Richard von Weizsäcker ist wohl jener deutsche Bundespräsident gewesen, der das höchste Maß an Popularität genoß. Sein Weg führte ihn schon früh in die Politik, wo er bald zu den führenden intellektuellen Köpfen der CDU gehörte, aber meist eine unabhängige Position einnahm. In seinen Memoiren schildert er neben seiner eigenen Geschichte zugleich die seiner Familie. Ein Stück Geschichte vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und das Dritte Reich bis zum Neuanfang nach dem Krieg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.1998Ein Mann der indirekten Sprache
Richard von Weizsäckers Erinnerungen
Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Erinnerungen. Siedler Verlag, Berlin 1997. 480 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 49,90 Mark.
Vier Zeiten hat der frühere Bundespräsident von Weizsäcker durchlebt; danach teilt er seine Erinnerungen ein. Solche vier Zeiten (oder bei Flüchtlingen aus der Sowjetzone/DDR deren fünf) sind das Los seines Jahrgangs - 1920: Weimarer Republik, NS-Staat und Krieg, dann die Bundesrepublik und schließlich das vereinte Deutschland. Für lebendige Erinnerungen an die Weimarer Republik mit ihrer überkommenen Sehnsucht nach Autorität und der damit im Streit liegenden, ungewohnten Parteienherrschaft war Weizsäcker durchaus alt genug, zumal er in einem der Politik und dem geistigen Leben nahen Hause aufwuchs. Es war der Hausstand eines höheren Beamten, also von bescheidenem, aber gesichertem Wohlstand. Der Freiherrntitel deutet nicht auf "Begüterung" - er zeigt Dienstadel an, dessen Prädikat der frühere Bundespräsident in der dritten Generation trägt.
Weizsäckers schon in jungen Jahren ausgeprägtes Selbstbewußtsein, auch der Stil einer hier gut ausgestatteten Familie haben zu frühen Begegnungen mit Personen aus der Welt des Geistes geführt. Weizsäcker hat solche bis in die Zeiten als Bundespräsident mit erkennbarem Behagen genossen. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft setzte für ihn eine Zeit der Bedrückung ein, nicht aber der äußeren Not, auch nicht der Gefährdung durch Widerstand. An den Schulen, die Weizsäcker besuchte, war der Lehrkörper zwar überwiegend national gesinnt, aber fern von nationalsozialistischer Indoktrination. Die Tätigkeit des Vaters im auswärtigen Dienst mag es ermöglicht haben, daß der junge Jurastudent Weizsäcker Lehrzeiten im Ausland absolvieren konnte. Er hatte seinen Wehr- und danach langen Kriegsdienst zu leisten: sieben Jahre mußte er im "feldgrauen Rock" verbringen. Jenseits des Raubes an Lebenszeit ist es Weizsäcker vergleichsweise gut ergangen. Er kehrte wohlbehalten aus dem Krieg zurück, mußte keine lange Gefangenschaft erdulden, wie sie die Sowjets, aber auch die Amerikaner vielen deutschen Soldaten völkerrechtswidrig zumuteten. Als Hauptmann (sein letzter Rang) mag er manche Leiden des Schützengrabens nicht haben erdulden müssen.
Über das Soldatsein im letzten Krieg äußert sich Weizsäcker gemessen, nicht unkritisch, aber nicht im Sinne der heute - Wehrmachtsausstellung - in späte Mode gekommenen moralischen Verurteilung. Er verpackt Äußerungen, die heikler Natur sein könnten, insgesamt gern in Zitate. So läßt er den französischen Staatspräsidenten Mitterrand - offenbar zustimmend - zu Wort kommen: Die deutschen Soldaten hätten tapfer und in aller Regel anständig gekämpft; daß sie es für eine schlechte Sache tun mußten, sei nicht ihre Schuld gewesen. Aber Weizsäcker sagt es auch direkt: "Wie die Soldaten in aller Welt waren wir unserer Heimat verbunden . . . Und so marschierten wir, ohne Enthusiasmus, aber im Bewußtsein, die Pflicht zu tun."
Zu den eindrucksvollsten Passagen des Buches gehören die über den Vater des Autors, der als Staatssekretär im Auswärtigen Amt 1938 bis 1942 unter Ribbentrop von Verstrickung nicht frei war. Weizsäcker, der Sohn, macht für den Vater geltend, was viele damals an ihrem Platz versucht haben: das Schlimmste zu verhüten, was den Preis des Mitmachens hatte, dazu Unkenntnis von dem, was geplant wurde und was später geschah. Der Autor zitiert Brecht mit dem Satz an die Nachgeborenen: "Gedenket unser mit Nachsicht", und dazu "gehört die Einsicht, daß die Kenntnis der Geschichte von uns verlangt, damaliges mit heutigem Bewußtsein nicht gleichzusetzen".
Ausführlich geht Weizsäcker auf den "Wilhelmstraßenprozeß" ein, in dem sein Vater verurteilt wurde und in dem der junge Jurastudent als Gehilfe der Verteidigung fungieren durfte. Weizsäcker läßt für sich selbst sprechen, daß der Vater als Zeuge herbeigeholt und alsbald eingesperrt und zum Angeklagten gemacht wurde. Den Hauptvorwurf, der Vater Weizsäcker habe Hitlers Kriegspolitik unterstützt, ja sie erst möglich gemacht, nennt der Sohn "vollkommen absurd", und er stellt dem heutigen Leser vor Augen, wie schwer es war für die amerikanischen Ankläger und Richter als Bürger einer freien Demokratie, sich in die "Lebensverhältnisse unter einer Bespitzelungsdiktatur" hineinzuversetzen.
Seine eigentlich politische Zeit begann für Weizsäcker erst 1969, mit seiner ersten Wahl in den Bundestag, angeregt und gefördert durch den damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kohl. Über die vorausgegangene Tätigkeit in der Wirtschaft erfährt man nicht viel. Für den spätberufenen Außenseiter, der den Charme mit sich trug, nicht vom Parteienbetrieb zurechtgeschliffen zu sein, kamen bald besondere Aufgaben. Bei der Debatte über die Ostpolitik der Regierung Brandt/Genscher spielte Weizsäcker eine Rolle unter denen bei der CDU, die dafür waren, hier mitzugehen. Dabei läßt Weizsäcker dem oft gescholtenen Barzel Gerechtigkeit widerfahren. Er habe als Vorsitzender der tief gespaltenen Unionsfraktion eine eminent schwierige Aufgabe gehabt und bestanden.
Die von ihm weiterhin gepflegte Abgehobenheit von dem alltäglichen Parteienbetrieb machte Weizsäcker geeignet für eine Außenseiter-Kandidatur für das Amt des Berliner Regierenden Bürgermeisters, zu einer Zeit, da die herkömmliche SPD-Regierung der Stadt in blasse Provinzialität abgesunken war. Bei den Berliner Wahlen 1981, nach einem vergeblichen Versuch 1979, hatte Weizsäcker Erfolg, freilich reichte es zunächst nur zu einer Minderheitsregierung. Wahrscheinlich war die Berliner Zeit die fruchtbarste und wirkungsvollste des Politikers Weizsäcker, und manche haben es nicht verstanden, daß er 1984 das Amt des Berliner Regierenden Bürgermeisters - er hatte es einmal als seine politische Erfüllung bezeichnet - zugunsten des an Gestaltungsmöglichkeiten, freilich nicht an äußerem Glanz weitaus ärmeren Amts des Bundespräsidenten aufgab, in dem Weizsäcker zu einem folgenlosen, rasch vergänglichen persönlichen Ansehen gelangte, wohl auch deshalb, weil er die Kunst des Vorführens von gefälliger Überparteilichkeit unübertrefflich beherrschte. Seine Kritik an den Parteien, die in den Erinnerungen wiederkehrt, ist ihm von manchen wackeren Marschierern verdacht worden; schließlich hat auch Weizsäcker seine politischen Ämter über und durch eine Partei gewonnen.
Neues über die Amtsführung eines Präsidenten bietet das Buch nicht. Ein wenig humorlos wirkt die schroffe Kritik an "einzelnen Staatsrechtlern am rechten Flügel", weil diese das Amt des Bundespräsidenten für überflüssig erklärt hatten: es war eine ironische Überinterpretation; auch der Grundgesetzgeber hatte sich einen Staat ohne Bundespräsidenten durchaus vorstellen können.
Etwaige Neugier auf die Darlegungen des Verhältnisses zu Bundeskanzler Kohl wird enttäuscht. Weizsäcker beschreibt ihn korrekt, wenn auch kühl. Er schildert die den jeweils rechten Augenblick abwartende Haltung Kohls in der Phase des Niederbrechens der DDR und der deutschen Vereinigung korrekt und mit Respekt. Er sagt Zutreffendes, aber schon oft Gesagtes über die Zumutungen an Veränderung, welche die Vereinigung den DDR-Bürgern gebracht hat. Was den zaghaften Ausgleich eines Teils des DDR-Unrechts angeht, etwa bei den willkürlichen Enteignungen, spricht sich Weizsäcker gegen den freilich bereits vielfach durchlöcherten Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" aus. Gegenüber der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht ist er skeptisch. Den in nachhaltigem Stasi-Verdacht stehenden brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe verteidigt Weizsäcker mit Vehemenz, desgleichen den Ost-Berliner Häftlingsfreikauf-Unterhändler Vogel. Weizsäcker wählt auch hier eine indirekte Methode: er greift den verfolgenden Staatsanwalt scharf an.
Recht hat Weizsäcker mit dem Befund, daß die ehemaligen DDR-Bürger bei der Besetzung politischer Ämter, in der Führung der Parteien, bei den Verbänden zuwenig berücksichtigt würden, daß dies von den Westdeutschen weithin unter sich ausgemacht werde; selbst die Wahlkämpfe würden "nach der Tonart des Westens" geführt. Freilich fehlte 1994 die Zustimmung Weizsäckers - der für seine Person nichts mehr zu verlieren hatte - zu der Wahl des Sachsen Heitmann zu seinem Nachfolger damals und auch heute. Wenn Weizsäcker - ihm werden entsprechende interne Äußerungen nachgesagt - Heitmann für nicht geeignet gehalten hätte, wäre es ihm unbenommen gewesen, doch die Wahl eines Ostdeutschen als richtig zu bezeichnen. Heitmann selbst hatte in seiner Verzichtserklärung den Theologieprofessor und Bürgerrechtler Richard Schröder empfohlen, der sich der SPD angeschlossen hatte. Die CDU hätte sich, nachdem sie einmal die Wahl eines Ostdeutschen zum Bundespräsidenten zu ihrer Sache gemacht hatte, schwerlich aus parteipolitischen Gründen gegen die Wahl eines (übrigens nicht sonderlich prononcierten) SPD-Mannes in ein überparteilich gedachtes Amt sperren können.
Weizsäckers Memoiren bringen kaum Neues über die Zeiten, welche die seinen waren. Sie sagen, manchmal auf verschlungene Art, manches über den Autor selbst - und so soll es bei Memoiren schließlich sein.
FRIEDRICH KARL FROMME
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Richard von Weizsäckers Erinnerungen
Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Erinnerungen. Siedler Verlag, Berlin 1997. 480 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 49,90 Mark.
Vier Zeiten hat der frühere Bundespräsident von Weizsäcker durchlebt; danach teilt er seine Erinnerungen ein. Solche vier Zeiten (oder bei Flüchtlingen aus der Sowjetzone/DDR deren fünf) sind das Los seines Jahrgangs - 1920: Weimarer Republik, NS-Staat und Krieg, dann die Bundesrepublik und schließlich das vereinte Deutschland. Für lebendige Erinnerungen an die Weimarer Republik mit ihrer überkommenen Sehnsucht nach Autorität und der damit im Streit liegenden, ungewohnten Parteienherrschaft war Weizsäcker durchaus alt genug, zumal er in einem der Politik und dem geistigen Leben nahen Hause aufwuchs. Es war der Hausstand eines höheren Beamten, also von bescheidenem, aber gesichertem Wohlstand. Der Freiherrntitel deutet nicht auf "Begüterung" - er zeigt Dienstadel an, dessen Prädikat der frühere Bundespräsident in der dritten Generation trägt.
Weizsäckers schon in jungen Jahren ausgeprägtes Selbstbewußtsein, auch der Stil einer hier gut ausgestatteten Familie haben zu frühen Begegnungen mit Personen aus der Welt des Geistes geführt. Weizsäcker hat solche bis in die Zeiten als Bundespräsident mit erkennbarem Behagen genossen. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft setzte für ihn eine Zeit der Bedrückung ein, nicht aber der äußeren Not, auch nicht der Gefährdung durch Widerstand. An den Schulen, die Weizsäcker besuchte, war der Lehrkörper zwar überwiegend national gesinnt, aber fern von nationalsozialistischer Indoktrination. Die Tätigkeit des Vaters im auswärtigen Dienst mag es ermöglicht haben, daß der junge Jurastudent Weizsäcker Lehrzeiten im Ausland absolvieren konnte. Er hatte seinen Wehr- und danach langen Kriegsdienst zu leisten: sieben Jahre mußte er im "feldgrauen Rock" verbringen. Jenseits des Raubes an Lebenszeit ist es Weizsäcker vergleichsweise gut ergangen. Er kehrte wohlbehalten aus dem Krieg zurück, mußte keine lange Gefangenschaft erdulden, wie sie die Sowjets, aber auch die Amerikaner vielen deutschen Soldaten völkerrechtswidrig zumuteten. Als Hauptmann (sein letzter Rang) mag er manche Leiden des Schützengrabens nicht haben erdulden müssen.
Über das Soldatsein im letzten Krieg äußert sich Weizsäcker gemessen, nicht unkritisch, aber nicht im Sinne der heute - Wehrmachtsausstellung - in späte Mode gekommenen moralischen Verurteilung. Er verpackt Äußerungen, die heikler Natur sein könnten, insgesamt gern in Zitate. So läßt er den französischen Staatspräsidenten Mitterrand - offenbar zustimmend - zu Wort kommen: Die deutschen Soldaten hätten tapfer und in aller Regel anständig gekämpft; daß sie es für eine schlechte Sache tun mußten, sei nicht ihre Schuld gewesen. Aber Weizsäcker sagt es auch direkt: "Wie die Soldaten in aller Welt waren wir unserer Heimat verbunden . . . Und so marschierten wir, ohne Enthusiasmus, aber im Bewußtsein, die Pflicht zu tun."
Zu den eindrucksvollsten Passagen des Buches gehören die über den Vater des Autors, der als Staatssekretär im Auswärtigen Amt 1938 bis 1942 unter Ribbentrop von Verstrickung nicht frei war. Weizsäcker, der Sohn, macht für den Vater geltend, was viele damals an ihrem Platz versucht haben: das Schlimmste zu verhüten, was den Preis des Mitmachens hatte, dazu Unkenntnis von dem, was geplant wurde und was später geschah. Der Autor zitiert Brecht mit dem Satz an die Nachgeborenen: "Gedenket unser mit Nachsicht", und dazu "gehört die Einsicht, daß die Kenntnis der Geschichte von uns verlangt, damaliges mit heutigem Bewußtsein nicht gleichzusetzen".
Ausführlich geht Weizsäcker auf den "Wilhelmstraßenprozeß" ein, in dem sein Vater verurteilt wurde und in dem der junge Jurastudent als Gehilfe der Verteidigung fungieren durfte. Weizsäcker läßt für sich selbst sprechen, daß der Vater als Zeuge herbeigeholt und alsbald eingesperrt und zum Angeklagten gemacht wurde. Den Hauptvorwurf, der Vater Weizsäcker habe Hitlers Kriegspolitik unterstützt, ja sie erst möglich gemacht, nennt der Sohn "vollkommen absurd", und er stellt dem heutigen Leser vor Augen, wie schwer es war für die amerikanischen Ankläger und Richter als Bürger einer freien Demokratie, sich in die "Lebensverhältnisse unter einer Bespitzelungsdiktatur" hineinzuversetzen.
Seine eigentlich politische Zeit begann für Weizsäcker erst 1969, mit seiner ersten Wahl in den Bundestag, angeregt und gefördert durch den damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kohl. Über die vorausgegangene Tätigkeit in der Wirtschaft erfährt man nicht viel. Für den spätberufenen Außenseiter, der den Charme mit sich trug, nicht vom Parteienbetrieb zurechtgeschliffen zu sein, kamen bald besondere Aufgaben. Bei der Debatte über die Ostpolitik der Regierung Brandt/Genscher spielte Weizsäcker eine Rolle unter denen bei der CDU, die dafür waren, hier mitzugehen. Dabei läßt Weizsäcker dem oft gescholtenen Barzel Gerechtigkeit widerfahren. Er habe als Vorsitzender der tief gespaltenen Unionsfraktion eine eminent schwierige Aufgabe gehabt und bestanden.
Die von ihm weiterhin gepflegte Abgehobenheit von dem alltäglichen Parteienbetrieb machte Weizsäcker geeignet für eine Außenseiter-Kandidatur für das Amt des Berliner Regierenden Bürgermeisters, zu einer Zeit, da die herkömmliche SPD-Regierung der Stadt in blasse Provinzialität abgesunken war. Bei den Berliner Wahlen 1981, nach einem vergeblichen Versuch 1979, hatte Weizsäcker Erfolg, freilich reichte es zunächst nur zu einer Minderheitsregierung. Wahrscheinlich war die Berliner Zeit die fruchtbarste und wirkungsvollste des Politikers Weizsäcker, und manche haben es nicht verstanden, daß er 1984 das Amt des Berliner Regierenden Bürgermeisters - er hatte es einmal als seine politische Erfüllung bezeichnet - zugunsten des an Gestaltungsmöglichkeiten, freilich nicht an äußerem Glanz weitaus ärmeren Amts des Bundespräsidenten aufgab, in dem Weizsäcker zu einem folgenlosen, rasch vergänglichen persönlichen Ansehen gelangte, wohl auch deshalb, weil er die Kunst des Vorführens von gefälliger Überparteilichkeit unübertrefflich beherrschte. Seine Kritik an den Parteien, die in den Erinnerungen wiederkehrt, ist ihm von manchen wackeren Marschierern verdacht worden; schließlich hat auch Weizsäcker seine politischen Ämter über und durch eine Partei gewonnen.
Neues über die Amtsführung eines Präsidenten bietet das Buch nicht. Ein wenig humorlos wirkt die schroffe Kritik an "einzelnen Staatsrechtlern am rechten Flügel", weil diese das Amt des Bundespräsidenten für überflüssig erklärt hatten: es war eine ironische Überinterpretation; auch der Grundgesetzgeber hatte sich einen Staat ohne Bundespräsidenten durchaus vorstellen können.
Etwaige Neugier auf die Darlegungen des Verhältnisses zu Bundeskanzler Kohl wird enttäuscht. Weizsäcker beschreibt ihn korrekt, wenn auch kühl. Er schildert die den jeweils rechten Augenblick abwartende Haltung Kohls in der Phase des Niederbrechens der DDR und der deutschen Vereinigung korrekt und mit Respekt. Er sagt Zutreffendes, aber schon oft Gesagtes über die Zumutungen an Veränderung, welche die Vereinigung den DDR-Bürgern gebracht hat. Was den zaghaften Ausgleich eines Teils des DDR-Unrechts angeht, etwa bei den willkürlichen Enteignungen, spricht sich Weizsäcker gegen den freilich bereits vielfach durchlöcherten Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" aus. Gegenüber der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht ist er skeptisch. Den in nachhaltigem Stasi-Verdacht stehenden brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe verteidigt Weizsäcker mit Vehemenz, desgleichen den Ost-Berliner Häftlingsfreikauf-Unterhändler Vogel. Weizsäcker wählt auch hier eine indirekte Methode: er greift den verfolgenden Staatsanwalt scharf an.
Recht hat Weizsäcker mit dem Befund, daß die ehemaligen DDR-Bürger bei der Besetzung politischer Ämter, in der Führung der Parteien, bei den Verbänden zuwenig berücksichtigt würden, daß dies von den Westdeutschen weithin unter sich ausgemacht werde; selbst die Wahlkämpfe würden "nach der Tonart des Westens" geführt. Freilich fehlte 1994 die Zustimmung Weizsäckers - der für seine Person nichts mehr zu verlieren hatte - zu der Wahl des Sachsen Heitmann zu seinem Nachfolger damals und auch heute. Wenn Weizsäcker - ihm werden entsprechende interne Äußerungen nachgesagt - Heitmann für nicht geeignet gehalten hätte, wäre es ihm unbenommen gewesen, doch die Wahl eines Ostdeutschen als richtig zu bezeichnen. Heitmann selbst hatte in seiner Verzichtserklärung den Theologieprofessor und Bürgerrechtler Richard Schröder empfohlen, der sich der SPD angeschlossen hatte. Die CDU hätte sich, nachdem sie einmal die Wahl eines Ostdeutschen zum Bundespräsidenten zu ihrer Sache gemacht hatte, schwerlich aus parteipolitischen Gründen gegen die Wahl eines (übrigens nicht sonderlich prononcierten) SPD-Mannes in ein überparteilich gedachtes Amt sperren können.
Weizsäckers Memoiren bringen kaum Neues über die Zeiten, welche die seinen waren. Sie sagen, manchmal auf verschlungene Art, manches über den Autor selbst - und so soll es bei Memoiren schließlich sein.
FRIEDRICH KARL FROMME
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