Vor jedem Gedicht, schrieb Lutz Seiler, liegt die »Geschichte, die wir erlebt haben, das Gedicht trifft ihren Ton, es erzählt sie nicht, es erzählt ihren Ton«. Bedachtsam und nah an den Substanzen arbeitet Seiler sein Material wieder und wieder durch, unaufgeregt, sicher im Ton, mit unverwechselbarer Stimme.
Lutz Seilers Gedichte, entstanden zwischen 2000 und 2003, unternehmen eine Reise durch vierzig kilometer nacht, sie führen hinaus aus der vom Uranbergbau zerstörten Herkunftslandschaft von pech & blende über »deutsche alleenstrassen« und »hinter garagen-zeilen« - hinein in die historische Schichtung mitteldeutscher und brandenburger Gegend.
Mit außerordentlicher musikalischer Sprachkraft verbindet der Autor auf diesem Weg Biographisches, Landschaftliches und Politisches zu »Nervensystemen der Erinnerung«. Dabei sind es die einfachen, konkreten Dinge, an denen Geschichte für einen Moment lesbar wird, in einer augenblicklich treffgenauen, nicht wiederholbarenKonstellation von Vergangenheit und Gegenwart.
Lutz Seilers Gedichte, entstanden zwischen 2000 und 2003, unternehmen eine Reise durch vierzig kilometer nacht, sie führen hinaus aus der vom Uranbergbau zerstörten Herkunftslandschaft von pech & blende über »deutsche alleenstrassen« und »hinter garagen-zeilen« - hinein in die historische Schichtung mitteldeutscher und brandenburger Gegend.
Mit außerordentlicher musikalischer Sprachkraft verbindet der Autor auf diesem Weg Biographisches, Landschaftliches und Politisches zu »Nervensystemen der Erinnerung«. Dabei sind es die einfachen, konkreten Dinge, an denen Geschichte für einen Moment lesbar wird, in einer augenblicklich treffgenauen, nicht wiederholbarenKonstellation von Vergangenheit und Gegenwart.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003Madeleines aus Bitterfeld
Nach der Kreidezeit: Lutz Seilers Gedichte / Von Harald Hartung
Seinem zweiten Gedichtband "pech & blende" gab Lutz Seiler seinerzeit ein Motto von Paul Bowles mit: "Jeder hat nur ein Lied." Darin steckte ebensoviel Bescheidung wie Selbstgefühl. Denn nicht jeder, der Gedichte schreibt, hat dieses eine Lied. Lutz Seiler, ein Mann vom Jahrgang 1963, der zu DDR-Zeiten als Zimmermann und Maurer arbeitete, hat sein Thema nicht suchen müssen: Die Geschichte hat es ihm aufgedrängt. Mit der Lyrik, dem einen Lied, befreit er sich von einem Trauma, das nicht bloß subjektiv ist.
"pech & blende", dieses zweite, besser: erste gültige Gedichtbuch, das Seiler vor drei Jahren bekannt machte, sprach von der Erlebniswelt einer in der DDR aufgewachsenen Generation. Der Austronaut Gagarin erschien ihr als Idol, begeisternd und verhexend. "Wir hatten gagarin, aber gagarin hatte auch uns", heißt es in dem Gedicht "mein jahrgang drei und sechzig". Die Gedichte zeichneten eine Sozialisation unter dem Zwang von schulischem und militärischem Drill.
Tiefer noch reicht das Titelgedicht "pech & blende". Es spielt nicht bloß auf einen historischen Verblendungszusammenhang an, sondern sehr konkret auf Unrecht, ja Verbrechen. Die Kontraktion der Titelbegriffe verweist auf die Pechblende, das strahlende Uranerz, das in der DDR für die Sowjetunion abgebaut wurde. Dem jungen Seiler strahlte es buchstäblich in die Familie hinein, als Kontaminierung der Knochen des im Uranbergbau schuftenden Vaters. Man begreift, daß dieser Lebensstoff für mehr als eine Handvoll Gedichte ausreicht. Man begreift auch, daß ein Dichter, der es auf sich nimmt, ihn zu bearbeiten, ihn am kleinen Licht seiner Poesie zu erhellen, ihn als eine lange, nachtschwarze Strecke sehen muß.
Nichts anderes meint der Titel des neuen Bandes "vierzig kilometer nacht". Vordergründig geht es im Titelgedicht um die Strecke, die den Großraum Berlin umschreibt. Um die Distanz auch, die den an der Peripherie, in Huchels Wilhelmshorst lebenden Poeten vom Zentrum trennt. Doch Seilers allusive und zugleich spröde Technik verfremdet eine lyrische Reportage, die in den topographischen Daten wie den Namen von Autobahnzubringern einen Geschichtsraum evoziert. Es sind vier Jahrzehnte DDR, die sich so ziemlich mit dem Erfahrungsraum des Schreibenden decken. Seilers stenogrammhafte Kurzzeilen evozieren "nervenbilder", darin "wachtürme" und "transitplanken" ebenso vorkommen wie "provinzmoränen" und der "west-besuch". Aus der zum Straßenbau aufgeschütteten Erde wittert das archäologisch gestimmte Ich "die neue spur . . . den schredder, zitternd aus / dem erdreich aufgestürzte kronen, stümpfe fassten fuss, ein dünner flüchtlings-strom durchzog die luft."
Diese Witterung, die Fähigkeit zur Aufnahme feinster Nuancen und historischer Details macht Seiler zum Dichter; entrückt ihn aller Rhetorik, die doch nur Partei sein kann. Einst wünschte man sich, in Ost und West, operative Poesie. Seiler zeigt, was bei Operationen herauskommt: Tod und Moder von Geschichte. Der Dichter als Zeuge hat diesen Geschmack auf der Zunge. Seine Madeleine hat den Nachgeschmack verfehlter Geschichte.
Auch in den neuen Gedichten rekapituliert Seiler Erfahrungen aus dem Schul- und Volksarmeedrill. Am prägnantesten in "dioptrien", das aus der Perspektive eines Brillenträgers eine Schießübung schildert: "auf / zuruf war man tot, fiel um & musste / liegen bleiben." Der Gedichtschluß trifft das existentielle Moment einer plötzlichen Erkenntnis: ",Aber / die toten am waldrand' rief ich das / sind doch unsere leute."
Ein anderes Gedicht - "porträt" - zeigt den Schreibenden immer noch mit der "hand an der naht" als ein anonym gemachtes Subjekt: "ich oder jemand grüsst am spind". Doch im erzwungenen Ich-Verlust richtet das Subjekt sich wieder auf: "am ende senkst du / deinen kopf & denkst herunter zu / den füssen, kurze, schnelle schritte um das unsichtbare ICH." Noch ist nicht sicher, ob diese kurzen Schritte in die Freiheit führen. Daß Ich ein anderer ist, mußte Seiler nicht bei Rimbaud lesen - die totalitäre Vergewaltigung hat es ihn gelehrt. Um so unbedingter die Wiederaufrichtung des Ich im Gedicht. Seiler, der sonst alles kleinschreibt, hebt das Ich hier und in einem weiteren Gedicht durch emphatische Versalien hervor. "siehst du die welt von osten", beginnt es; und in diesem Blick erscheint "das rohe ICH, das böse" als ein Relikt aus dieser "kreidezeit".
Seiler läßt offen, welche Chancen es hat. Er ist Dichter, nicht Prophet. Er operiert mit der analytischen Kraft seiner Bilder. Er gewinnt sie durch eine gewisse Hermetik, die direkte oder gar plumpe Deutungen verhindert. Manchmal gibt einzig der Titel eine Deutungshilfe. So in einem Text, der offenbar aus der Erinnerung an die Aufmärsche in der DDR gespeist ist. Das offenbar noch juvenile, gar infantile Ich empfindet sich als Wesen in unbedingter Abhängigkeit, quasi embryonal: "ich tauchte & mein atem hing heraus zu einem gott am / schlauch." Der Leser mag sich fragen, was das Verhalten der Massen und das des fötalen Ich miteinander zu tun haben. Der Titel gibt den entscheidenden Wink. "der cartesianische taucher" - das ist jenes in einem Gasgefäß eingeschlossene Figürchen, das durch den Druck auf die Membrane beliebig zum Steigen und Sinken oder gar zu possierlichen Bewegungen gebracht werden kann. Der Gott dieser Welt läßt das cartesianische Teufelchen nach Belieben tanzen.
Ecce historia! hätte Gottfried Benn dazu gesagt. Lutz Seiler ist ein Poet, der gegen dieses dumpfe Spiel andichtet. Er findet einmal die wunderbare Formulierung: "deine von innen beschlagenen augen" - aber diese Augen haben den tieferen Blick. Man liest diese schönen und wichtigen Gedichte nicht so bald aus.
Lutz Seiler: "vierzig kilometer nacht". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 96 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach der Kreidezeit: Lutz Seilers Gedichte / Von Harald Hartung
Seinem zweiten Gedichtband "pech & blende" gab Lutz Seiler seinerzeit ein Motto von Paul Bowles mit: "Jeder hat nur ein Lied." Darin steckte ebensoviel Bescheidung wie Selbstgefühl. Denn nicht jeder, der Gedichte schreibt, hat dieses eine Lied. Lutz Seiler, ein Mann vom Jahrgang 1963, der zu DDR-Zeiten als Zimmermann und Maurer arbeitete, hat sein Thema nicht suchen müssen: Die Geschichte hat es ihm aufgedrängt. Mit der Lyrik, dem einen Lied, befreit er sich von einem Trauma, das nicht bloß subjektiv ist.
"pech & blende", dieses zweite, besser: erste gültige Gedichtbuch, das Seiler vor drei Jahren bekannt machte, sprach von der Erlebniswelt einer in der DDR aufgewachsenen Generation. Der Austronaut Gagarin erschien ihr als Idol, begeisternd und verhexend. "Wir hatten gagarin, aber gagarin hatte auch uns", heißt es in dem Gedicht "mein jahrgang drei und sechzig". Die Gedichte zeichneten eine Sozialisation unter dem Zwang von schulischem und militärischem Drill.
Tiefer noch reicht das Titelgedicht "pech & blende". Es spielt nicht bloß auf einen historischen Verblendungszusammenhang an, sondern sehr konkret auf Unrecht, ja Verbrechen. Die Kontraktion der Titelbegriffe verweist auf die Pechblende, das strahlende Uranerz, das in der DDR für die Sowjetunion abgebaut wurde. Dem jungen Seiler strahlte es buchstäblich in die Familie hinein, als Kontaminierung der Knochen des im Uranbergbau schuftenden Vaters. Man begreift, daß dieser Lebensstoff für mehr als eine Handvoll Gedichte ausreicht. Man begreift auch, daß ein Dichter, der es auf sich nimmt, ihn zu bearbeiten, ihn am kleinen Licht seiner Poesie zu erhellen, ihn als eine lange, nachtschwarze Strecke sehen muß.
Nichts anderes meint der Titel des neuen Bandes "vierzig kilometer nacht". Vordergründig geht es im Titelgedicht um die Strecke, die den Großraum Berlin umschreibt. Um die Distanz auch, die den an der Peripherie, in Huchels Wilhelmshorst lebenden Poeten vom Zentrum trennt. Doch Seilers allusive und zugleich spröde Technik verfremdet eine lyrische Reportage, die in den topographischen Daten wie den Namen von Autobahnzubringern einen Geschichtsraum evoziert. Es sind vier Jahrzehnte DDR, die sich so ziemlich mit dem Erfahrungsraum des Schreibenden decken. Seilers stenogrammhafte Kurzzeilen evozieren "nervenbilder", darin "wachtürme" und "transitplanken" ebenso vorkommen wie "provinzmoränen" und der "west-besuch". Aus der zum Straßenbau aufgeschütteten Erde wittert das archäologisch gestimmte Ich "die neue spur . . . den schredder, zitternd aus / dem erdreich aufgestürzte kronen, stümpfe fassten fuss, ein dünner flüchtlings-strom durchzog die luft."
Diese Witterung, die Fähigkeit zur Aufnahme feinster Nuancen und historischer Details macht Seiler zum Dichter; entrückt ihn aller Rhetorik, die doch nur Partei sein kann. Einst wünschte man sich, in Ost und West, operative Poesie. Seiler zeigt, was bei Operationen herauskommt: Tod und Moder von Geschichte. Der Dichter als Zeuge hat diesen Geschmack auf der Zunge. Seine Madeleine hat den Nachgeschmack verfehlter Geschichte.
Auch in den neuen Gedichten rekapituliert Seiler Erfahrungen aus dem Schul- und Volksarmeedrill. Am prägnantesten in "dioptrien", das aus der Perspektive eines Brillenträgers eine Schießübung schildert: "auf / zuruf war man tot, fiel um & musste / liegen bleiben." Der Gedichtschluß trifft das existentielle Moment einer plötzlichen Erkenntnis: ",Aber / die toten am waldrand' rief ich das / sind doch unsere leute."
Ein anderes Gedicht - "porträt" - zeigt den Schreibenden immer noch mit der "hand an der naht" als ein anonym gemachtes Subjekt: "ich oder jemand grüsst am spind". Doch im erzwungenen Ich-Verlust richtet das Subjekt sich wieder auf: "am ende senkst du / deinen kopf & denkst herunter zu / den füssen, kurze, schnelle schritte um das unsichtbare ICH." Noch ist nicht sicher, ob diese kurzen Schritte in die Freiheit führen. Daß Ich ein anderer ist, mußte Seiler nicht bei Rimbaud lesen - die totalitäre Vergewaltigung hat es ihn gelehrt. Um so unbedingter die Wiederaufrichtung des Ich im Gedicht. Seiler, der sonst alles kleinschreibt, hebt das Ich hier und in einem weiteren Gedicht durch emphatische Versalien hervor. "siehst du die welt von osten", beginnt es; und in diesem Blick erscheint "das rohe ICH, das böse" als ein Relikt aus dieser "kreidezeit".
Seiler läßt offen, welche Chancen es hat. Er ist Dichter, nicht Prophet. Er operiert mit der analytischen Kraft seiner Bilder. Er gewinnt sie durch eine gewisse Hermetik, die direkte oder gar plumpe Deutungen verhindert. Manchmal gibt einzig der Titel eine Deutungshilfe. So in einem Text, der offenbar aus der Erinnerung an die Aufmärsche in der DDR gespeist ist. Das offenbar noch juvenile, gar infantile Ich empfindet sich als Wesen in unbedingter Abhängigkeit, quasi embryonal: "ich tauchte & mein atem hing heraus zu einem gott am / schlauch." Der Leser mag sich fragen, was das Verhalten der Massen und das des fötalen Ich miteinander zu tun haben. Der Titel gibt den entscheidenden Wink. "der cartesianische taucher" - das ist jenes in einem Gasgefäß eingeschlossene Figürchen, das durch den Druck auf die Membrane beliebig zum Steigen und Sinken oder gar zu possierlichen Bewegungen gebracht werden kann. Der Gott dieser Welt läßt das cartesianische Teufelchen nach Belieben tanzen.
Ecce historia! hätte Gottfried Benn dazu gesagt. Lutz Seiler ist ein Poet, der gegen dieses dumpfe Spiel andichtet. Er findet einmal die wunderbare Formulierung: "deine von innen beschlagenen augen" - aber diese Augen haben den tieferen Blick. Man liest diese schönen und wichtigen Gedichte nicht so bald aus.
Lutz Seiler: "vierzig kilometer nacht". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 96 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Harald Hartung spricht von schönen und wichtigen, vor allem aber von gültigen Gedichten. Als besondere Qualität dieser Texte beschreibt er die analytische Kraft ihrer lyrischen Bilder, die er "durch eine gewisse Hermetik" gewonnen sieht, was direkte Deutungen verhindere. Dennoch sieht der Rezensent in Lutz Seilers "stenogrammhaften Kurzzeilen" Nervenbilder aus vier Jahrzehnten DDR heraufbeschworen. Seilers Technik verfremdet nach Hartung eine lyrische Reportage, die in topografischen Daten wie den Namen von Autobahnzubringern einen Geschichtsraum heraufbeschwört. Hartung bewundert an Seilers Gedichten besonders die Witterung, die jede Nuance registriere. Seilers "Madeleine hat den Nachgeschmack verfehlter Geschichte", erkennt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Seine Gedichte sprechen rhapsodisch, schwingen immer weiter aus, schaffen ein irrlichterndes Verweissystem der Bedeutungen, ja nicht nur der Bedeutungen, sondern auch der Bedeutungsträger.« Ursula Krechel DIE ZEIT 20040129