zum Schluss rumpelt modisch
der Bezug auf Homophobie und
Rassismus in den Roman
Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte.
Roman. Hanser,
München 2022.
352 Seiten, 26 Euro.
Es häufen sich Konjunktive, Passivkonstruktionen, komplexe Zeitformen: Der in Tirol geborene Schriftsteller Norbert Gstrein.
Foto: Sebastian Gollnow/dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Norbert Gstrein fischt auf künstlerisch bestechende Weise im Trüben der Ambivalenz. Ein schmutziger Job. Gut, dass ihn jemand macht." Christoph Schröder, Die Zeit, 24.11.22
"Gstrein verhandelt kunstvoll Fragen der Identität jenseits identitätspolitischer Schablonen." Beate Tröger, Der Freitag, 08.09.22
"Kaum ein anderer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dürfte so eindrucksvoll von der Blindheit der Subjekte für ihr ganz spezifisches So-Sein erzählen wie Norbert Gstrein. ... Vier Tage, drei Nächte führt mit traumwandlerischer Sicherheit in Abgründe und Widersprüche. Die Erinnerung filtert und trügt; was bleibt, ist die Gewissheit, dass man in den letzten Dingen mit sich bleibt, unabänderlich fremd." Beate Tröger, Freitag, 09.09.22
"'Vier Tage, drei Nächte' feiert den Triumph des Uneindeutigen - und man mag darin, wenn man will, subkutan einen Gegenentwurf zu den verheerenden indentitätspolitischen Debatten unserer Tage erkennen ... Norbert Gstreins vielschichtiger Roman ertappt uns auf raffinierte Weise beim ganz alltäglichen Rassismus." Bettina Schulte, Badische Zeitung, 02.09.22
"Norbert Gstrein ist ein Meister des Perspektivenwechsels. Meisterhaft lädt er seine Leserinnen und Leser dazu ein, es ihm nachzutun und mit den Figuren aus der Geschichte den eigenen Blick auf die Welt zu schärfen." Sabine Zaplin, BR24 30.08.22
"Gstrein lockt den Leser quasi in die Falle seiner unbewussten Vorannahmen: Warum gehen wir selbstverständlich davon aus, dass eine Figur weiß sei, wenn das gar nicht gesagt wird. Blättert man noch einmal zurück, stellt man fest, wie subtil dieses Motiv gleichsam unter den Augen des farbenblinden Lesers vorbereitet worden ist." Richard Kämmerlings, Welt am Sonntag, 28.08.22
"Der Roman hallt als dichtes, ausgeklügeltes Spiel mit Identitäten und Motiven lange nach. Und hat obendrein noch einiges an bösem Humor auf Lager." Paula Pfoser, ORF.at, 27.08.22
"Es ist angerichtet! Diese drei Worte sollten auf allen Vorsatzblättern der Romane Norbert Gstreins stehen. Irgendwer hat etwas angerichtet, und der Österreicher hebt das Ergebnis menschlichen Makels auf die kulinarische Ebene seiner Romane. Und zwar mit ziemlichem Raffinement." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 25.08.22
"Was kann man vom Leben der anderen wissen, was weiß man überhaupt von sich selbst? In makellosen, gern auch etwas weiter ausholenden Sätzen arbeitet sich Norbert Gstrein in seinen Büchern, immer neu ansetzend, an ähnlichen Fragen ab. Dass sein Schreibprogramm nicht langweilig wird, spricht für ihn." Sebastian Fasthuber, Falter, 24.08.22
"Im letzten Abschnitt mit dem Titel 'Drei Arten, ein Rassist zu sein' tritt der Autor vollends zurück und überlässt seinen Figuren das Kommando ... Es ist eine Eskalation des Erzählens, die Gstrein hier, an einem möglichen Ende eines Liebesromans, glanzvoll in Szene setzt." Klaus Kastberger, Die Presse, 23.08.22
"Norbert Gstrein ist einMeister darin, all diese zurechtgelogenen Wahrheiten seiner Protagonisten wunderbar schillern zu lassen. Man muss die Figuren deshalb weder bedauern noch verurteilen. Man darf sie in all ihrer Schwäche lieben." Jörg Magenau, Deutschlandfunk Kultur Lesart, 22.08.22
"Ein kunstvoll gebauter, politisch hochbrisanter Text. ... Dieser Roman bietet eine intellektuelle Lektüre, ohne verkopft zu sein. Beeindruckend wie immer bei Gstrein sind die Satzschlangen, die sich um die bitteren Gedankengänge der Protagonisten winden. So entwickelt die Prosa gerade in heftigen Szenen eine seltsam schöne Sinnlichkeit." Carsten Otte, SWR2 lesenswert, 22.08.22
"Das Ende ist brillant und schafft das Kunststück, Rassismus, Flüchtlingskrise die Frage nach Dazugehörigkeit und das Vermögen der Literatur, in eine fremde Haut schlüpfen zu können (oder eben nicht), in Szenen zu fassen, die von großer Anschaulichkeit sind." Thomas Andre, Hamburger Abendblatt, 20.08.22
"Gstrein verhandelt kunstvoll Fragen der Identität jenseits identitätspolitischer Schablonen." Beate Tröger, Der Freitag, 08.09.22
"Kaum ein anderer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dürfte so eindrucksvoll von der Blindheit der Subjekte für ihr ganz spezifisches So-Sein erzählen wie Norbert Gstrein. ... Vier Tage, drei Nächte führt mit traumwandlerischer Sicherheit in Abgründe und Widersprüche. Die Erinnerung filtert und trügt; was bleibt, ist die Gewissheit, dass man in den letzten Dingen mit sich bleibt, unabänderlich fremd." Beate Tröger, Freitag, 09.09.22
"'Vier Tage, drei Nächte' feiert den Triumph des Uneindeutigen - und man mag darin, wenn man will, subkutan einen Gegenentwurf zu den verheerenden indentitätspolitischen Debatten unserer Tage erkennen ... Norbert Gstreins vielschichtiger Roman ertappt uns auf raffinierte Weise beim ganz alltäglichen Rassismus." Bettina Schulte, Badische Zeitung, 02.09.22
"Norbert Gstrein ist ein Meister des Perspektivenwechsels. Meisterhaft lädt er seine Leserinnen und Leser dazu ein, es ihm nachzutun und mit den Figuren aus der Geschichte den eigenen Blick auf die Welt zu schärfen." Sabine Zaplin, BR24 30.08.22
"Gstrein lockt den Leser quasi in die Falle seiner unbewussten Vorannahmen: Warum gehen wir selbstverständlich davon aus, dass eine Figur weiß sei, wenn das gar nicht gesagt wird. Blättert man noch einmal zurück, stellt man fest, wie subtil dieses Motiv gleichsam unter den Augen des farbenblinden Lesers vorbereitet worden ist." Richard Kämmerlings, Welt am Sonntag, 28.08.22
"Der Roman hallt als dichtes, ausgeklügeltes Spiel mit Identitäten und Motiven lange nach. Und hat obendrein noch einiges an bösem Humor auf Lager." Paula Pfoser, ORF.at, 27.08.22
"Es ist angerichtet! Diese drei Worte sollten auf allen Vorsatzblättern der Romane Norbert Gstreins stehen. Irgendwer hat etwas angerichtet, und der Österreicher hebt das Ergebnis menschlichen Makels auf die kulinarische Ebene seiner Romane. Und zwar mit ziemlichem Raffinement." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 25.08.22
"Was kann man vom Leben der anderen wissen, was weiß man überhaupt von sich selbst? In makellosen, gern auch etwas weiter ausholenden Sätzen arbeitet sich Norbert Gstrein in seinen Büchern, immer neu ansetzend, an ähnlichen Fragen ab. Dass sein Schreibprogramm nicht langweilig wird, spricht für ihn." Sebastian Fasthuber, Falter, 24.08.22
"Im letzten Abschnitt mit dem Titel 'Drei Arten, ein Rassist zu sein' tritt der Autor vollends zurück und überlässt seinen Figuren das Kommando ... Es ist eine Eskalation des Erzählens, die Gstrein hier, an einem möglichen Ende eines Liebesromans, glanzvoll in Szene setzt." Klaus Kastberger, Die Presse, 23.08.22
"Norbert Gstrein ist einMeister darin, all diese zurechtgelogenen Wahrheiten seiner Protagonisten wunderbar schillern zu lassen. Man muss die Figuren deshalb weder bedauern noch verurteilen. Man darf sie in all ihrer Schwäche lieben." Jörg Magenau, Deutschlandfunk Kultur Lesart, 22.08.22
"Ein kunstvoll gebauter, politisch hochbrisanter Text. ... Dieser Roman bietet eine intellektuelle Lektüre, ohne verkopft zu sein. Beeindruckend wie immer bei Gstrein sind die Satzschlangen, die sich um die bitteren Gedankengänge der Protagonisten winden. So entwickelt die Prosa gerade in heftigen Szenen eine seltsam schöne Sinnlichkeit." Carsten Otte, SWR2 lesenswert, 22.08.22
"Das Ende ist brillant und schafft das Kunststück, Rassismus, Flüchtlingskrise die Frage nach Dazugehörigkeit und das Vermögen der Literatur, in eine fremde Haut schlüpfen zu können (oder eben nicht), in Szenen zu fassen, die von großer Anschaulichkeit sind." Thomas Andre, Hamburger Abendblatt, 20.08.22