Produktdetails
- Verlag: Berliner Taschenbuchverlag
- ISBN-13: 9783442761135
- ISBN-10: 3442761131
- Artikelnr.: 21489626
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.1998Ein Mann der indirekten Sprache
Richard von Weizsäckers Erinnerungen
Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Erinnerungen. Siedler Verlag, Berlin 1997. 480 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 49,90 Mark.
Vier Zeiten hat der frühere Bundespräsident von Weizsäcker durchlebt; danach teilt er seine Erinnerungen ein. Solche vier Zeiten (oder bei Flüchtlingen aus der Sowjetzone/DDR deren fünf) sind das Los seines Jahrgangs - 1920: Weimarer Republik, NS-Staat und Krieg, dann die Bundesrepublik und schließlich das vereinte Deutschland. Für lebendige Erinnerungen an die Weimarer Republik mit ihrer überkommenen Sehnsucht nach Autorität und der damit im Streit liegenden, ungewohnten Parteienherrschaft war Weizsäcker durchaus alt genug, zumal er in einem der Politik und dem geistigen Leben nahen Hause aufwuchs. Es war der Hausstand eines höheren Beamten, also von bescheidenem, aber gesichertem Wohlstand. Der Freiherrntitel deutet nicht auf "Begüterung" - er zeigt Dienstadel an, dessen Prädikat der frühere Bundespräsident in der dritten Generation trägt.
Weizsäckers schon in jungen Jahren ausgeprägtes Selbstbewußtsein, auch der Stil einer hier gut ausgestatteten Familie haben zu frühen Begegnungen mit Personen aus der Welt des Geistes geführt. Weizsäcker hat solche bis in die Zeiten als Bundespräsident mit erkennbarem Behagen genossen. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft setzte für ihn eine Zeit der Bedrückung ein, nicht aber der äußeren Not, auch nicht der Gefährdung durch Widerstand. An den Schulen, die Weizsäcker besuchte, war der Lehrkörper zwar überwiegend national gesinnt, aber fern von nationalsozialistischer Indoktrination. Die Tätigkeit des Vaters im auswärtigen Dienst mag es ermöglicht haben, daß der junge Jurastudent Weizsäcker Lehrzeiten im Ausland absolvieren konnte. Er hatte seinen Wehr- und danach langen Kriegsdienst zu leisten: sieben Jahre mußte er im "feldgrauen Rock" verbringen. Jenseits des Raubes an Lebenszeit ist es Weizsäcker vergleichsweise gut ergangen. Er kehrte wohlbehalten aus dem Krieg zurück, mußte keine lange Gefangenschaft erdulden, wie sie die Sowjets, aber auch die Amerikaner vielen deutschen Soldaten völkerrechtswidrig zumuteten. Als Hauptmann (sein letzter Rang) mag er manche Leiden des Schützengrabens nicht haben erdulden müssen.
Über das Soldatsein im letzten Krieg äußert sich Weizsäcker gemessen, nicht unkritisch, aber nicht im Sinne der heute - Wehrmachtsausstellung - in späte Mode gekommenen moralischen Verurteilung. Er verpackt Äußerungen, die heikler Natur sein könnten, insgesamt gern in Zitate. So läßt er den französischen Staatspräsidenten Mitterrand - offenbar zustimmend - zu Wort kommen: Die deutschen Soldaten hätten tapfer und in aller Regel anständig gekämpft; daß sie es für eine schlechte Sache tun mußten, sei nicht ihre Schuld gewesen. Aber Weizsäcker sagt es auch direkt: "Wie die Soldaten in aller Welt waren wir unserer Heimat verbunden . . . Und so marschierten wir, ohne Enthusiasmus, aber im Bewußtsein, die Pflicht zu tun."
Zu den eindrucksvollsten Passagen des Buches gehören die über den Vater des Autors, der als Staatssekretär im Auswärtigen Amt 1938 bis 1942 unter Ribbentrop von Verstrickung nicht frei war. Weizsäcker, der Sohn, macht für den Vater geltend, was viele damals an ihrem Platz versucht haben: das Schlimmste zu verhüten, was den Preis des Mitmachens hatte, dazu Unkenntnis von dem, was geplant wurde und was später geschah. Der Autor zitiert Brecht mit dem Satz an die Nachgeborenen: "Gedenket unser mit Nachsicht", und dazu "gehört die Einsicht, daß die Kenntnis der Geschichte von uns verlangt, damaliges mit heutigem Bewußtsein nicht gleichzusetzen".
Ausführlich geht Weizsäcker auf den "Wilhelmstraßenprozeß" ein, in dem sein Vater verurteilt wurde und in dem der junge Jurastudent als Gehilfe der Verteidigung fungieren durfte. Weizsäcker läßt für sich selbst sprechen, daß der Vater als Zeuge herbeigeholt und alsbald eingesperrt und zum Angeklagten gemacht wurde. Den Hauptvorwurf, der Vater Weizsäcker habe Hitlers Kriegspolitik unterstützt, ja sie erst möglich gemacht, nennt der Sohn "vollkommen absurd", und er stellt dem heutigen Leser vor Augen, wie schwer es war für die amerikanischen Ankläger und Richter als Bürger einer freien Demokratie, sich in die "Lebensverhältnisse unter einer Bespitzelungsdiktatur" hineinzuversetzen.
Seine eigentlich politische Zeit begann für Weizsäcker erst 1969, mit seiner ersten Wahl in den Bundestag, angeregt und gefördert durch den damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kohl. Über die vorausgegangene Tätigkeit in der Wirtschaft erfährt man nicht viel. Für den spätberufenen Außenseiter, der den Charme mit sich trug, nicht vom Parteienbetrieb zurechtgeschliffen zu sein, kamen bald besondere Aufgaben. Bei der Debatte über die Ostpolitik der Regierung Brandt/Genscher spielte Weizsäcker eine Rolle unter denen bei der CDU, die dafür waren, hier mitzugehen. Dabei läßt Weizsäcker dem oft gescholtenen Barzel Gerechtigkeit widerfahren. Er habe als Vorsitzender der tief gespaltenen Unionsfraktion eine eminent schwierige Aufgabe gehabt und bestanden.
Die von ihm weiterhin gepflegte Abgehobenheit von dem alltäglichen Parteienbetrieb machte Weizsäcker geeignet für eine Außenseiter-Kandidatur für das Amt des Berliner Regierenden Bürgermeisters, zu einer Zeit, da die herkömmliche SPD-Regierung der Stadt in blasse Provinzialität abgesunken war. Bei den Berliner Wahlen 1981, nach einem vergeblichen Versuch 1979, hatte Weizsäcker Erfolg, freilich reichte es zunächst nur zu einer Minderheitsregierung. Wahrscheinlich war die Berliner Zeit die fruchtbarste und wirkungsvollste des Politikers Weizsäcker, und manche haben es nicht verstanden, daß er 1984 das Amt des Berliner Regierenden Bürgermeisters - er hatte es einmal als seine politische Erfüllung bezeichnet - zugunsten des an Gestaltungsmöglichkeiten, freilich nicht an äußerem Glanz weitaus ärmeren Amts des Bundespräsidenten aufgab, in dem Weizsäcker zu einem folgenlosen, rasch vergänglichen persönlichen Ansehen gelangte, wohl auch deshalb, weil er die Kunst des Vorführens von gefälliger Überparteilichkeit unübertrefflich beherrschte. Seine Kritik an den Parteien, die in den Erinnerungen wiederkehrt, ist ihm von manchen wackeren Marschierern verdacht worden; schließlich hat auch Weizsäcker seine politischen Ämter über und durch eine Partei gewonnen.
Neues über die Amtsführung eines Präsidenten bietet das Buch nicht. Ein wenig humorlos wirkt die schroffe Kritik an "einzelnen Staatsrechtlern am rechten Flügel", weil diese das Amt des Bundespräsidenten für überflüssig erklärt hatten: es war eine ironische Überinterpretation; auch der Grundgesetzgeber hatte sich einen Staat ohne Bundespräsidenten durchaus vorstellen können.
Etwaige Neugier auf die Darlegungen des Verhältnisses zu Bundeskanzler Kohl wird enttäuscht. Weizsäcker beschreibt ihn korrekt, wenn auch kühl. Er schildert die den jeweils rechten Augenblick abwartende Haltung Kohls in der Phase des Niederbrechens der DDR und der deutschen Vereinigung korrekt und mit Respekt. Er sagt Zutreffendes, aber schon oft Gesagtes über die Zumutungen an Veränderung, welche die Vereinigung den DDR-Bürgern gebracht hat. Was den zaghaften Ausgleich eines Teils des DDR-Unrechts angeht, etwa bei den willkürlichen Enteignungen, spricht sich Weizsäcker gegen den freilich bereits vielfach durchlöcherten Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" aus. Gegenüber der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht ist er skeptisch. Den in nachhaltigem Stasi-Verdacht stehenden brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe verteidigt Weizsäcker mit Vehemenz, desgleichen den Ost-Berliner Häftlingsfreikauf-Unterhändler Vogel. Weizsäcker wählt auch hier eine indirekte Methode: er greift den verfolgenden Staatsanwalt scharf an.
Recht hat Weizsäcker mit dem Befund, daß die ehemaligen DDR-Bürger bei der Besetzung politischer Ämter, in der Führung der Parteien, bei den Verbänden zuwenig berücksichtigt würden, daß dies von den Westdeutschen weithin unter sich ausgemacht werde; selbst die Wahlkämpfe würden "nach der Tonart des Westens" geführt. Freilich fehlte 1994 die Zustimmung Weizsäckers - der für seine Person nichts mehr zu verlieren hatte - zu der Wahl des Sachsen Heitmann zu seinem Nachfolger damals und auch heute. Wenn Weizsäcker - ihm werden entsprechende interne Äußerungen nachgesagt - Heitmann für nicht geeignet gehalten hätte, wäre es ihm unbenommen gewesen, doch die Wahl eines Ostdeutschen als richtig zu bezeichnen. Heitmann selbst hatte in seiner Verzichtserklärung den Theologieprofessor und Bürgerrechtler Richard Schröder empfohlen, der sich der SPD angeschlossen hatte. Die CDU hätte sich, nachdem sie einmal die Wahl eines Ostdeutschen zum Bundespräsidenten zu ihrer Sache gemacht hatte, schwerlich aus parteipolitischen Gründen gegen die Wahl eines (übrigens nicht sonderlich prononcierten) SPD-Mannes in ein überparteilich gedachtes Amt sperren können.
Weizsäckers Memoiren bringen kaum Neues über die Zeiten, welche die seinen waren. Sie sagen, manchmal auf verschlungene Art, manches über den Autor selbst - und so soll es bei Memoiren schließlich sein.
FRIEDRICH KARL FROMME
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Richard von Weizsäckers Erinnerungen
Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Erinnerungen. Siedler Verlag, Berlin 1997. 480 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 49,90 Mark.
Vier Zeiten hat der frühere Bundespräsident von Weizsäcker durchlebt; danach teilt er seine Erinnerungen ein. Solche vier Zeiten (oder bei Flüchtlingen aus der Sowjetzone/DDR deren fünf) sind das Los seines Jahrgangs - 1920: Weimarer Republik, NS-Staat und Krieg, dann die Bundesrepublik und schließlich das vereinte Deutschland. Für lebendige Erinnerungen an die Weimarer Republik mit ihrer überkommenen Sehnsucht nach Autorität und der damit im Streit liegenden, ungewohnten Parteienherrschaft war Weizsäcker durchaus alt genug, zumal er in einem der Politik und dem geistigen Leben nahen Hause aufwuchs. Es war der Hausstand eines höheren Beamten, also von bescheidenem, aber gesichertem Wohlstand. Der Freiherrntitel deutet nicht auf "Begüterung" - er zeigt Dienstadel an, dessen Prädikat der frühere Bundespräsident in der dritten Generation trägt.
Weizsäckers schon in jungen Jahren ausgeprägtes Selbstbewußtsein, auch der Stil einer hier gut ausgestatteten Familie haben zu frühen Begegnungen mit Personen aus der Welt des Geistes geführt. Weizsäcker hat solche bis in die Zeiten als Bundespräsident mit erkennbarem Behagen genossen. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft setzte für ihn eine Zeit der Bedrückung ein, nicht aber der äußeren Not, auch nicht der Gefährdung durch Widerstand. An den Schulen, die Weizsäcker besuchte, war der Lehrkörper zwar überwiegend national gesinnt, aber fern von nationalsozialistischer Indoktrination. Die Tätigkeit des Vaters im auswärtigen Dienst mag es ermöglicht haben, daß der junge Jurastudent Weizsäcker Lehrzeiten im Ausland absolvieren konnte. Er hatte seinen Wehr- und danach langen Kriegsdienst zu leisten: sieben Jahre mußte er im "feldgrauen Rock" verbringen. Jenseits des Raubes an Lebenszeit ist es Weizsäcker vergleichsweise gut ergangen. Er kehrte wohlbehalten aus dem Krieg zurück, mußte keine lange Gefangenschaft erdulden, wie sie die Sowjets, aber auch die Amerikaner vielen deutschen Soldaten völkerrechtswidrig zumuteten. Als Hauptmann (sein letzter Rang) mag er manche Leiden des Schützengrabens nicht haben erdulden müssen.
Über das Soldatsein im letzten Krieg äußert sich Weizsäcker gemessen, nicht unkritisch, aber nicht im Sinne der heute - Wehrmachtsausstellung - in späte Mode gekommenen moralischen Verurteilung. Er verpackt Äußerungen, die heikler Natur sein könnten, insgesamt gern in Zitate. So läßt er den französischen Staatspräsidenten Mitterrand - offenbar zustimmend - zu Wort kommen: Die deutschen Soldaten hätten tapfer und in aller Regel anständig gekämpft; daß sie es für eine schlechte Sache tun mußten, sei nicht ihre Schuld gewesen. Aber Weizsäcker sagt es auch direkt: "Wie die Soldaten in aller Welt waren wir unserer Heimat verbunden . . . Und so marschierten wir, ohne Enthusiasmus, aber im Bewußtsein, die Pflicht zu tun."
Zu den eindrucksvollsten Passagen des Buches gehören die über den Vater des Autors, der als Staatssekretär im Auswärtigen Amt 1938 bis 1942 unter Ribbentrop von Verstrickung nicht frei war. Weizsäcker, der Sohn, macht für den Vater geltend, was viele damals an ihrem Platz versucht haben: das Schlimmste zu verhüten, was den Preis des Mitmachens hatte, dazu Unkenntnis von dem, was geplant wurde und was später geschah. Der Autor zitiert Brecht mit dem Satz an die Nachgeborenen: "Gedenket unser mit Nachsicht", und dazu "gehört die Einsicht, daß die Kenntnis der Geschichte von uns verlangt, damaliges mit heutigem Bewußtsein nicht gleichzusetzen".
Ausführlich geht Weizsäcker auf den "Wilhelmstraßenprozeß" ein, in dem sein Vater verurteilt wurde und in dem der junge Jurastudent als Gehilfe der Verteidigung fungieren durfte. Weizsäcker läßt für sich selbst sprechen, daß der Vater als Zeuge herbeigeholt und alsbald eingesperrt und zum Angeklagten gemacht wurde. Den Hauptvorwurf, der Vater Weizsäcker habe Hitlers Kriegspolitik unterstützt, ja sie erst möglich gemacht, nennt der Sohn "vollkommen absurd", und er stellt dem heutigen Leser vor Augen, wie schwer es war für die amerikanischen Ankläger und Richter als Bürger einer freien Demokratie, sich in die "Lebensverhältnisse unter einer Bespitzelungsdiktatur" hineinzuversetzen.
Seine eigentlich politische Zeit begann für Weizsäcker erst 1969, mit seiner ersten Wahl in den Bundestag, angeregt und gefördert durch den damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kohl. Über die vorausgegangene Tätigkeit in der Wirtschaft erfährt man nicht viel. Für den spätberufenen Außenseiter, der den Charme mit sich trug, nicht vom Parteienbetrieb zurechtgeschliffen zu sein, kamen bald besondere Aufgaben. Bei der Debatte über die Ostpolitik der Regierung Brandt/Genscher spielte Weizsäcker eine Rolle unter denen bei der CDU, die dafür waren, hier mitzugehen. Dabei läßt Weizsäcker dem oft gescholtenen Barzel Gerechtigkeit widerfahren. Er habe als Vorsitzender der tief gespaltenen Unionsfraktion eine eminent schwierige Aufgabe gehabt und bestanden.
Die von ihm weiterhin gepflegte Abgehobenheit von dem alltäglichen Parteienbetrieb machte Weizsäcker geeignet für eine Außenseiter-Kandidatur für das Amt des Berliner Regierenden Bürgermeisters, zu einer Zeit, da die herkömmliche SPD-Regierung der Stadt in blasse Provinzialität abgesunken war. Bei den Berliner Wahlen 1981, nach einem vergeblichen Versuch 1979, hatte Weizsäcker Erfolg, freilich reichte es zunächst nur zu einer Minderheitsregierung. Wahrscheinlich war die Berliner Zeit die fruchtbarste und wirkungsvollste des Politikers Weizsäcker, und manche haben es nicht verstanden, daß er 1984 das Amt des Berliner Regierenden Bürgermeisters - er hatte es einmal als seine politische Erfüllung bezeichnet - zugunsten des an Gestaltungsmöglichkeiten, freilich nicht an äußerem Glanz weitaus ärmeren Amts des Bundespräsidenten aufgab, in dem Weizsäcker zu einem folgenlosen, rasch vergänglichen persönlichen Ansehen gelangte, wohl auch deshalb, weil er die Kunst des Vorführens von gefälliger Überparteilichkeit unübertrefflich beherrschte. Seine Kritik an den Parteien, die in den Erinnerungen wiederkehrt, ist ihm von manchen wackeren Marschierern verdacht worden; schließlich hat auch Weizsäcker seine politischen Ämter über und durch eine Partei gewonnen.
Neues über die Amtsführung eines Präsidenten bietet das Buch nicht. Ein wenig humorlos wirkt die schroffe Kritik an "einzelnen Staatsrechtlern am rechten Flügel", weil diese das Amt des Bundespräsidenten für überflüssig erklärt hatten: es war eine ironische Überinterpretation; auch der Grundgesetzgeber hatte sich einen Staat ohne Bundespräsidenten durchaus vorstellen können.
Etwaige Neugier auf die Darlegungen des Verhältnisses zu Bundeskanzler Kohl wird enttäuscht. Weizsäcker beschreibt ihn korrekt, wenn auch kühl. Er schildert die den jeweils rechten Augenblick abwartende Haltung Kohls in der Phase des Niederbrechens der DDR und der deutschen Vereinigung korrekt und mit Respekt. Er sagt Zutreffendes, aber schon oft Gesagtes über die Zumutungen an Veränderung, welche die Vereinigung den DDR-Bürgern gebracht hat. Was den zaghaften Ausgleich eines Teils des DDR-Unrechts angeht, etwa bei den willkürlichen Enteignungen, spricht sich Weizsäcker gegen den freilich bereits vielfach durchlöcherten Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" aus. Gegenüber der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht ist er skeptisch. Den in nachhaltigem Stasi-Verdacht stehenden brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe verteidigt Weizsäcker mit Vehemenz, desgleichen den Ost-Berliner Häftlingsfreikauf-Unterhändler Vogel. Weizsäcker wählt auch hier eine indirekte Methode: er greift den verfolgenden Staatsanwalt scharf an.
Recht hat Weizsäcker mit dem Befund, daß die ehemaligen DDR-Bürger bei der Besetzung politischer Ämter, in der Führung der Parteien, bei den Verbänden zuwenig berücksichtigt würden, daß dies von den Westdeutschen weithin unter sich ausgemacht werde; selbst die Wahlkämpfe würden "nach der Tonart des Westens" geführt. Freilich fehlte 1994 die Zustimmung Weizsäckers - der für seine Person nichts mehr zu verlieren hatte - zu der Wahl des Sachsen Heitmann zu seinem Nachfolger damals und auch heute. Wenn Weizsäcker - ihm werden entsprechende interne Äußerungen nachgesagt - Heitmann für nicht geeignet gehalten hätte, wäre es ihm unbenommen gewesen, doch die Wahl eines Ostdeutschen als richtig zu bezeichnen. Heitmann selbst hatte in seiner Verzichtserklärung den Theologieprofessor und Bürgerrechtler Richard Schröder empfohlen, der sich der SPD angeschlossen hatte. Die CDU hätte sich, nachdem sie einmal die Wahl eines Ostdeutschen zum Bundespräsidenten zu ihrer Sache gemacht hatte, schwerlich aus parteipolitischen Gründen gegen die Wahl eines (übrigens nicht sonderlich prononcierten) SPD-Mannes in ein überparteilich gedachtes Amt sperren können.
Weizsäckers Memoiren bringen kaum Neues über die Zeiten, welche die seinen waren. Sie sagen, manchmal auf verschlungene Art, manches über den Autor selbst - und so soll es bei Memoiren schließlich sein.
FRIEDRICH KARL FROMME
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2010Oberster Bürger im imaginären Ältestenrat
Richard von Weizsäcker wird neunzig Jahre alt: Vier neue Biographien sind über ihn erschienen
Helmut Schmidts politischer Wegweiser „Außer Dienst” zählt zu den zehn erfolgreichsten Bestsellern der vergangenen zehn Jahre. Das liegt nicht daran, dass Schmidt so unterhaltsam ist. Von ihm erwarten die Leute sich mehr: Orientierungshilfe in unsicheren Zeiten. Gesucht werden derzeit weise Männer und Frauen, die den Bürgern erklären, was die Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft zu tun hat und wie man aus historischen Einsichten womöglich sogar Hoffnung für die Zukunft schöpfen kann. Gefragt sind nicht Revolutionäre, nicht kompromisslose Visionäre, sondern wohlmeinende Autoritätspersonen, die den Zuhörern ermöglichen, ihre eigene Geschichte als Teil eines großen Ganzen zu begreifen, das nicht notwendigerweise auf die Klimakatastrophe und Umverteilungskriege zusteuert. Lange ist der Respekt vor der Altersweisheit nicht mehr so groß gewesen.
Ostdeutschland hat wenig Personal, das dies Bedürfnis nach politisch-moralischer Sinnstiftung bundesweit befriedigt. Einige Kirchenleute kommen in Frage. Die alte Bundesrepublik hat da schon mehr zu bieten: Etliche alte westdeutsche Politiker gibt es, die ihrem Publikum das Gefühl vermitteln, im Fluss der Zeitläufte nicht ganz verloren zu sein: Erhard Eppler, Hans-Jochen Vogel, Heiner Geißler und Hildegard Hamm-Brücher zum Beispiel. Eine Spitzenposition im imaginären Ältestenrat nimmt Altbundespräsident Richard von Weizsäcker ein. Was in anderen Gesellschaften der Schamane, das ist er für die Deutschen.
Krach mit Kohl
Was Richard von Weizsäcker sagt, hat Gewicht. Seinen Ruf hat er sich durch ein Talent erworben, das er früh entwickelte: Seit seinem Eintritt in die Parteipolitik in den sechziger Jahren hat er es verstanden, eine Aura der aufgeklärten Abgeklärtheit um sich herum zu erzeugen. Seine Arbeit als Präsident des Evangelischen Kirchentages war ihm eine gute Schule: Da lernte er „wir” zu sagen und Bekenntnisse so zu formulieren, dass niemand sich persönlich am Portepee gepackt fühlen muss, aber alle gemeinsam sich gern angesprochen fühlen. Auch als Parteipolitiker hat von Weizsäcker der goldenen Mitte zugeneigt. Nicht zufällig wurde er schon Ende der sechziger Jahre für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht.
Als er dies Amt dann innehatte, war er in seinem Element. Während er sich zuvor noch hatte nachsagen lassen müssen, nicht eben einer der Mutigsten zu sein, wurde er nun für seine ausgewogenen Reden bewundert. Der Höhepunkt seiner Amtszeit war 1985 die Ansprache zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes. Sie brachte die herrschende Stimmung in der Bundesrepublik auf den Punkt: Die Nachgeborenen mussten sich nicht schuldig fühlen für die NS-Verbrechen, aber ihnen war aufgetragen, im Geist der Erinnerung die Zukunft zu gestalten.
Richard von Weizsäcker personifiziert nicht bloß den alten Konsens der Bundesrepublik, er war 1989 auch in der DDR hochanerkannt. Er gilt bundesweit als Lichtgestalt. So erklärt es sich, dass anlässlich seines neunzigsten Geburtstags, den er im April begeht, gleich vier Biographien erscheinen. So erklärt es sich auch, dass deren keine ernstlich versucht, etwas Neues über von Weizsäcker ans Licht zu bringen. Der Altbundespräsident scheint über genauere Recherchen mittlerweile erhaben zu sein. Dass diese Herangehensweise für einen Autor nebenbei den Vorzug hat, ihm viel Arbeitszeit zu ersparen, versteht sich.
Alle vier Biographien sind im wesentlichen aus älteren Publikationen zusammengeschrieben: aus Büchern über Richard von Weizsäcker, aus Zeitungsartikeln und – vor allem – aus Weizsäckers Erinnerungen, die er unter dem Titel „Vier Zeiten” 1997 publizierte. Drei dieser Bücher enthalten nichts, was nicht schon anderswo zu lesen wäre. Einzig das Buch des Zeit-Journalisten Gunter Hofmann ist wirklich originell.
1983 saßen Richard von Weizsäcker, damals noch Regierender Bürgermeister von Berlin, und Kanzler Helmut Kohl zusammen auf der Ehrentribüne im Berliner Olympiastadion. Deutschland spielte gegen die Türkei. Die beiden Politiker gerieten in heftigen Streit. Der drehte sich allerdings nicht um das Fußballspiel. Von Weizsäcker beschuldigte Kohl des Wortbruchs. Kohl hatte ihm versprochen, dass er bei den nächsten Bundespräsidentschaftswahlen Kandidat der Union sein solle; dann hatte er sein Wort zurückgenommen. Weizsäcker echauffierte sich. Von der diskreten Eleganz, die er kultiviert, war ihm nichts anzumerken. Er war zornig, er benahm sich wie ein ganz normaler Mensch. Friedbert Pflüger schildert die Szene. Er ist der einzige der Biographen, der Weizsäcker nicht als Figur eines moralischen Wachsfigurenkabinetts darstellt. „Niemand täusche sich: Es ist nicht einfach, für Richard von Weizsäcker zu arbeiten”, schreibt Pflüger, „aber so gnadenlos er Leistung einfordern konnte, so gnädig war er zumeist, wenn er wenigstens ehrliches Bemühen spürte”.
Pflüger, der in den achtziger Jahren Pressereferent und Redenschreiber des Bundespräsidenten war, hat 1990 ein dickes Buch über seine Zeit unter von Weizsäcker publiziert. Sein neues Buch basiert auf dem alten. Zwar bezeichnet er Weizsäcker als einen „väterlichen Freund”, tatsächlich verfällt er aber oft in den Tonfall des Kammerdieners, der hinter vorgehaltener Hand harmlose Anekdoten über die Herrschaft zum Besten gibt. Wirklich witzig sind nur jene Anekdoten, in denen der Autor selbstironisch berichtet, wie Weizsäcker sich über ihn lustig machte. Weizsäckers politische Ansichten gibt er korrekt wieder. Korrekt wäre es im Übrigen gewesen, wenn er in seinem neuen Buch darauf hingewiesen hätte, dass es lediglich eine gekürzte, bearbeitete und passagenweise aktualisierte Version des alten ist.
Pflügers „Porträt aus der Nähe” von 1990 ist eines der ersten Bücher, die über Richard von Weizsäcker veröffentlicht wurden. Es gehört zu den Quellen, aus denen Hermann Rudolph, Herausgeber des Berliner Tagesspiegel, sich bedient. Während Pflüger jetzt vor allem bei sich selbst abgeschrieben hat, gibt Rudolph sich mit Publikationen von anderen zufrieden. Auf Fußnoten hat er verzichtet. Anderenfalls wäre vermutlich offenbar geworden, was seine Hauptquelle ist: Die Erinnerungen des Altbundespräsidenten von 1997. Zunehmend schreibt Rudolph an Weizsäckers Buch entlang, er zitiert dieselben Autoren wie dieser, er erzählt dieselben Episoden.
Am besten ist das Original
Sogar der Aufbau seines Buches folgt mitunter dem Vorbild: In „Vier Zeiten” hat Richard von Weizsäcker das Lob für das Engagement seiner Frau unmittelbar vor dem Kapitel „Vereinigung” platziert. Rudolph preist Marianne von Weizsäcker vor dem Kapitel, das er „Mauerfall und Vereinigung” nennt. An anderer Stelle schreibt er, sie habe „vermutlich” Medizin studieren wollen, die Idee dann aber aufgegeben. Wieso „vermutlich”? Frau von Weizsäcker lebt: Hätte Rudolph sie gefragt, sie hätte ihm bestimmt Antwort gegeben.
Den Bericht von seiner Amtszeit als Präsident beschließt von Weizsäcker so: „Am Schluss meiner Abschiedsrede dankte ich allen für die gemeinsame Zeit und sagte: ,Meine Damen und Herren, Frau Präsidentin, ich habe meine Amtszeit beendet. Die Stafette ist übergeben. Sie haben mich glücklich überstanden.‘ Hier vermerkt das Amtliche Protokoll ,Heiterkeit‘.” Bei Rudolph endet das Kapital über die Präsidentschaft so: „Die kleine ironische Schlussverbeugung: ,Meine Damen und Herren . . . Sie haben mich glücklich überstanden‘, wird – laut Protokoll – mit Heiterkeit bedacht.”
Wie in solchen Fällen üblich, ist das Original – Weizsäckers Erinnerungen – konkreter als die Nachschrift. So erzählt Weizsäcker, wie Pastor Friedrich Schorlemmer einigermaßen vergeblich versuchte, mit eigener Hand ein Schwert zu einer Pflugschar umzuschmieden. Rudolph hingegen schreibt nur, Schorlemmer habe die Umschmiedeaktion „inszeniert”. Abgesehen davon, dass er von Weizsäckers deutschlandpolitische Verdienste herausstreicht, hat Hermann Rudolph keine Botschaft. Ähnliches gilt für Andreas Schmid, dessen kleines Buch nichts anderes ist und sein will als eine Hagiographie, wobei der Journalist Schmid sich vor allem für Weizsäckers Arbeit in der Evangelischen Kirche interessiert. Allerdings hat auch er nichts Nennenswertes zu sagen, was man nicht schon in Weizsäckers Erinnerungen „Vier Zeiten” lesen könnte.
„Vier Zeiten” ist hochinteressant, gelegentlich amüsant und stilistisch ausgezeichnet. Das Buch wurde jetzt wieder aufgelegt. Die Lektüre lohnt sich. Manches gibt es freilich, worüber von Weizsäcker darin keine Auskunft gibt. Seine Zeit in der Wehrmacht handelt er ziemlich kurz ab. Bis heute wehrt er sich gegen die durch Dokumente belegte Erkenntnis, dass auch sein Regiment manchmal „keine Gefangenen” machte. Er war als Offizier bei der Belagerung von Leningrad dabei, mehr als sechshunderttausend Menschen sind damals in der Stadt ums Leben gekommen, die meisten verhungerten. Aber über die Belagerung schreibt von Weizsäcker nicht. Er gehörte dem Infanterieregiment 9 an, dort traf sich die preußische Aristokratie, aus seinen Reihen gingen die Attentäter des 20. Juli hervor. Was genau von Weizsäcker von den Plänen seiner Kameraden wusste oder eben nicht wusste, schreibt er auch nicht. Er beendet das Kapitel über den Krieg mit einem Satz, der von dem Personalpronomen angeführt wird, das er spätestens als Präsident des Kirchentages schätzen gelernt hat: „Wir haben es nicht geschafft.”
Gunter Hofmann beschäftigt sich nicht damit, was Weizsäcker nicht sagt. Über den Widerstand schreibt er lapidar: „Sicher gehörte Richard von Weizsäcker nicht zu dem aktiven Kreis, und so hat er es auch nicht dargestellt.” Viel mehr interessiert ihn dessen Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und mit der Schuld, die sein Vater auf sich lud, der als Staatssekretär im Außenministerium Dokumente abzeichnete, die Tausende Menschen der Vernichtung überantworteten. Das Regime beging Verbrechen, schrieb der Sohn, von denen der Vater „wusste oder eine Ahnung haben konnte”. Dass sein Vater von den Amerikanern angeklagt und verurteilt wurde, empfindet er trotzdem als Unrecht.
Ernst von Weizsäcker hielt Hitler für gefährlich. Er war gegen ihn – und arbeitete, um „Schlimmeres” zu verhindern, doch für ihn. Der Sohn erklärt es mit einem falsch verstandenen Patriotismus des damaligen Bürgertums: „Die tödliche Krankheit des Nazismus” habe sich „unter den Bedingungen eines schon von langer Hand her geschwächten Immunsystems deutschen Bürgertums entwickelt”. Gunter Hofmann erörtert das Verhältnis Richard von Weizsäckers zu seinem Vater zwar eingehend, will aber eigentlich auf etwas anderes hinaus: Weizsäcker steht in seinem Buch exemplarisch für den Umgang der Bundesrepublik mit ihrer Vergangenheit. Hofmann schildert den Altbundespräsidenten als einen Mann, der „emanzipierte Bürgerlichkeit” repräsentiert – ein Bürgertum, das sich von seinem antidemokratischen Habitus der Vorkriegszeit gelöst hat.
Weizsäcker raunt nicht
Es irrt, wer meint, damit sei nur Altbekanntes gesagt. Hofmann erwähnt Ulrich Raulffs Buch über „Stefan Georges Nachleben”, das jetzt auf der Leipziger Buchmesse mit einem Preis geadelt wurde. George, dessen Politikverständnis vor allem ästhetisch war, soll – so will es Raulff – auch in Richard von Weizsäcker irgendwie fortleben. Als Kind hat Weizsäcker einmal die Hand des „Meisters” in seinem Nacken gespürt. Er diente im selben Regiment wie der George-Bewunderer Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Davon ausgehend, schwärmt Raulff von einer „weitgehend unsichtbar verlaufenen, bis heute nicht vollständig aufgeklärten translatio imperii”, die das „Reich Georges über den Abgrund der Zeit” bis in die Bundesrepublik führe.
Carl Friedrich von Weizsäcker mochte Georges Dichtung sehr. Sein Bruder Richard hingegen hält es mehr mit politisch wachen Autoren wie Heinrich Heine, weshalb die seltsame „translatio imperii”, was Richard angeht, wohl auf ewig „unsichtbar” bleiben wird und sich auch nur mit dem rhetorischen Mittel des Raunens begründen lässt. Gunter Hofmann schätzt Weizsäcker nicht zuletzt so sehr, weil der nicht raunt. Zwei Akte nennt Hofmann, die er als „Schlüsselstationen auf dem Weg zur Selbstverständigung über unser Verhältnis zur Vergangenheit” bezeichnet: Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau und Richard von Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985. Brandts „Wir nehmen die Verantwortung an” und Weizsäckers „Appell, sich durch genaues Erinnern ehrlich zu machen”: Beides habe beigetragen zum nationalen Konsens. Hofmann stellt Weizsäcker als Vertreter dessen dar, was an der Bundesrepbulik lobenswert ist. Seine Argumentation ist plausibel. FRANZISKA AUGSTEIN
GUNTER HOFMANN: Richard von Weizsäcker. Ein deutsches Leben. C. H. Beck, München 2010. 295 S., 19,95 Euro.
FRIEDBERT PFLÜGER: Richard von Weizsäcker. Mit der Macht der Moral. DVA, München 2010. 223 S., 19,95 Euro.
HERMANN RUDOLPH: Richard von Weizsäcker. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2010. 286 S., 19,95 Euro.
ANDREAS SCHMID: Maßstäbe setzen. Auf den Spuren Richard von Weizsäckers. Wichern-Verlag, Berlin 2010. 152 S., 14,90 Euro.
RICHARD VON WEIZSÄCKER: Vier Zeiten. Erinnerungen. Pantheon Verlag, München 2010. 480 S., 14.95 Euro.
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Richard von Weizsäcker wird neunzig Jahre alt: Vier neue Biographien sind über ihn erschienen
Helmut Schmidts politischer Wegweiser „Außer Dienst” zählt zu den zehn erfolgreichsten Bestsellern der vergangenen zehn Jahre. Das liegt nicht daran, dass Schmidt so unterhaltsam ist. Von ihm erwarten die Leute sich mehr: Orientierungshilfe in unsicheren Zeiten. Gesucht werden derzeit weise Männer und Frauen, die den Bürgern erklären, was die Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft zu tun hat und wie man aus historischen Einsichten womöglich sogar Hoffnung für die Zukunft schöpfen kann. Gefragt sind nicht Revolutionäre, nicht kompromisslose Visionäre, sondern wohlmeinende Autoritätspersonen, die den Zuhörern ermöglichen, ihre eigene Geschichte als Teil eines großen Ganzen zu begreifen, das nicht notwendigerweise auf die Klimakatastrophe und Umverteilungskriege zusteuert. Lange ist der Respekt vor der Altersweisheit nicht mehr so groß gewesen.
Ostdeutschland hat wenig Personal, das dies Bedürfnis nach politisch-moralischer Sinnstiftung bundesweit befriedigt. Einige Kirchenleute kommen in Frage. Die alte Bundesrepublik hat da schon mehr zu bieten: Etliche alte westdeutsche Politiker gibt es, die ihrem Publikum das Gefühl vermitteln, im Fluss der Zeitläufte nicht ganz verloren zu sein: Erhard Eppler, Hans-Jochen Vogel, Heiner Geißler und Hildegard Hamm-Brücher zum Beispiel. Eine Spitzenposition im imaginären Ältestenrat nimmt Altbundespräsident Richard von Weizsäcker ein. Was in anderen Gesellschaften der Schamane, das ist er für die Deutschen.
Krach mit Kohl
Was Richard von Weizsäcker sagt, hat Gewicht. Seinen Ruf hat er sich durch ein Talent erworben, das er früh entwickelte: Seit seinem Eintritt in die Parteipolitik in den sechziger Jahren hat er es verstanden, eine Aura der aufgeklärten Abgeklärtheit um sich herum zu erzeugen. Seine Arbeit als Präsident des Evangelischen Kirchentages war ihm eine gute Schule: Da lernte er „wir” zu sagen und Bekenntnisse so zu formulieren, dass niemand sich persönlich am Portepee gepackt fühlen muss, aber alle gemeinsam sich gern angesprochen fühlen. Auch als Parteipolitiker hat von Weizsäcker der goldenen Mitte zugeneigt. Nicht zufällig wurde er schon Ende der sechziger Jahre für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht.
Als er dies Amt dann innehatte, war er in seinem Element. Während er sich zuvor noch hatte nachsagen lassen müssen, nicht eben einer der Mutigsten zu sein, wurde er nun für seine ausgewogenen Reden bewundert. Der Höhepunkt seiner Amtszeit war 1985 die Ansprache zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes. Sie brachte die herrschende Stimmung in der Bundesrepublik auf den Punkt: Die Nachgeborenen mussten sich nicht schuldig fühlen für die NS-Verbrechen, aber ihnen war aufgetragen, im Geist der Erinnerung die Zukunft zu gestalten.
Richard von Weizsäcker personifiziert nicht bloß den alten Konsens der Bundesrepublik, er war 1989 auch in der DDR hochanerkannt. Er gilt bundesweit als Lichtgestalt. So erklärt es sich, dass anlässlich seines neunzigsten Geburtstags, den er im April begeht, gleich vier Biographien erscheinen. So erklärt es sich auch, dass deren keine ernstlich versucht, etwas Neues über von Weizsäcker ans Licht zu bringen. Der Altbundespräsident scheint über genauere Recherchen mittlerweile erhaben zu sein. Dass diese Herangehensweise für einen Autor nebenbei den Vorzug hat, ihm viel Arbeitszeit zu ersparen, versteht sich.
Alle vier Biographien sind im wesentlichen aus älteren Publikationen zusammengeschrieben: aus Büchern über Richard von Weizsäcker, aus Zeitungsartikeln und – vor allem – aus Weizsäckers Erinnerungen, die er unter dem Titel „Vier Zeiten” 1997 publizierte. Drei dieser Bücher enthalten nichts, was nicht schon anderswo zu lesen wäre. Einzig das Buch des Zeit-Journalisten Gunter Hofmann ist wirklich originell.
1983 saßen Richard von Weizsäcker, damals noch Regierender Bürgermeister von Berlin, und Kanzler Helmut Kohl zusammen auf der Ehrentribüne im Berliner Olympiastadion. Deutschland spielte gegen die Türkei. Die beiden Politiker gerieten in heftigen Streit. Der drehte sich allerdings nicht um das Fußballspiel. Von Weizsäcker beschuldigte Kohl des Wortbruchs. Kohl hatte ihm versprochen, dass er bei den nächsten Bundespräsidentschaftswahlen Kandidat der Union sein solle; dann hatte er sein Wort zurückgenommen. Weizsäcker echauffierte sich. Von der diskreten Eleganz, die er kultiviert, war ihm nichts anzumerken. Er war zornig, er benahm sich wie ein ganz normaler Mensch. Friedbert Pflüger schildert die Szene. Er ist der einzige der Biographen, der Weizsäcker nicht als Figur eines moralischen Wachsfigurenkabinetts darstellt. „Niemand täusche sich: Es ist nicht einfach, für Richard von Weizsäcker zu arbeiten”, schreibt Pflüger, „aber so gnadenlos er Leistung einfordern konnte, so gnädig war er zumeist, wenn er wenigstens ehrliches Bemühen spürte”.
Pflüger, der in den achtziger Jahren Pressereferent und Redenschreiber des Bundespräsidenten war, hat 1990 ein dickes Buch über seine Zeit unter von Weizsäcker publiziert. Sein neues Buch basiert auf dem alten. Zwar bezeichnet er Weizsäcker als einen „väterlichen Freund”, tatsächlich verfällt er aber oft in den Tonfall des Kammerdieners, der hinter vorgehaltener Hand harmlose Anekdoten über die Herrschaft zum Besten gibt. Wirklich witzig sind nur jene Anekdoten, in denen der Autor selbstironisch berichtet, wie Weizsäcker sich über ihn lustig machte. Weizsäckers politische Ansichten gibt er korrekt wieder. Korrekt wäre es im Übrigen gewesen, wenn er in seinem neuen Buch darauf hingewiesen hätte, dass es lediglich eine gekürzte, bearbeitete und passagenweise aktualisierte Version des alten ist.
Pflügers „Porträt aus der Nähe” von 1990 ist eines der ersten Bücher, die über Richard von Weizsäcker veröffentlicht wurden. Es gehört zu den Quellen, aus denen Hermann Rudolph, Herausgeber des Berliner Tagesspiegel, sich bedient. Während Pflüger jetzt vor allem bei sich selbst abgeschrieben hat, gibt Rudolph sich mit Publikationen von anderen zufrieden. Auf Fußnoten hat er verzichtet. Anderenfalls wäre vermutlich offenbar geworden, was seine Hauptquelle ist: Die Erinnerungen des Altbundespräsidenten von 1997. Zunehmend schreibt Rudolph an Weizsäckers Buch entlang, er zitiert dieselben Autoren wie dieser, er erzählt dieselben Episoden.
Am besten ist das Original
Sogar der Aufbau seines Buches folgt mitunter dem Vorbild: In „Vier Zeiten” hat Richard von Weizsäcker das Lob für das Engagement seiner Frau unmittelbar vor dem Kapitel „Vereinigung” platziert. Rudolph preist Marianne von Weizsäcker vor dem Kapitel, das er „Mauerfall und Vereinigung” nennt. An anderer Stelle schreibt er, sie habe „vermutlich” Medizin studieren wollen, die Idee dann aber aufgegeben. Wieso „vermutlich”? Frau von Weizsäcker lebt: Hätte Rudolph sie gefragt, sie hätte ihm bestimmt Antwort gegeben.
Den Bericht von seiner Amtszeit als Präsident beschließt von Weizsäcker so: „Am Schluss meiner Abschiedsrede dankte ich allen für die gemeinsame Zeit und sagte: ,Meine Damen und Herren, Frau Präsidentin, ich habe meine Amtszeit beendet. Die Stafette ist übergeben. Sie haben mich glücklich überstanden.‘ Hier vermerkt das Amtliche Protokoll ,Heiterkeit‘.” Bei Rudolph endet das Kapital über die Präsidentschaft so: „Die kleine ironische Schlussverbeugung: ,Meine Damen und Herren . . . Sie haben mich glücklich überstanden‘, wird – laut Protokoll – mit Heiterkeit bedacht.”
Wie in solchen Fällen üblich, ist das Original – Weizsäckers Erinnerungen – konkreter als die Nachschrift. So erzählt Weizsäcker, wie Pastor Friedrich Schorlemmer einigermaßen vergeblich versuchte, mit eigener Hand ein Schwert zu einer Pflugschar umzuschmieden. Rudolph hingegen schreibt nur, Schorlemmer habe die Umschmiedeaktion „inszeniert”. Abgesehen davon, dass er von Weizsäckers deutschlandpolitische Verdienste herausstreicht, hat Hermann Rudolph keine Botschaft. Ähnliches gilt für Andreas Schmid, dessen kleines Buch nichts anderes ist und sein will als eine Hagiographie, wobei der Journalist Schmid sich vor allem für Weizsäckers Arbeit in der Evangelischen Kirche interessiert. Allerdings hat auch er nichts Nennenswertes zu sagen, was man nicht schon in Weizsäckers Erinnerungen „Vier Zeiten” lesen könnte.
„Vier Zeiten” ist hochinteressant, gelegentlich amüsant und stilistisch ausgezeichnet. Das Buch wurde jetzt wieder aufgelegt. Die Lektüre lohnt sich. Manches gibt es freilich, worüber von Weizsäcker darin keine Auskunft gibt. Seine Zeit in der Wehrmacht handelt er ziemlich kurz ab. Bis heute wehrt er sich gegen die durch Dokumente belegte Erkenntnis, dass auch sein Regiment manchmal „keine Gefangenen” machte. Er war als Offizier bei der Belagerung von Leningrad dabei, mehr als sechshunderttausend Menschen sind damals in der Stadt ums Leben gekommen, die meisten verhungerten. Aber über die Belagerung schreibt von Weizsäcker nicht. Er gehörte dem Infanterieregiment 9 an, dort traf sich die preußische Aristokratie, aus seinen Reihen gingen die Attentäter des 20. Juli hervor. Was genau von Weizsäcker von den Plänen seiner Kameraden wusste oder eben nicht wusste, schreibt er auch nicht. Er beendet das Kapitel über den Krieg mit einem Satz, der von dem Personalpronomen angeführt wird, das er spätestens als Präsident des Kirchentages schätzen gelernt hat: „Wir haben es nicht geschafft.”
Gunter Hofmann beschäftigt sich nicht damit, was Weizsäcker nicht sagt. Über den Widerstand schreibt er lapidar: „Sicher gehörte Richard von Weizsäcker nicht zu dem aktiven Kreis, und so hat er es auch nicht dargestellt.” Viel mehr interessiert ihn dessen Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und mit der Schuld, die sein Vater auf sich lud, der als Staatssekretär im Außenministerium Dokumente abzeichnete, die Tausende Menschen der Vernichtung überantworteten. Das Regime beging Verbrechen, schrieb der Sohn, von denen der Vater „wusste oder eine Ahnung haben konnte”. Dass sein Vater von den Amerikanern angeklagt und verurteilt wurde, empfindet er trotzdem als Unrecht.
Ernst von Weizsäcker hielt Hitler für gefährlich. Er war gegen ihn – und arbeitete, um „Schlimmeres” zu verhindern, doch für ihn. Der Sohn erklärt es mit einem falsch verstandenen Patriotismus des damaligen Bürgertums: „Die tödliche Krankheit des Nazismus” habe sich „unter den Bedingungen eines schon von langer Hand her geschwächten Immunsystems deutschen Bürgertums entwickelt”. Gunter Hofmann erörtert das Verhältnis Richard von Weizsäckers zu seinem Vater zwar eingehend, will aber eigentlich auf etwas anderes hinaus: Weizsäcker steht in seinem Buch exemplarisch für den Umgang der Bundesrepublik mit ihrer Vergangenheit. Hofmann schildert den Altbundespräsidenten als einen Mann, der „emanzipierte Bürgerlichkeit” repräsentiert – ein Bürgertum, das sich von seinem antidemokratischen Habitus der Vorkriegszeit gelöst hat.
Weizsäcker raunt nicht
Es irrt, wer meint, damit sei nur Altbekanntes gesagt. Hofmann erwähnt Ulrich Raulffs Buch über „Stefan Georges Nachleben”, das jetzt auf der Leipziger Buchmesse mit einem Preis geadelt wurde. George, dessen Politikverständnis vor allem ästhetisch war, soll – so will es Raulff – auch in Richard von Weizsäcker irgendwie fortleben. Als Kind hat Weizsäcker einmal die Hand des „Meisters” in seinem Nacken gespürt. Er diente im selben Regiment wie der George-Bewunderer Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Davon ausgehend, schwärmt Raulff von einer „weitgehend unsichtbar verlaufenen, bis heute nicht vollständig aufgeklärten translatio imperii”, die das „Reich Georges über den Abgrund der Zeit” bis in die Bundesrepublik führe.
Carl Friedrich von Weizsäcker mochte Georges Dichtung sehr. Sein Bruder Richard hingegen hält es mehr mit politisch wachen Autoren wie Heinrich Heine, weshalb die seltsame „translatio imperii”, was Richard angeht, wohl auf ewig „unsichtbar” bleiben wird und sich auch nur mit dem rhetorischen Mittel des Raunens begründen lässt. Gunter Hofmann schätzt Weizsäcker nicht zuletzt so sehr, weil der nicht raunt. Zwei Akte nennt Hofmann, die er als „Schlüsselstationen auf dem Weg zur Selbstverständigung über unser Verhältnis zur Vergangenheit” bezeichnet: Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau und Richard von Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985. Brandts „Wir nehmen die Verantwortung an” und Weizsäckers „Appell, sich durch genaues Erinnern ehrlich zu machen”: Beides habe beigetragen zum nationalen Konsens. Hofmann stellt Weizsäcker als Vertreter dessen dar, was an der Bundesrepbulik lobenswert ist. Seine Argumentation ist plausibel. FRANZISKA AUGSTEIN
GUNTER HOFMANN: Richard von Weizsäcker. Ein deutsches Leben. C. H. Beck, München 2010. 295 S., 19,95 Euro.
FRIEDBERT PFLÜGER: Richard von Weizsäcker. Mit der Macht der Moral. DVA, München 2010. 223 S., 19,95 Euro.
HERMANN RUDOLPH: Richard von Weizsäcker. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, Berlin 2010. 286 S., 19,95 Euro.
ANDREAS SCHMID: Maßstäbe setzen. Auf den Spuren Richard von Weizsäckers. Wichern-Verlag, Berlin 2010. 152 S., 14,90 Euro.
RICHARD VON WEIZSÄCKER: Vier Zeiten. Erinnerungen. Pantheon Verlag, München 2010. 480 S., 14.95 Euro.
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